Südosteuropa erlesen
Von den Wegen zur Literatur Südosteuropas
Von Luzie Horn
„Pa sjedneš na prozor i gledaš van“
„Du sitzt also am Fenster und siehst hinaus“
(Žen: Šuma, mačka, gospođa i prozor)
Vorm Laptop und mit Kopfhörern auf den Ohren höre ich Žen hoch und runter und hoffe auf eine Eingebung. Ich schaue aus dem Fenster. Ich schreibe einen Gedanken auf, aber dann fühlt er sich zu klein an und ich lösche das Geschriebene wieder. Nun sag schon, wie hast du’s mit der südosteuropäischen Literatur? Dafür interessierst du dich doch, schreib halt ein bisschen was dazu, was du eben weißt. Ich schaue wieder aus dem Fenster. Was weiß ich denn? Was weiß man denn über südosteuropäische Literatur? Nach der einundzwanzigsten Wiederholung des Songs stoppt YouTube die Wiedergabe mangels eines Lebenszeichens meinerseits. Ich frage meine Freund:innen. „Sag mal, Thema südosteuropäische Literatur, was würde dir dazu einfallen?“ Zwei meiner Mails bleiben unbeantwortet; bestimmt haben sie gerade zu viel zu tun, um in ihren Augen zufriedenstellend zu antworten. Eine SMS bekomme ich; findet er super, er macht sich mal Gedanken darüber und schreibt mir dann. Auf die Nachricht warte ich immer noch.
Ich ändere meine Strategie und frage Leute beim Kaffee, direkt, ohne Kontext und ganz spontan. Ein kleiner Impuls würde mir ja schon reichen, gern auch irgendein Klischee, etwas, was man mal gehört hat, daran könnte ich mich festhalten. „Puh, du, keine Ahnung, damit kenne ich mich echt nicht so aus.“ Oder: „Uff, da fällt mir jetzt niemand ein.“ Und alternativ: „Weiß nicht, müsste ich mich erst einmal einlesen.“ Vielleicht ist das mein Thema: Keiner hier kennt südosteuropäische Literatur(en). Mir selbst fallen nie kroatische oder bulgarische oder albanische Titel in die Hände, wenn ich durch Buchhandlungen streife. In meinem Regal zuhause sieht es ebenfalls erschreckend mau aus, und das, obwohl ich Slavistik studiere. Ein paar Texte habe ich schon gelesen, aber ob die repräsentativ für die Literaturszene sind? Ich fange an:
Südosteuropäische Literatur – eine westeuropäische Leerstelle
Tolstoj und Dostojewski, naja, die hat man zumindest schon mal gehört (die Tausend-Seiten-Schinken verstauben aber nicht selten ungeöffnet in Omas Wohnzimmerschrank). Russische Literatur, das klingt nach was, irgendwie alt und wichtig. Die Russen lesen ja auch alle, oder? In der Metro sitzen bestimmt schon die Kinder mit aufgeschlagenem Buch auf dem Schoß und lernen fleißig Puschkin-Zitate auswendig. So schön nostalgisch stelle ich mir das jedenfalls vor, wenn ich wehmütig darüber klage, dass hier niemand mehr liest und Generation TikTok bis Generation Blumenstrauß-im-WhatsApp-Status auf ihr Handy glotzt. Russische Literatur. Das war’s dann aber auch schon fast mit osteuropäischer Literatur. Mit den ukrainischen Autor:innen Serhij Zhadan, Jurij Andruchowytsch und Oksana Sabuschko kann man inzwischen womöglich etwas anfangen, wenn man nach Beginn des russischen Angriffskriegs vor nun zwei Jahren schnell ein zerfleddertes Exemplar bei Medimops besorgt hat, bevor alle aufgrund der gestiegenen Nachfrage durch die mediale Aufmerksamkeit vergriffen waren. Kundera und Hrabal kennt man vielleicht, durch den Nobelpreis auch Wisława Szymborska und Olga Tokarczuk, das ist schön! Polen und Tschechien sind schließlich nah dran, ein bisschen was bekommt man zusammengekratzt. Aber wenn man an Südosteuropa denkt – tja, dann sieht es ganz schlecht aus. Ivo Andrić ist wohl bekannt, der einzige im engeren Sinn südosteuropäische Literaturnobelpreisträger, dessen Roman Das Fräulein letztes Jahr neu verlegt wurde. Und sonst?
