Kontinuität oder "Stunde Null"?

Ein Sammelband über die deutschsprachige Literatur der 50er-Jahre

Von Paola QuadrelliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paola Quadrelli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gemeinhin gelten die Jahre zwischen der Gründung der beiden deutschen Staaten und dem Bau der Mauer als eine Epoche der politischen Restauration und des kulturellen Konservatismus: die heikle politische Vergangenheit, die Teilung des Landes und der ab der Mitte des Jahrzehnts stetig anwachsende Wohlstand hätten eine Tendenz zu Ruhe und Bequemlichkeit gefördert, die jede öffentliche Diskussion lähmte.

Sehr scharf und erwähnenswert ist Walter Jens' Fazit über die 50er-Jahre (in "Statt einer Literaturgeschichte", 1978): "Die Dichtung wurde unpolitischer, [...] umstrittene Publizisten gewannen literarischen Ruhm in einem Land, dem für eine Renaissance der Musen freilich die wichtigsten Voraussetzungen fehlten: Keine Hauptstadt, die Impulse bis in die Provinz hinein ausstrahlt, stattdessen: Eine geteilte, zwiefach unselbstständige Nation; keine literarische Öffentlichkeit, kein literarisches Gespräch: Die es geführt haben, die Juden, waren ermordet worden".

Der vorliegende Band, der in Zusammenarbeit von polnischen, deutschen und österreichischen Germanisten entstanden ist, weist schon im Titel auf die schwierige politische Erbschaft hin, die ihren Schatten auf die Literatur der 50er-Jahre wirft, und versucht zugleich, das von Gemeinplätzen stark belastete Bild der deutschen literarischen Produktion im ersten Nachkriegsjahrzehnt zu revidieren. Der Band besteht - wie üblich bei solchen Sammlungen - aus zwei Sektionen: auf den ersten Teil, der allgemeineren Themen, Tendenzen, Motiven und Haltungen gewidmet ist, folgt eine zweite Sektion, die aus Einzelstudien besteht, und in der Aufsätze über verschiedene Autoren der Zeit - von Thomas Bernhard als Lyriker bis zu Hans Henny Jahnn und dem oberschlesischen Lipinsky-Gottersdorf - ihren Platz finden. Die Vielfältigkeit und die Beliebigkeit der hier ausgewählten Schriftsteller mögen den Leser auf den ersten Blick wundern: es fehlen zum Beispiel die großen Namen der deutschen Lyrik dieser Jahre, wie Benn oder Brecht; es gibt keine Einzelstudie über Heinrich Böll; kein Wort über Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, zweifellos die herausragendsten deutschsprachigen Dramatiker dieser Zeit. Der bekannteste österreichische Dichter der 50er, Heimito von Doderer, wird im ganzen Band nur zweimal und flüchtig erwähnt.

Solche Unterlassungen zu unterstreichen mag als eine sinnlose Pedanterie erscheinen, wenn man bedenkt, dass wir eine Sammlung von Aufsätzen und kein Literaturlexikon in der Hand haben. Vorausgesetzt, dass ein solcher Band nicht nach Vollständigkeit streben soll oder darf, und angenommen, dass die ausgewählten Autoren einfach den Forschungsschwerpunkten der einzelnen Germanisten entsprechen, vermisst der Leser aber letztendlich eine Einleitung, in der Richtlinien und Kriterien der Sammlung erläutert und Ähnlichkeiten oder gemeinsame Aspekte zwischen den dargebotenen Autoren erkannt werden. Auch eine Bilanz über die Ergebnisse der Forschung fehlt.

Abgesehen von diesem die Struktur des Buches betreffenden Vorbehalt bietet der Band ansonsten aufschlussreiche und interessante Beiträge von kompetenten Forschern. Karl Müller und Leszek Zylinski befassen sich mit einer Erkundung der österreichischen bzw. deutschen Literaturszene in den 50er Jahren. Beide Autoren gehen davon aus, dass weder die Theorie der "Stunde Null" noch die postulierte Kontinuität der nazionalsozialistischen Literaturverhältnissen anzunehmen sind - und dass das literarische Leben eher als "eine Gemengelage von Neubeginn und Kontinuität(en) zu beschreiben ist" (Müller). Im Hinblick auf die Debatte über die Wiederaufrüstung und auf die Anti-Atom-Bewegung, der sich namhafte Schriftsteller anschlossen, setzt Zylinski den Akzent auf die politisch-gesellschaftlichen Debatten dieses Jahrzehnts, "das so unpolitisch auch nicht war". Das Interesse der Schriftsteller für die atomaren Fragen erweist sich in dem Essay von Monika Grucza über Karl Jaspers "Atombuch" als eine deutsche "Spezialität", die sich mit dem Hinweis auf die Dramen Frischs, Brechts, Dürrenmatts, Kipphardts, Rolf Schneiders und Zuckmayers belegen lässt.

