Luftverbunden im Anthropozän
Eva Horn rekonstruiert überzeugend die Wahrnehmungs- und Wissensgeschichte des Klimas
Von Thomas Schwarz
Eva Horn leitet an der Universität Wien, wo sie als Germanistin arbeitet, das interdisziplinäre Vienna Anthropocene Network (VAN). Zusammen mit dem Anglisten Hannes Bergthaller hat sie 2019 im Junius-Verlag den Band Anthropozän zur Einführung vorgelegt. Diese Publikation hat dazu beigetragen, dass die Problemlage und die naturwissenschaftlichen Fragestellungen, die sich für die Menschheit angesichts der Überschreitung planetarer Belastungsgrenzen ergeben, inzwischen auch im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb breit diskutiert werden. Dieser epistemologische Umbruch verlangt von den Sozial- und Kulturwissenschaften nicht nur, die naturwissenschaftlichen Ergebnisse der Forschung zum Anthropozän zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch über die politischen Konsequenzen nachzudenken.
Vor diesem Hintergrund zeigt Eva Horn, dass in diesem Diskussionszusammenhang auch von der Literaturwissenschaft geprägte Konzepte wie Ästhetik und sinnliche Wahrnehmung eine Rolle spielen. Sie macht auf eine Tendenz in den Naturwissenschaften aufmerksam, die seit dem 17. Jahrhundert Luft als Gasgemisch und das Klima ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als durchschnittliches Wetter definiert. Dieser Diskursstrang birgt für Horn die Gefahr einer Reduktion der Klimaproblematik, sofern er Aspekte der Sensibilität für die Perzeption der Umwelt in ihrer Schutzbedürftigkeit ausklammert. Horns Buch ist keine periodisierende Kulturgeschichte, wie sie beispielsweise Peter Frankopan vorgelegt hat. Dieser hat auf empirischer Datenbasis den weltgeschichtlichen Einfluss des jeweiligen Klimas auf Lebensweise, soziale Probleme und das Denken erforscht. Im Unterschied dazu befragt Horn ihre Quellen nach der Resonanz von Klima in den Stimmungen derjenigen, die von seinen unterschiedlich ausgeprägten Atmosphären affiziert werden. Vom Altertum bis zur Gegenwart bezieht die Kulturwissenschaftlerin eine umfassende Materialbasis in ihre Untersuchung ein, die von asiatischen über amerikanische hin zu europäischen Narrationen reicht und unterschiedliche Medien von der Bildkunst über Literatur bis zum Katastrophenfilm berücksichtigt.
Die Luft als Medium sinnlicher Wahrnehmung
Die europäische Antike unterscheidet die Luft von den Elementen Wasser, Feuer und Erde, mit denen sie dynamisch Relationen der Abstoßung und der Mischung eingeht. In der auf antike Vorstellungen zurückgehenden Wahrnehmungsweise besteht die Welt aus vier Sphären. Die Menschen stehen aber nicht als externe Beobachter außerhalb dieser Sphären, sondern werden von diesen umschlossen. Die bildliche Darstellung einer männlichen Figur aus dem Frankreich des 12. Jahrhunderts, die mit ausgestreckten Händen und Füßen Verbindung zu den Winden aus allen vier Himmelsrichtungen hält, interpretiert Horn als „Allegorie der Luft“. Sie fungiere als das harmonisierende Medium, das die ebenfalls dargestellten menschlichen Künste verbinde und wahrnehmbar mache. Diese Luft mache Sphärenmusik hör- und Winde spürbar. Die mittelalterliche Allegorie verbinde „ein Verständnis des Kosmos als Ordnung und Bewegung der Sphären mit einer Vorstellung der Künste als Übersetzung dieser Sphärenbewegung in menschliche Darstellung, Wahrnehmung, Ausdruck“. Die Autorin möchte die Luft in ihrem Buch in genau dieser Rolle, „als Medium“ mit einer bestimmten Vermittlungsleistung, betrachten.
Auf der antiken Einteilung der Welt in Klimazonen fußt eine thermische Anthropologie, die Kulturen als determiniert von klimatischen Einflüssen versteht. Aus diesem Schema gehen Vorstellungen hervor, die zum Beispiel behaupten, dass Hitze die erotischen Passionen verstärke, während Kälte sexuelles Desinteresse bewirke, und nur im gemäßigten Klima eine entsprechend temperierte Liebe gedeihen könne. Einer der gewichtigeren Gewährsleute für Horns Ansatz ist Johann Gottfried Herder, der den Menschen als einen „Zögling der Luft“ begriffen hat. Herder fasst die Menschheit als eine Einheit, deren Ausdifferenzierung sich der Wirkung jeweils unterschiedlicher Klimata verdanke. Für ihn ist die Luft keine tote Materie, sondern von aktiven Kräften durchwirkt. Das Klima versteht Herder als Inbegriff dieser Kräfte, die zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen einen Zusammenhang stiften. Das „Menschengeschlecht“ ist in dieser Trias bei Herder mit der Fähigkeit begabt, das Klima zu verändern, mit unabsehbaren Folgen für die Zukunft.
