Verfügt eine Nation über eine Biographie?

Yaroslav Hrytsak porträtiert in „Ukraine“ die Geschichte und Gegenwart des osteuropäischen Staates

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über die Ukraine, Europas „Kornkammer“, kursieren Gerüchte, märchenhafte Erzählungen und ideologisch-nationalistische Sichtweisen, mit denen der russische Präsident Wladimir Putin den Einmarsch in und Angriff auf ein souveränes Nachbarland am 24. Februar 2022 gerechtfertigt hat. Der Historiker Yaroslav Hrytsak unternimmt in seinem ebenso kenntnisreichen wie weitläufigen Buch den Versuch, die Geschichte des Landes – so legt der deutschsprachige Untertitel nahe – als „Biographie“ vorzustellen. In der modernen Geschichtswissenschaft würde ein solches Vorhaben mit Fragezeichen versehen, denn als eine organische Entwicklung lässt sich die Genese einer Nation kaum anschaulich machen oder nachvollziehbar darlegen, denn kein Land dieser Welt verfügt auch im analogen Sinn über eine Lebensgeschichte. Oder lassen sich mit dieser Darstellungsart die Vorgänge in der Ukraine heute am besten verständlich machen?

Hrytsak greift weit aus und blickt zurück auf die Geschichte der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit. Er möchte die ukrainische Historie in einen größeren Horizont einbetten, was allerdings nur bedingt gelingt oder gelingen kann, denn ökonomische Verflechtungen, die heute bestehen, sind nicht in der hellenischen Welt vorgebildet worden. Ebenso bleibt fraglich – und das ließe sich auch über andere Nationen sagen – ob ein ukrainisches National- oder Selbstbewusstsein wirklich sich aus Epochen speist oder sich mit Konflikten erklären lässt, die Generationen oder Jahrhunderte zurückliegen. Anschaulich hingegen sind Hrytsaks Überlegungen, die er zum Kriegszustand heute anstellt, etwa zu den gravierenden Fehleinschätzungen der russischen Armee im Jahr 2022:

Die wichtigste Invasionsroute verlief von Norden her aus Belarus – der kürzeste Weg von der Grenze bis nach Kyjiw, der ukrainischen Hauptstadt. Die Russen rückten offen in Kolonnen vor, ohne jegliche Scheu und ohne Luftunterstützung oder Aufklärung. Sie hatten ihre Galauniformen für die Siegesparade dabei, die sie in drei Tagen auf dem zentralen Platz von Kyjiw veranstalten wollten. Es gab keine Siegesparade.

Der Vormarsch der russischen Armee wurde gestoppt, unter anderem von Zivilisten und Hobbyjägern. Die Karawane der Truppen blieb zudem im Schlamm stecken. Russlands Traum von einem schnellen Sieg erwies sich in kürzester Zeit als Illusion. Dieser Krieg aber, so Hrytsak, werde die „Konturen der künftigen Welt“ bestimmen. Diese Prognose bleibt eine Mutmaßung.

Die eigene Methode der „Geschichtsschreibung“ skizziert der Historiker sodann im Folgenden. Er gehe, wie jeder andere auch, „nach eigenem Gutdünken“ vor, möchte „Prozesse“ aufzeigen, die sich hinter einzelnen Ereignissen befänden, und er wählt die „globale Geschichte“ als den Rahmen, der auch seine Geschichte der Ukraine verwendet werden soll:

Die Ukraine entstand als ein Ergebnis der Globalisierung und des Aufstiegs des Westens, die mit der Entdeckung Amerikas im Jahr 1492 begannen. So gesehen, verdient es Kolumbus, zu einer der Hauptfiguren der ukrainischen Geschichte gezählt zu werden.

