Das Wesen des Opfers

Andrew Michael Hurleys Roman „Loney“ erzählt eine seltsame Geschichte, die viele Fragen aufwirft und bewusst Antworten verweigert

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Andrew Michael Halls Debütroman Loney hat die Marketing-Abteilung des Ullstein-Verlags offensichtlich vor ein große Dilemma gestellt: Ein Buch, das in England den mir zuvor nicht bekannten, jedoch recht publikumswirksamen Costa Coffee-Literaturpreis gewinnt und irgendwie um ein paar Ecken durchaus als ‚Horror-Literatur’ gelesen werden kann, in dem aber, für dieses Genre nicht gerade verkaufsfördernd, im Grunde bis kurz vor Schluss gar nichts passiert. Es ist zu einem traurigen Trend geworden, dass sich Verlage in solchen Fällen, in denen das anvisierte Genre nicht ganz mit dem zu vermarktenden Buch in Einklang zu bringen ist, der spannendste Moment der Handlung schon im  Klappentext erwähnt wird. Blöd nur, wenn man damit gleich die Auflösung verrät. Wie schnell so ein Vorgehen schief gehen kann, zeigen die wenig begeisterten Kundenrezensionen auf Amazon: Das Buch sei langatmig, es passiere nichts, ganz atmosphärisch ja, aber ohne erkennbaren Handlungsfaden, es sei wohl nur ein Hype, auf den man nicht reinfallen dürfe. Und so weiter. Tatsächlich aber ist Loney einer der faszinierendsten und originellsten Romane der letzten Zeit.

In den 1970er Jahren fährt eine streng gläubige, kleine christliche Gemeinde aus London wie jedes Jahr an eine abgelegene Küstenregion im Norden Großbritanniens, um dort das Osterfest zu begehen. Zweck dieser Reise ist vor allem, einen zunächst nicht näher geschilderten Schrein aufzusuchen, an dem der stumme und (mutmaßlich) geistig zurückgebliebene Bruder des Ich-Erzählers Tonto geheilt werden soll. Das Besondere an der beschriebenen Fahrt ist, dass der eigentliche Pfarrer der Gemeinde, der streng dogmatische Father Winfried, kurz zuvor verstorben ist, und nun ein junger, fortschrittlicher Geistlicher namens Father Bernard die Gemeinde durch das Heilige Ritual an besagtem Schrein führen soll. Tonto erzählt die Geschichte aus seiner heutigen Perspektive, der Blick auf seine Kindheit ist höchst subjektiv, was es dem Leser erschwert, eine zuverlässige Orientierung im  Roman zu finden. Zudem erfahren wir in der Mitte der Erzählung, soviel sei verraten,  scheinbar beiläufig eingestreut, dass sich der Erzähler offensichtlich in langfristiger psychiatrischer Behandlung befindet.

Der Leser kann sich also niemals sicher sein, dass das, was er von Tonto erfährt, tatsächlich auch der Wahrheit entspricht, oder ob die Perspektive des Jungen nicht von seinem erwachsenen Ich zum Zweck einer Therapie zur Trauma-Bewältigung immer wieder rekonstruiert wird. False Memory Syndrome nennt man das in der Psychotherapie, denn es ist umstritten, ob die evozierten Erinnerungen tatsächlich der Wahrheit entsprechen, oder es ein aus der Therapie und einer bestimmten medial getriggerten Vernetzung von bestimmten Ereignissen entstandenes Konstrukt ist. Diese Problematik taucht immer wieder bei der Behandlung von traumatisierten Menschen auf, die sich als Opfer satanischer Rituale wähnen. Und genau diese Problematik behandelt Loney, ohne dies jedoch jemals konkret zu benennen.

Nun bietet wohl jeder gehaltvolle Roman dem Leser mehrere Lesarten, mehrere Deutungsmöglichkeiten an. Doch nur die wirklich gelungenen Texte implizieren auch die Möglichkeit, das Erzählte einfach so zu nehmen, wie es berichtet wurde, ohne die Möglichkeit vollkommen auszuschließen, dass es doch ganz anders gewesen sein könnte. Tonto wird, nicht zuletzt aufgrund der scheinbar unmotivierten, bisweilen mitten im Kapitel – und im Erzählfluss – stattfindenden Zeitsprünge, von Hurley bewusst nach und nach als unzuverlässiger Erzähler inszeniert. Doch seine vorgebliche Unzuverlässigkeit basiert keinesfalls auf dem bewussten Versuch, den Leser zu täuschen. Vielmehr scheint hier ein Verdrängungsmechanismus stattzufinden, den der nur ein einziges Mal auftauchende Psychiater zu umschiffen versucht, indem er Tonto mit der Niederschrift seiner Erinnerungen – also dem Buch, das vor uns liegt – beauftragt. Das ist der Grund, warum in seiner Erzählung nichts, was ihm fremd scheint, benannt wird.

Als Tonto und der stumme Bruder Hanny eines Tages einer vermeintlichen Familie  ̶  in seine Augen Vater, Mutter und junger Tochter, die schwanger ist  ̶, begegnen, die ebenfalls in jener gottverlassenen Gegend Urlaub zu machen scheinen, scheint macht er sich zunächst keine Gedanken die Konstellation erst einmal klar. Bei der nächsten Begegnung sieht es schon so aus, als sei der Vater ein boshafter Tyrann. Dann handelt es sich vielleicht doch um ein Verbrecherpärchen, schließlich meint der Leser nun zu wissen, dass die junge Frau zwangsprostituiert werde und den Männern des Dorfes dienen müsse. Doch plötzlich bewegt man sich in Wicker Man-Territorium: „You do not understand the nature of sacrifice“, erklärt in diesem Filmklassiker aus den frühen 70er Jahren der heidnische Hohepriester Lord Summerisle dem überwältigten Protagonisten, der endlich hinter das Geheimnis der seltsamen Dorfgemeinschaft an der nordenglischen Küste gekommen ist… Und plötzlich sollte auch der mit diesem Film vertraute – und das sind in England recht viele – Leser von Loney merken, dass die Parallelen vielleicht etwas zu frappierend sind. Aber damit ist eigentlich schon zu viel verraten.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Andrew Michael Hurley: Loney.
Übersetzt aus dem Englischen von Yasemin Dincer.
Ullstein Verlag, Berlin 2016.
384 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783550081378

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