Es ist alles nicht so einfach!
Einige Anmerkungen zu Walter Kempowskis Roman "Alles umsonst"
Von Thomas Neumann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKempowski macht es einem nicht leicht. Man ist bei seinem neuen Roman zwischen Wohlwollen und verhaltener Kritik hin- und hergerissen. Aber auch zwischen der dokumentarischen Authentizität des "Echolots", das in seiner materialreichen Fülle die Folie für den Roman liefert, und der Romanform, die sich am selben Thema versucht. Was ist also anzumerken?
Als hätte man aus der Fülle der Geschichten des "Echolots" einige Briefe und Dokumente herausgenommen und diese in eine Geschichte verwandelt, so könnte es auf den ersten Blick dem Leser erscheinen. Es ist eine unterhaltende Lektüre, die den Leser erwartet, insofern man bei der eigentlich ernsten Thematik "Unterhaltung" erwarten kann. Ist es die mangelnde Materialdichte des Romans, die man von den "Echolot"-Bänden gewohnt ist, die auffällt? Wohl kaum. Eher ist es die Struktur des Buchs, die sich von der des "Echolots" unterscheidet: Keine Textcollage, sondern ein Roman. Und deshalb sind es auch nicht eine Vielzahl an Personen und eine Unmenge an Schicksalen, mit denen der Leser konfrontiert wird, sondern eine Handvoll Menschen, die im Januar 1945 auf einem Gutshof in Ostpreußen versuchen, irgendwie zurecht zu kommen.
Die Protagonisten der knapp 400 Seiten lassen sich an einer Hand abzählen: Katharina von Globig, Gutsbesitzerin mit leicht ätherischer Aura, ihr Sohn Peter, das "Tantchen", die die Geschäfte auf dem Gut führt, ein polnischer Zwangsarbeiter mit Namen Wladimir, der "Privatlehrer" Dr. Wagner, der Peter private Unterrichtsstunden gibt, und noch einige Nebenfiguren, unter denen der nationalsozialistisch ambitionierte Drygalski als begeisterter und fanatischer Vertreter der nationalsozialistischen Ordnung heraussticht.
Die Hauptpersonen begleiten abwechselnd die Entwicklung der Handlung: die Anzeichen eines nahenden Kriegsendes, die Vorbereitungen zur Flucht, Flüchtlingstrecks aus dem Osten, schließlich der chaotische Aufbruch und das endgültige Verlassen der Heimat Ostpreußen: "Das Tantchen guckte sich nicht um, und man blickte ihr auch nicht nach."
Das vorgestellte Personal des Romans verabschiedet sich im Laufe der Handlung nach und nach vom Leser: Katharina von Globig wird verhaftet, weil sie einen jüdischen Flüchtling versteckt, das "Tantchen" wird auf der Flucht getötet, Wladimir, der polnische Zwangsarbeiter auf dem Georgenhof wird zusammen mit seiner schwangeren Frau erhängt und Dr. Wagner, Peters Lehrer und Begleiter auf der Flucht, kommt zu Tode. Letztlich bleibt nur Peter, der ungefähr zehnjährige Sohn der Familie Globig, aus dessen Blickwinkel der Leser die "Fluchtbewegungen" der anderen Protagonisten betrachtet: "Dr. Wagner sprang mit seiner letzten Kraft an die Ladeluke, aber er rutschte ab, fiel hintenüber auf die Straße, und ein schwerer Wagen fuhr über ihn hinweg. / 'Uhhh!' rief Peter und ließ sich zurückfallen. / War es das, was Wagner unter 'Vollendung' verstanden hatte?"
Es gelingt Kempowski immer mehr zum Ende des Romans, was anfangs nicht zu vermuten war. Er bricht die Handlungsstränge des Romans, indem er immer wieder unvermutet Tod und Zerstörung in die Erzählstränge einbrechen lässt. Figuren, denen der Leser emphatisch verbunden ist, sterben abrupt und desillusionieren die Hoffnung des Lesers auf einen guten Ausgang der Handlung durch Rettung aller Beteiligten. Und am Ende ist die bisher unangenehmste Figur des Romans, der nationalsozialistische Drygalski, der die Rettung von Peter ermöglicht - im Austausch gegen seine eigene Unversehrtheit. So wird auch die Zeichnung der Figuren differenziert, vertauscht und eine einfache Schematisierung der Personen vermieden. Dabei verliert Kempowski auch nicht die Merkwürdigkeiten und den Humor in solch "barbarischen Zeiten" aus den Augen: "'Ich selbst' - das fiel Wagner jetzt ein - 'habe ja auch nichts von Herder besessen. Ewige Schande!' Er mußte lachen und nahm sich vor, sowie dies hier alles überstanden sei, sich Herder zu besorgen. Mein Gott! allein schon deshalb sei es wünschenswert, dies alles hier zu überstehen. / Mit dem Leben davonzukommen, das müßte doch hinzukriegen sein? Zugrunde gehen, ohne je etwas von Herder gelesen zu haben?" Oder sollte dies eine ernsthafte Überlegung sein? Zumindest für den mit klassischer Bildung und Erziehung sozialisierten Intellektuellen wohl ein realistisches Handlungsmuster.
Der neue Roman von Kempowski steht gleichberechtigt neben dem "Echolot" und exemplifiziert die Vielzahl der darin verborgenen Geschichten. Mit seiner Spannung zwischen durchgängigem Erzählstrang und Brechung der Handlung und der Personen wird die differenzierte Perspektive auf das Geschehen ermöglicht. Ein solider, unterhaltsamer und bemerkenswerter Roman, der fast alle Protagonisten im Laufe der Handlung verschlingt - zusammen mit dem Leser.
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