Leserinnen und Leser dürfen skeptisch bleiben – ungeachtet der historischen Bedeutung einer einzigen prominenten Gestalt der Weltgeschichte. In gleicher Weise gilt dies für die summarisch angelegten Überlegungen zu Philosophie und Theologie, in der von einem aristotelischen Gottesbegriff gesprochen, aber verkannt wird, dass der griechische Denker sich mitnichten einen „Hauptbeweger“ ausdachte, sondern in der „Metaphysik“ schlicht von einem „unbewegt Bewegenden“ sprach. Sodann wird der Eingang des aristotelischen Denkens über islamische Philosophen verschwiegen, stattdessen aber wird Thomas von Aquin zu einem maßgeblichen Theologen erhoben, der versucht habe, „die Existenz Gottes durch die Vernunft zu beweisen“. Der ontologische Gottesbeweis aber geht nicht auf Thomas von Aquin, sondern auf Anselm von Canterbury zurück. Zugleich stellt sich die Frage, warum die hier angenommene „Synthese des Christentums und des Rationalismus“ als „rein zufällig“ bezeichnet wird. Richtig hingegen ist zwar, dass sich in der orthodoxen Theologie eine Gestalt wie Thomas von Aquin nicht findet, doch mitnichten hat der mittelalterliche Denker der Vernunft erst den Weg ins Christentum gebahnt. Bereits der Kirchenvater Augustinus hat etwa achthundert Jahre zuvor über das Verhältnis von Vernunft und Glaube nachgedacht. Diese latente inhaltliche Unschärfe besteht und steht nicht im Gegensatz zu dem imposanten Panorama der Aspekte, der ukrainischen Geschichte, die der Historiker dann schlaglichtartig vorstellt und verwebt, wenn er von einem „riesigen Pulverfass“ schreibt und möglicherweise doch ein wenig gewagt interpretiert, wenn die „weltweite Expansion des Westens“ mit der Gestalt des Kolumbus verknüpft wird. Zutreffend hingegen ist, dass auch Russland, bis heute, als eine imperiale Macht vorgestellt ist, bis in diese Zeit hinein. Ungeniert führt Hrytsak aus: „Wie die meisten autoritären Führer hält auch Putin nichts von Rede- und Meinungsfreiheit oder spontanen öffentlichen Protesten.“ Fraglich bleibt aber – und davon ist nicht die Rede –, welche Struktur und Gestalt etwa der Machtapparat in Russland besitzt. So wird nicht erwogen, ob und wer eines Tages den amtierenden russischen Präsidenten im Amt nachfolgen könnte und welche Auswirkungen dies auf die Herrschaftsstruktur hätte. Darüber diagnostiziert der Autor Elemente der Korruption in der Ukraine:

Der Krieg rückte einige Dinge zurecht, die bisher unklar waren oder missverstanden wurden. Vor dem Krieg war die Ukraine im Allgemeinen von Ambivalenz geprägt. Ihre Situation war weder so gut noch so schlecht, wie es scheint mochte. Es gab zwar eine starke Zivilgesellschaft, aber auch korrupte politische Eliten. Die Ukrainer bauten ihre Demokratie auf, aber die wichtigsten Indikatoren zeigten einen negativen Trend; das Land hatte sich zwar von der »russischen Welt« wegbewegt, hatte aber das westliche Ufer noch nicht erreicht. Der Krieg beendete diese Ambivalenz. In den Flammen des Krieges verbrannte der Teil der ukrainischen Vergangenheit, der das Land noch mit Russland verbunden hatte. Die Ukraine zog sich von Russland zurück.

Doch wie und wann wird dieser Krieg beendet werden?

Yaroslaw Hrytsak legt ein facettenreiches, aber auch eigenwilliges Buch zur ukrainischen Geschichte vor, einen Band, der außergewöhnliche Erklärungsansätze bietet. Gewinnen die Leserinnen und Leser damit aber Einblicke, die auch eine Aufklärung über die heutigen Auseinandersetzungen schenken und Perspektiven für die Nachkriegszeit aufzeigen? Ein scharf konturiertes Bild über die Ukraine entsteht nicht, wenngleich dieser überwiegend skizzenhaften Beschreibung eine interessierte Leserschaft zu wünschen ist. Jede Leserin, jeder Leser muss sodann selbst entscheiden, ob es möglich und sinnvoll ist, heute und künftig in der Geschichtswissenschaft und in der politischen Diskussion von der „Biographie“ einer Nation zu sprechen.  

Titelbild

Yaroslav Hrytsak: Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation.
Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr und Norbert Juraschitz.
Verlag C.H.Beck, München 2024.
479 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783406821622

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