Als Germanistin kommt Horn auch nicht an Johann Wolfgang von Goethe vorbei, der sich von einem Gedicht des indischen Autors Kālidāsa mit dem Titel Meghadhūta (Wolkenbote, ca. 4./5. Jahrhundert n. Chr.) hat inspirieren lassen. Bei Kālidāsa geht es um eine Wolke, die in einer Fernbeziehung die Liebesbotschaft eines Gottes zu überbringen hat. Sie ist mit „Handlungsfähigkeit“ ausgestattet und interagiert mit der Landschaft, den in dieser situierten Lebewesen und den Göttern. Goethe hat auch die Klassifikation von Wolkentypen, von der Schäfchenwolke cumulus bis zur Regenwolke nimbus, rezipiert, die der britische Amateurmeteorologe Luke Howard 1803 vorgeschlagen hat. Horn erklärt, dass Goethe in seinem Howard gewidmeten Gedicht (1822) „ein Verständnis von Luft“ einführe, das „zwischen ästhetischer Gestalterkennung und Naturwissenschaft“ liege. Im Unterschied zu Kālidāsa personifiziere und anthropomorphisiere er die Wolke zur „Gottheit Camapura“. Statt wiedererkennbarer Wolkentypen wie bei Howard stehe bei Goethe die „Wahrnehmbarkeit“ von Übergängen in ihren Erscheinungsformen im Vordergrund.
In Alexander von Humboldts Weltbild leben die Menschen am „Boden“ eines „gasförmigen Oceans“, in einem „Luftmeer“. Auf die Rekonstruktion der Genealogie dieser Metaphorik, die sich auf den im 17. Jahrhundert wirkenden Physiker Evangelista Torricelli zurückführen lässt, richtet die Autorin besonderes Augenmerk. Bei Humboldt drückt sie aus, dass Landschaft und Atmosphäre eine „organische Einheit“ bilden. Genau wie Herder besteht auch Humboldt auf der „Einheit des Menschengeschlechts“ und wendet sich strikt gegen die „Annahme von höheren oder niederen Menschenracen“, die ein rassistischer Klimadeterminismus nahelegt. Seine Isothermenkarte (1817/1838) teilt die Welt in Zonen gleicher Jahresdurchschnittstemperaturen, die von dem starren System der Breitengrade abweicht. Revolutionär an der Karte ist, dass sie das Klima auf der Basis gemessener Daten darstellt. Aber wenn Humboldt den „Ausdruck Klima“ definiert, betont er, dass dieser „alle Veränderungen in der Atmosphäre“ bezeichne, „die unsere Organe merklich affizieren: die Temperatur, die Feuchtigkeit, die Veränderungen des barometrischen Druckes“ und so weiter, aber auch den „Grad habitueller Durchsichtigkeit“ und die „Heiterkeit des Himmels“. Solche graduellen Unterschiede wirken sich nach Humboldt nicht nur auf das Pflanzenwachstum, sondern auch auf die „Gefühle und ganze Seelenstimmung des Menschen“ aus. Klima ist für Humboldt mit Instrumenten messbar. Horn legt trotzdem Wert auf die Feststellung, dass es bei ihm letztlich ein wahrnehmbares, „ästhetisches Phänomen“ bleibe. Für die Durchsetzung eines Konzepts von Klima als „durchschnittlich“ zu einer bestimmten Zeit des Jahres auftretenden „Witterung“ macht Horn Meteorologen wie Julius von Hann verantwortlich. Die adäquate „Darstellung des Klimas“ ist in Hanns Handbuch der Klimatologie (1883) nichts anderes als die „Schilderung des mittleren Zustandes der Atmosphäre“, der sich über einen längeren Zeitraum beobachten lässt.