Die Lektüre der Schriften Jean Paul Sartres, die dramatischen Kriegserlebnisse, die Verwirrung und die Hoffnungslosigkeit der Heimkehrer sowie die eigenen Erfahrungen in der schwierigen und prekären Nachkriegszeit prägen das Werk vieler Schriftsteller der 50er Jahre: man denke an das erzählerische Werk von Alfred Andersch (mit dem sich im vorliegenden Band Monika Hryniewicka befasst), in dem das freie und verantwortungsvolle Handeln des Einzelnen thematisiert wird, an die Romane Hans Werner Richters (Sebastian Mrozek), die die Kriegserlebnisse literarisieren, und an das Werk Hans Erich Nossacks, der, wie Andrzej Pilipowicz erläutert, mit existenzialistischen Zügen die desolate Lage der Deutschen in der Nachkriegszeit schildert.

Kriegserlebnisse in Nordoberschlesien sind im Roman "Wanderung im dunklen Wind" des oberschlesischen Dichters Hans Lipinsky-Gottersdorf (1920- 1991) thematisiert, um den der Aufsatz von Wojciech Kunicki kreist. Kunicki, der jüngst eine Monografie über den Schriftsteller veröffentlicht hat ("Hans Lipinsky-Gottersdorf. Leben und Werk", Neisse Verlag 2006), versteht den Roman als eine Parabel, die sich gerade durch den "Charakter des Parabelhaften" von der scheinbar ähnlichen "Trümmerliteratur" Bölls distanziert. Der polnischen Herkunft der Herausgeber des Bandes sind wir auch einen originellen Beitrag von Markus Krzoska über die Reiseberichte in den ehemaligen deutschen Ostgebieten schuldig. Krzoska betont zuerst die in der BRD vorherrschende ressentimentsgeladene Meinung über die neuen deutsch-polnischen Grenzen und weist auf das Unwissen der meisten Bundesbürger über die Verhältnisse jenseits des Eisernen Vorhangs hin. Wenn aus dem Bericht des aus Breslau stammenden Erwin Hirschberg, der "Reise durch alle schlesischen Kreise" (1955), das Bild eines verwüsteten und heruntergekommenen Landes entstand, "dessen neue Bewohner [...] in erster Linie als Zerstörer der alten, friedlichen Ordnung auftauchten" (Krzoska), vermitteln andere Reiseberichte ein differenziertes Bild der ehemaligen deutschen Ostgebiete, so im Falle von "Unter polnischer Verwaltung. Tagebuch 1957" von Charles Wassermann, Sohn des berühmten Schriftstellers Jakob. Nach einem aufsehenerregenden Buch über die Aufstände von 1956 in Posen und in Ungarn, unternahm Wassermann eine Reise nach Polen und beschrieb in seinem Tagebuch das Schicksal der dort lebenden Menschen voller Mitleid und Verständnis (und daher deutlich freundlicher als Hirschberg). Weitere Reiseberichte, wie der von August Scholtis über die Tschekoslowakei (1960) und jener von Ben Budar über Polen (1961), leiden unter der ideologischen Blindheit gegenüber den osteuropäischen Verhältnissen, der viele damalige westeuropäische Schriftsteller erlagen.

Wie der Ostteil des Kontinents auch in den gesamteuropäischen Zukunftsvisionen deutscher Schriftsteller vernachlässigt wurde, zeigt uns L. Zylinski in seinem Beitrag über "Europa als Vorstellung", der dem europäischen Gedanken in den Essays deutscher Schriftsteller in den 50er-Jahren nachgeht (R. Schneider, R. Pannwitz, F. Lion, K. Edschmid). Eine Ausnahme bildet hierbei Reinhold Schneider, der in seinem Vortrag "Europa als Lebensform" (1949) die osteuropäischen Länder nicht aus dem Blick verliert und für ein Europa plädiert, das sich am christlichen Glauben und der Freiheit orientiert. Trotz der Vielfältigkeit der verschiedenen Anschauungen unterstreicht Zylinski die gemeinsame skeptische Stellung der Schriftsteller und die "einhellig geäußerte Befürchtung der Einseitigkeit einer nur wirtschaftlichen Integration Europas", was aus der heutigen Perspektive einer rein wirtschaftlichen Globalisierung wie eine sehr aktuelle Warnung klingt.