Nicht nur auf dem Buchmarkt, auch in der hiesigen Forschung sind Autor:innen aus südosteuropäischen Ländern stark unterrepräsentiert. Die deutsche Slavistik ist vornehmlich eine Russistik; die Studierenden lesen (neben den genannten) vor allem Gogol, Tschechow, Achmatowa, Nabokov, Solschenizyn. Großartige Literatur, ohne Frage, nur eben sehr überschaubar, was die sprachliche und regionale Vielfalt anbelangt. Vielleicht wäre es angebracht, bei einem Blick nach Osten nicht immer nur Russland zu sehen, sondern auch mal die Länder, die selbst 35 Jahre nach Zusammenbruch der Sowjetunion noch immer im Schatten des imperialen „Bruderstaates“ stehen – auch weil wir sie dort lassen.
So wollte ich eigentlich anfangen. Ich wollte mich darüber beschweren, wie ärgerlich es ist, dass kaum jemandem ein bulgarischer Romanschriftsteller oder eine kroatische Dichterin einfällt, während die meisten literaturaffinen Menschen sicherlich reihenweise deutsche, französische und vor allem englische und US-amerikanische Autor:innen aufzählen könnten. Dann hätte ich noch die nicht überraschenden, aber wirklich erschreckenden Zahlen zu Übersetzungen aus anderen Sprachen ins Deutsche angegeben, die der Börsenverein des Deutschen Buchhandels jährlich zusammenträgt (2022 stammten 60% der ins Deutsche übersetzten Texte aus dem Englischen; nach Japanisch (12%) und Französisch (11%) kamen je 0,5 bis 2,5% der Übersetzungen aus neun weiteren Sprachen, die übrigen 4,9% teilten sich alle anderen Sprachen untereinander. Sprachen wie das Slowenische oder Rumänische wurden statistisch gar nicht erst einzeln erfasst. Ich wusste, dass es unausgewogen ist, aber so extrem?!).
Zwischenstand: Die osteuropäischen Literaturen werden immernoch von der russischen dominiert, südosteuropäische sind fast völlig unbekannt, kaum jemand hat eine Vorstellung davon und die Buchbranche ändert bislang nichts daran. Frustriert klappe ich meinen Laptop zu.
Auf der Suche nach der südosteuropäischen Literatur
„Komunikacija – frustracija, Ja sam uvijek na istoj liniji“
„Kommunikation – Frustration, Ich bin immer in der gleichen Zeile“
(Žen: Ja sam uvijek na istoj liniji)
Žen ist eine queer-feministische Rockband aus Zagreb. Ich klicke mich durch die Alben und übersetze mit meinen rudimentären Kroatischkenntnissen die Songtexte. Ich bleibe immer in der gleichen Zeile stecken. Natürlich, mein Monolog hat sich erschöpft: das Jammern darüber, dass vieles übersehen und unerforscht bleibt. Aber inzwischen habe ich einiges recherchiert. Ich gehe durch meine Notizen der letzten Tage und plötzlich durchfährt mich eine Welle der Begeisterung. Ich öffne meinen Browser, klicke mich von einem offenen Tab zum nächsten und merke nicht mehr, dass YouTube die Wiedergabe längst beendet hat.
Südosteuropäische Autor:innen sind zwar kaum bekannt im deutschsprachigen Raum (wobei es in Österreich bedingt durch die geografische Nähe etwas besser aussieht als in Deutschland), aber es gibt einige Menschen und Institutionen, die viel Energie und Zeit investieren, um das zu ändern. Seit 2008 existiert Traduki, ein europäisches Netzwerk, das speziell den Austausch zwischen der deutschsprachigen und südosteuropäischen Literaturszene fördert. Finanziell wird das Projekt von Ministerien und Stiftungen aus Deutschland, Österreich, Liechtenstein, der Schweiz, aus sämtlichen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, aus Albanien, Bulgarien und Rumänien getragen. Seit Beginn wurden insgesamt 1.527 Übersetzungen gefördert, in alle sprachlichen Richtungen. Die Liste der für das deutschsprachige Publikum zugänglich gemachten Erzählungen, Romane und auch lyrischen Texte, ist also lang und wächst zunehmend. Ich klicke mich durch die Empfehlungen des letzten Jahres. Die Titel sind größtenteils bei kleinen Verlagen erschienen; keines der Werke kommt mir bekannt vor, bis auf Maruša Kreses Trotz alledem. Ich bestelle mir drei Bücher.