Horn liest Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1912) als „Konfrontation des alten und des modernen Verständnisses der Luft“. Die Atmosphäre Venedigs bildet den „Resonanzraum“ der Stimmungen und Verstimmungen des Protagonisten Gustav von Aschenbach. Das Tropenklima, das die Stadt als fremde Luft in Form des Scirocco heimsucht, hat dem europäischen Kolonialismus erheblichen Widerstand entgegengesetzt und die Frage nach der Akklimatisierungskompetenz der Kolonialherren aufgeworfen. Bei Aschenbach befördert es die Lockerung seiner moralischen Grundsätze und befeuert seine exzessiven homoerotischen Obsessionen. Die Erzählung bringt seine Infektion mit der orientalischen Tropenkrankheit Cholera suggestiv mit der schlechten Luft und den Miasmen Venedigs in Verbindung. Doch zugleich fließt in die Novelle auch Robert Kochs Erklärung der Übertragung von Choleravibrionen über Nahrungsmittel ein. Horn kommt zu dem Schluss, dass der Text noch einmal eine Ästhetik der von Luft generierten Stimmungen feiere, die mit den Auffassungen der modernen Wissenschaft unvereinbar ist.
Die Atmosphäre im Erdsystem
Die gegenwärtige Klimawissenschaft kann die bereits bei Herder und Humboldt angelegte Idee vom Klima als „Systemzusammenhang“ mathematisch modellieren. Die Luft der Atmosphäre ist in ihr ein „konstitutives Element“ des Erdsystems, neben den Böden der Pedosphäre, dem Gestein der Lithosphäre, dem Wasser der Hydrosphäre, dem Eis der Kryosphäre, den Organismen der Biosphäre und der anthropogenen Technosphäre. Die Erdsystemwissenschaft legt besonderen Wert auf die Feststellung, dass diese Sphären interagieren. Horn hebt hervor, dass dieses Interaktionsmodell der antiken Theorie der Elemente korrespondiert. Im Erdsystem schützt die Atmosphäre das Leben auf der Erde vor kosmischer Strahlung. Als „thermodynamischer Motor“ des Planeten hält sie seine Energie- und Stoffflüsse in Gang: „Luft ist das Medium der Mischung und Interaktion aller Sphären“. Tiere und Menschen geben CO2 an die Atmosphäre ab, die Pflanzen der Biosphäre binden es.
Horn weist auf die besondere wissenschaftshistorische Rolle hin, die der Planetenforscher James Lovelock und die Mikrobiologin Lynn Margulis seit den 1970er Jahren für die Modellierung der „Erde als selbstregulierendes System“ gespielt haben. Ihre „Gaia-Hypothese“ fasst die Atmosphäre als einen zwar anorganischen, allerdings aktiv regulierten Bestandteil der Biosphäre. Sie ist das „Medium, in dem und durch das die Biosphäre ihre Regulationsfunktion im Erdsystem umsetzt“. Die Akzeptanz solcher Prämissen aus der Erdsystemwissenschaft zeichnet in der Wissenschaftslandschaft die Gruppe derjenigen aus, die das Konzept des Anthropozäns für produktiv und der Erkenntnis förderlich halten. Der Begriff des Anthropozäns erweist sich vor diesem Hintergrund als Dreh- und Angelpunkt des Buches von Horn. Sie legt dar, dass im Anthropozän die Menschheit in dieses „selbstregulierende System“ als geophysisch wirksamer Faktor interveniert, der Systemveränderungen in planetarischem Maßstab bewirkt. Die Nutzung fossiler Brennstoffe durch das Energieregime der industriellen Revolution führt zu einem exponentiellen Anstieg von CO2 in der Atmosphäre. Er zieht einen „menschengemachten Klimawandel“ nach sich, der von der Geschichtsschreibung nach einer Forderung des Historikers Dipesh Chakrabarty verlangt, Erd- und Menschenzeit, planetare Natur- und Menschengeschichte, als aneinander gekoppelt zu begreifen. Angesichts der „Great Acceleration“, des massiven Anstiegs planetarischer Krisensymptome wie dem Artenverlust, besteht auch Horn darauf, die Gegenwart als geochronologische „Schwellenzeit“ zu verstehen. In ihr wird der relativ stabile Zustand des Erdsystems im Holozän abgelöst von einem volatilen Anthropozän. Nolens volens riskiert die Menschheit die Transgression von Kipppunkten, so dass dem Gesamtsystem irreversible Veränderungen drohen: Polkappen und Permafrostböden tauen auf, Korallenriffe und boreale Wälder sterben ab.