Die Gefahren eines unkontrollierten technischen Fortschrittes und eines von allen geistigen Werten losgelösten Wachstums blieben den scharfsinnigsten Geistern jener Jahre nicht verborgen. In einer Epoche begeisterter Fortschrittsgläubigkeit und leichtsinnigen Konsums warnte zum Beispiel schon Friedrich Georg Jünger (siehe den Beitrag von R. Heyer) vor den Bedrohungen, denen der Mensch in einer technologisierten Welt und in einer Massengesellschaft ausgesetzt ist: das Erlöschen der Individualität, die Vereinzelung, der Raubbau an den Ressourcen der Natur und die Zerstörung der Umwelt. Trotz der Weitsichtigkeit seiner Analysen bekam Jünger nicht viel Zustimmung: sein Essay "Die Perfektion der Technik" stieß nach dem Zweiten Weltkrieg in allen politischen Lagern auf Ablehnung und auch innerhalb der Ökologiebewegung der 70er und 80er Jahre blieb die erwartete Jünger-Renaissance aus, obwohl der Schriftsteller sehr wohl als ein Vorläufer der Grünen und sogar als ein Grüner ante litteram hätte erkannt werden können. Die stilistische und gedankliche Komplexität Jüngers, die zu dem "Flugblatt-Stil der Traktate der Ökologiebewegungen nicht paßte" (Heyer), und die politische Orientierung des Autors sind die Gründe, weshalb die deutsche Ökologiebewegung nicht auf Jüngers Arsenal an ökologischen und antitechnischen Argumenten zurückgriff.

Zu den früheren und bissigsten Kritikern der Wohlstandsgesellschaft zählt auch Martin Walser, auf dessen literarische Anfänge Joanna Jablkowska in "Kafka und die Folgen" eingeht. Wie bereits im Titel angedeutet, beabsichtigt die Autorin, das Erbe Kafkas in der frühen Prosa Walsers zu verdeutlichen (vom Erzählband "Ein Flugzeug über dem Haus" bis "Ehen in Philippsburg"): dabei weist Jablkowska auf stilistische (Anhäufung von Vermutungsformen) und inhaltliche Ähnlichkeiten hin (das groteske Weltbild, die verzerrte Wahrnehmungsperspektive, das unbegründet tückisch-misstrauische Benehmen der Menschen), aber sie betont gleichzeitig die bei Walser vorherrschende gesellschaftskritische Haltung, die sich in seinem ersten Roman "Ehen in Philippsburg" in einer frühzeitigen und brillanten Diagnose der Entwicklung der Medien (Fernsehen, Presse, Rundfunk) und ihrer zunehmenden Rolle in der modernen Gesellschaft widerspiegelt.

Der Band enthält außerdem einen Essay von Sigrid Schmid-Bortenschlager über österreichische Literatur von Frauen in den 50er Jahren, einen Aufsatz von Edward Bialek über die neuen Avantgarden und insbesondere über die Wiener Gruppe, sowie Einzelstudien über die in "Heliopolis" enthaltene "Ortners Erzählung" von Ernst Jünger (Tobias Wimbauer), über die (Nachkriegs)- Poetologie von H. H. Jahnn (Jürgen Joachimsthaler), über Ferne und Nähe in den Hörspielen von Günter Eich (Kai Hendrik Patri) und über den Übergang zur Prosa von Thomas Bernhard, der bekanntlich zunächst als Lyriker die literarische Szene betrat (Tomasz Waszak). Mit einem der meistdiskutierten Romane der deutschen Nachkriegsliteratur - "Die Blechtrommel" - befasst sich aus narratologischer Perspektive Maren Jäger. Einen weiteren Beitrag zu einem der überraschendsten jungen Talente der damaligen deutschen Literaturszene liefert Marek Podlasiak, der sich mit der frühen Dramatik von Günter Grass auseinandersetzt: in diesen Dramen erkennt Podlasiak trotz aller Nähe zum absurden Theater auch die ständige Präsenz der gesellschaftlichen Problematik und sozialer Bezüge, die sich für das künftige Œuvre von Grass als kennzeichnende literarische Züge erwiesen.


Titelbild

Edward Bialek / Leszek Zylinski (Hg.): Die Quarantäne. Deutsche und österreichische Literatur der fünfziger Jahre zwischen Kontinuität und Neubeginn.
Neisse Verlag, Wroclaw-Dresden 2006.
442 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-10: 3934038603

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