Von 2020–2022 sollte unter dem Motto „Common Ground“ Südosteuropa die Schwerpunktregion auf der Leipziger Buchmesse sein. „Es soll ein anderes, ein authentischeres Bild vom Balkan vermittelt werden – jenseits der Katastrophen, Klischees und Vorurteile. Dabei soll auch das Stille und Alltägliche ans Licht kommen und dazu beitragen, dass sich Kulturen besser kennenlernen.“ (aus der Pressemitteilung zur Leipziger Buchmesse). Drei Jahre Aufmerksamkeit, Lesungen und Diskussionen, Anreiz für Verlage und Leser:innen. Die Messen sind ausgefallen, die Arbeit von Traduki und anderen geht weiter. Autor:innen können sich für Residenzen in allen beteiligten Ländern bewerben, Events wie Festivals und Workshops werden gefördert. Digitale Formate werden ins Leben gerufen. Im Podcast Literaturpalast Audiospur unterhält sich Tino Schlench mit Verleger:innen, Übersetzer:innen und Autor:innen über die Literaturszene(n) Südosteuropas, über wichtige Texte, ungehörte Stimmen, Wünsche und Enttäuschungen. Ich habe erfahren, dass in Slowenien Lyrikerinnen wie Stars gefeiert werden oder dass dort kaum Literatur gekauft wird, weil alles in den Bibliotheken ausgeliehen wird. Unerwartet, aber spannend!
Auch Verlage wie der 2016 gegründete eta Verlag setzen sich dafür ein, dass in Deutschland mehr südosteuropäische Autor:innen gelesen werden:
Ihre Gedichte, Kurzgeschichten und Romane erzählen wichtige Geschichten nicht nur aus der Gegenwart, sondern auch über unsere gemeinsame Europäische Vergangenheit, denn der Balkan mag aus der westeuropäischen Perspektive weit weg sein, dennoch liegt er mitten in Europa. Die Erinnerungen, die wir als europäische Nachbarn teilen, verzahnen sich in einer Zukunft, welche Südosteuropa in einen erweiterten Kontext stellt und dieser Literatur die verdiente Aufmerksamkeit und Anerkennung gibt. (eta Verlag)
Ursprünglich zur Verbreitung bulgarischer Literatur im deutschsprachigen Raum gegründet, wurde das Programm des eta Verlags schnell auf andere Literaturen Südosteuropas ausgeweitet. Denn mehr Sichtbarkeit ist wichtig; und Interesse ist da. Bei der vergangenen Frankfurter Buchmesse war Slowenien Ehrengast. Das GoEast Filmfestival zeigt seit über 20 Jahren in Wiesbaden mittel- und osteuropäische Filme. 2023 stand es unter dem Motto „Decolonizing the (Post-)Soviet Screen”, um dezidiert Filmen aus kleineren Sprachen und Künstler:innen aus lange Zeit vergessenen, von Russland überschatteten Regionen und Ländern eine Bühne zu bieten. Diese Tendenz, die Peripherien weiter ins Zentrum zu rücken, zeigt sich auch in der jüngeren Forschung, beispielweise an der 2022 in Berlin begonnen und letztes Jahr in Mainz fortgeführten studentischen Tagungsreihe zur Ost- und Südosteuropaforschung, oder an der 2023 gegründeten Jungen Südosteuropagesellschaft (JSOG).
Es passiert viel, auch wenn sich das meiste bisher in einer Blase abspielt, in die man aktiv und gezielt eintauchen muss. Mir scheint, es geht noch sehr viel um Kennenlernen und um Austausch. Niemand würde bestreiten, dass dieses Anliegen unterstützenswert ist. Aber kennenzulernen gibt es doch so Vieles! Lesende Menschen stehen immer vor der großen Herausforderung zu entscheiden, was sie lesen sollen. Die Kapazitäten sind begrenzt, insbesondere die zeitlichen, da muss wohl überlegt sein, welches Buch zur Hand genommen wird – und welche tausenden auf dem Stapel der nie gelesenen landen. Warum also ein südosteuropäisches? Ich stehe vor meinem Regal und ziehe ein paar Bücher heraus. Ich blättere hinein, ich lese mich fest…
Kritische Geschichtsaufarbeitung, Post-Ost-Identitätssuche, Queerness auf dem Balkan
„Pusti me da hodam gradom bez balona, pusti me da dišem s nebom što se njiše”
„Lass mich laufen durch die Stadt ohne Luftballons, lass mich atmen, während der Himmel schwankt“
(Žen: Pusti me da hodam)
Ich höre wieder Žen. Was hat das eigentlich noch mit meinem Essay zu tun? Es gibt keinen thematischen Kern. Ist das nicht letztendlich mein Thema? Ich kann nicht „die südosteuropäische Literatur“ vorstellen. Die Texte, die ihr entspringen, sind genauso wenig homogen wie die Region, die wir als Südosteuropa betiteln. Ich kann also nur von meinen subjektiven Eindrücken und Lektüreerfahrungen ausgehen, die keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben können.