Die Climate Fiction (Cli-Fi) übernimmt in diesem Kontext die Aufgabe, der Menschheit die Auswirkungen des Klimawandels in schockierenden Dystopien bewusst zu machen. Nicht nur Sachbücher, sondern auch Romane und Filme beschwören die „Zukunft als eine Katastrophe“ herauf, als Kollaps der Zivilisation. Im postapokalyptischen Naturzustand droht der „Kampf aller gegen alle um Wasser, Energie, Raum, Sicherheit oder auch pures Überleben“. Horn kritisiert Narrative, die suggerieren, dass nur ein repressiver „Klima-Leviathan“, der in einer unvermeidbaren Ökodiktatur über den Ausnahmezustand gebietet, die Ordnung wieder herstellen könne.
In der deutschsprachigen Literatur hat Philipp Weiss 2018 mit seinem Roman Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen den bemerkenswerten Versuch unternommen, einen „Weltroman“ zu schreiben, der von der „Verwandlung der Welt im Anthropozän“ erzählt. Kim Stanley Robinson hat mit dem Politthriller The Ministry for the Future (2020) eine optimistische Version der Cli-Fi vorgelegt. Horn nennt Robinsons Roman ein antidystopisches „Kompendium zur postfossilen Transformation“, das vorschlägt, den neoliberalen Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln zu überwinden. Nachdem eine grauenhafte Hitzewelle in einem zunächst ziemlich dystopischen Indien Millionen Menschen umgebracht hat, richten die Vereinten Nationen ein Ministerium für die Zukunft ein, das aber nicht wie ein autoritärer Souverän vorgeht, sondern auf Diplomatie setzt. Es handelt mit den Zentralbanken die Einführung einer Kryptowährung aus. Sie wird an alle ausbezahlt, die sich an Maßnahmen zur Reduktion von Treibhausgasen beteiligen. Horn verschweigt nicht, dass der Roman sowohl argumentativ als auch narrativ einen klimaaktivistischen Ökoterrorismus rechtfertigt, der eher emotional auf die Hitzekatastrophe reagiert, dabei aber die rationalen Maßnahmen des Ministeriums effektiv mit sabotierenden Anschlägen auf Flugzeuge und Öltanker unterstützt. Robinsons Buch lotet in literarischer Form die Handlungsspielräume aus, die der bis dato am Prinzip der Gewaltfreiheit orientierte Klimaaktivismus in der Diskussion der Frage abzustecken hat, wie sich der Widerstand gegen das fossile Klimaregime organisieren lässt.
Luft als Gemeingut
Horn unterstreicht, dass die Luft das Medium ist, das „alle miteinander verbindet“. Sie bildet eine „Gemeinschaft“, die sich durch „Luftverbundenheit“ auszeichne. Mit diesem Konzept knüpft Horn an Bruno Latours Begriff der „Erdverbundenheit“ an, der davon ausgeht, dass sich eine menschliche Gemeinschaft in der Regel auch auf einem konkreten Territorium und in einer lokalen Landschaft der das Leben reproduzierenden „kritischen Zone“ etabliere. Luft ist für Horn eine „existenzielle Grundlage der Gemeinschaft“, ein geteiltes „Gemeingut“, von dem alle abhängig sind und das niemand besitzt. „Luftverbundenheit“ deutet Horn auch als „Verbundenheit mit der Luft“, die auf einem „Gespür für sie“, für die „Aisthesis ihrer Zustände“ beruhe. Zugleich betont Horn den Gedanken einer „Verbundenheit in der Luft“, einem „Bewusstsein vom Klima“ als der „Grundlage des Sozialen“.
Dieser Wahrnehmungs- und Wissensgeschichte von Luft und Klima gelingt es überzeugend, Zusammenhänge zu rekonstruieren, die von der antiken Lehre von den vier Elementen bis zur Gaia-Hypothese reichen. Der /homo sapiens/ erscheint im Anthropozän als ein Holobiont, der symbiotisch mit Mikroorganismen zusammenlebt. Er ist nicht separierbar von der Atmosphäre als seiner anorganischen Umgebung, die selbst wiederum nur ein Stoffwechselprodukt anderer Lebewesen ist. An dieses naturwissenschaftlich fundierte Theorem kann Horn anknüpfen, wenn sie sich für eine anthropozänische Betrachtungsweise engagiert, die eine Immersion der Menschen in Wind und Wetter, in Luft und Atmosphäre zur Voraussetzung macht für sinnliche Wahrnehmungen, für das Hören und Sehen, Fühlen und Riechen. Horns Buch rekonstruiert eine Tradition, die Luft nicht als ein lebloses Atomagglomerat, sondern als ein mit Agency begabtes Element des Erdsystems und als ästhetisches Trägermedium unserer Luftverbundenheit begreift. So leistet es einen eminenten Beitrag zur Kultivierung ökologischer Sensibilität und der Fähigkeit menschlicher Klimaresonanz.
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