Es ist noch nicht lange her, dass ich zum ersten Mal den Begriffen postmigrantische oder Post-Ost-Literatur begegnet bin, und plötzlich war diese Literatur überall – und mir unklar, wie ich sie bisher übersehen konnte. Auf Deutsch schreibende Autor:innen wie Saša Stanišič (Herkunft, 2019), Tijan Sila (Radio Sarajevo, 2023) oder (mit ukrainischen Wurzeln) Katja Petrowskaja (Vielleicht Esther, 2014) graben mit ihren Texten nach verschütteten Erinnerungen in Familiengeschichten, die mit der Historie des verlassenen (Herkunfts-)Lands verwoben sind. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist sehr präsent – in der serbischen, bosnischen und kroatischen Literatur mit der Thematisierung der jugoslawischen Zerfallskriege von 1991-2001 eine sehr junge Vergangenheit. Unsagbares sagbar machen, den Diskurs über Verbrechen in der Öffentlichkeit führen, das haben schon Schriftstellerinnen wie Slavenka Drakulić (Als gäbe es mich nicht, dt. 1999) oder Dubravka Ugrešić (Das Ministerium der Schmerzen, dt. 2005) begonnen, doch viele Geschichten wurden noch immer nicht erzählt. Gerade die jüngere Generation steht nun vor der gewaltigen Aufgabe, das Schweigen ihrer Eltern und Großeltern zu brechen und mit den Folgen eines Kriegs umzugehen, den sie selbst nur als Kinder erlebt haben.
Lana Bastašićs Fang den Hasen (dt. 2021) ist ein Roadtrip durch das ehemalige Jugoslawien und zugleich ein Trip in die Vergangenheit. Die Suche nach einer Identität beginnt mit einer Suche nach den Wurzeln. „Etwas davon war übrig, kleine Bruchstücke der Erde, Teilchen der Dunkelheit, die wir unter der Haut trugen. Wir sind immer in Bosnien. Jetzt hatten wir begonnen, es durch Europa zu schleppen.“ Der Roman fragt nach den Menschen hinter den politischen und historischen Ereignissen; weniger nach den großen Akteuren, sondern den alltäglichen Auswirkungen der jugoslawischen Zerfallskriege und der Relevanz ethnischer Kategorisierungen nach 1990. Die Rückkehr an die Orte der Vergangenheit löst Erinnerungen aus, die an diese geknüpft sind. Die Dunkelheit über Bosnien, von der im Text immer wieder gesprochen wird, ist Ausdruck der erlebten Traumata dieses Landes.
Von traumatischen Kindheitserlebnissen handeln auch die Erzählungen in Bastašićs zuletzt übersetztem Buch Mann im Mond (dt. 2023), das ich mich nach den ersten 17 Seiten nicht mehr traue zu öffnen, weil es zu schlimme Geschichten erzählt. Ein wenig düster sind die meisten Bücher, die ich kenne, und wenn sie nicht düster sind, dann sind sie melancholisch; aber einige reflektieren diese düster-melancholische Ernsthaftigkeit und machen sich auch lustig darüber, spielen mit Ironie und werden zwischendurch ganz leicht. Entdeckt habe ich diesen gemischten Erzählton (ich muss gestehen: unerwartet) in einer jungen, feministischen, queeren Szene mit national und international ausgezeichneten Autor:innen.
Während Dragoslava Barzuts Roman Die Nähe verlieren (dt. 2021) eher zermürbend (und nicht weniger beeindruckend!) von Kindheit und Jugend in Jugoslawien, Gewalt gegen lesbische Frauen, Fußball, aber auch von ein paar zärtlichen Momenten erzählt, tauchen in Dino Pešuts Daddy Issues (dt. 2022) neben zynischen (und sehr treffenden) Beobachtungen der west- und südosteuropäischen Gesellschaft auch krude, aber sehr liebevolle Gestalten auf. Da ist Goran, der um einige Jahre ältere „sex buddy“, der am liebsten die Gedichte des Protagonisten und namenlosen Ich-Erzählers lektoriert und nach außerfamiliärer Zuneigung sucht. Oder Frau Slavica, seine Vermieterin, der er Englischunterricht gibt, damit sie ihrer im Ausland lebenden Enkelin Briefe schreiben kann. An einer Stelle sagt sie:
Die Ehe, weißt du, das musste man früher machen. Und wenn man sich verliebt hat, musste man sofort abhauen, um nicht die Arschkarte zu ziehen. Ach, wäre ich doch damals ein Schwuler gewesen. Oder wäre die Welt wie jetzt gewesen. Ich hätte nie geheiratet. Ich hätte mich immer nur aufs Neue verliebt. (Pešut: Daddy Issues, S.19)
In dem Roman geht es um eine gestörte Vater-Sohn-Beziehung, um das Gefangensein in sozialen Klassen, um Homophobie und den stillen Protest eines unheroischen Melancholikers gegen den effizienzorientierten Kapitalismus – uff. Dennoch liest er sich leicht, fesselt mit Charme und viel Humor. „Frau Slavica ist die Verführerin im Altersheim. […] Sie möchte immer noch ein bisschen herumspielen, sagt sie, und meint damit vögeln.“
Ganz wunderbar sind auch die Erzählungen von Lejla Kalamujić im Band Nennt mich Esteban (dt. 2020). Hier wieder schwere Themen: Krieg, Tod, Schweigen, Traumata. Aber auch Freundschaft, homosexuelle Liebe (nicht als Problem, sondern normalisiert und schön), Hoffnung; und zwischendurch, zum Beispiel, nächtliche Gespräche:
„Schläfst du?“ „Wie denn, wenn du dich drehst wie ein Propeller.“ „Sorry, ich mach’s nicht mehr.“ „Und was ist jetzt?“ „Nichts, ich schaue nur nach, ob du atmest.“ „Oh nein. Nicht schon wieder.“ […] „Jetzt bist du sauer.“ „Bin ich nicht.“ „Komm, sag schon.“ „Was soll ich denn sagen?“ „Wie soll ich denn deiner Meinung nach atmen?“ „Ordentlich.“ (Kalamujić: Nennt mich Esteban, S. 59)
Ich glaube, am liebsten mag ich die Erzählungen von Asja Bakić. Die Texte aus Mars (dt. 2021) sind total absurd, komisch, unerwartet. Was mir so gefällt, ist ihre Kreativität. Bakić mischt Horror, Science-Fiction und Fantasy in merkwürdigen Dialogen, auf fernen Planeten, in herkömmlich beginnenden Handlungen oder schleierhaften Verstrickungen von ungewöhnlichen Figuren. In meiner Lieblingsgeschichte, Reise zum Durmitor, trifft eine gerade verstorbene Schriftstellerin auf die zwei Sekretärinnen des Jenseits (?), für die sie Geschichten schreiben soll. „‚Gott ist in der Badewanne ausgerutscht‘, sagte Zubrovka nach ein paar Minuten. Ich glaube ihr nicht. Die Art, wie sie Tristessa Blicke zuwarf, verriet, dass beide sehr, sehr unartig waren.“ Aus Gedankenspielen, ohne moralische oder gesellschaftskritische Agenda (aber nicht ohne Sticheleien) entsteht so Literatur, die unterhält, Spaß macht und inspiriert. Nun warte ich sehnsüchtig auf weitere Übersetzungen. Vielleicht sollte ich schneller Kroatisch lernen, um sie im Original zu verstehen.
Und in der Zwischenzeit? Anderes lesen! Aus Südosteuropa? Unbedingt! Warum? Über indonesische, marokkanische, chilenische Literatur könnte ich ebenfalls mehr wissen. Aber zu (einem Teil) Südosteuropa(s) habe ich inzwischen einen persönlichen Zugang gefunden, neue Welten haben sich geöffnet. Sowohl als Teil, aber auch Rand von – sowie immer wieder im Kontrast zu – Europa, geben diese Texte Anlass zum Hinterfragen von Selbst- und Fremdbildern. Sie wirbeln Geschichte(n) auf, die diskutiert werden muss/müssen, frisch und nah dran – Geschichte(n), die auch mit mir zu tun hat/haben. Und vor allem: Was ich bisher gelesen habe, ist wirklich gut.
Von sehr Vielem habe ich dennoch nicht geschrieben, nicht schreiben können. Ich habe eben keinen Überblick über „die“ südosteuropäische Literaturszene. Großartig! Es gibt also viel zu entdecken…