Erzähltexte, "ins Bild" gesetzt

Geschichten zu Caravaggio

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Person und das Werk des lombardischen Malers aus der Zeit der Gegenreformation besitzt bis in die heutige Zeit eine unglaubliche Anziehungskraft. Die kunstgeschichtliche Forschung sucht immer noch nach dem "historischen" Caravaggio, sie lässt ihn als Naturalist und Idealist, als Häretiker und treuen Gefolgsmann gegenreformatorischer Gläubigkeit erscheinen. War Caravaggio, wie man ihn nach seinem Geburtsort nennt, nun Vertreter eines klassischen Ideals, Begründer des Barock oder gar - so Roberto Longhis These - Wegbereiter der Moderne?

Seine Bilder empfehlen sich durch besonders ausgefeilte ikonologische Programme oder verdanken ihre innovative Kraft der treuen Abschilderung des Volkslebens. Aber auch Schriftsteller wie Christoph Meckel ("Wie starb Caravaggio", 1983) oder Christoph Geiser ("Das geheime Fieber", 1987) zeichnen ihr individuelles Bild des Künstlers, dessen Persönlichkeit der eine, die Homosexualität des Malers der andere, während die Autoren von Kriminalromanen gern einzelne Bilder Caravaggios verfolgen. Die Erzähltexte kehren "ins Bild" zurück und unterziehen es einer werkimmanenten Analyse oder gehen von komplexen kunsttheoretischen oder ikonologischen Programmen aus. Caravaggios Suche nach einem neuen Selbstverständnis zieht immer wieder Wissenschaftler wie Künstler/Schriftsteller in den Bann.

Während aber Raffael von den Rezipienten (fast) aller Zeiten gelobt und als Vorbild für die nachfolgenden Künstlergenerationen dargestellt wurde, diente Caravaggio - zumindest bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts - immer als Negativbeispiel. Die frühere Rezeption wurde stark beeinflusst durch die Erwähnung der kriminellen Taten, das unstete Leben Caravaggios, seine Neigung zu Gewalttaten und sein aufbrausendes Temperament war für die frühen Biografen untrennbar mit seinem künstlerischen Stil verbunden. Das förderte die Neigung zur Legendenbildung und die Betonung des Anekdotischen. Überlieferung und Legendenbildung sowie eine Unzahl von nicht gesicherten Zuschreibungen wurden zu einem verwirrenden Netz verknüpft. Erst die Veröffentlichung der Prozessakten 1881 durch Antonio Bertolotti schuf Klarheit. Es erwies sich, dass Caravaggios künstlerischer Aufstieg und die Zunahme öffentlicher Aufträge parallel zu seinem sozialen Abstieg verliefen, bedingt durch seine kriminelle Karriere. Immer häufiger musste er ins Gefängnis, die Lizenz zum Tragen eines Schwertes wurde ihm entzogen und seit 1605 war er ohne festen Wohnsitz. Die Beschreibung des Stils Caravaggios durch Alois Riegl Anfang des 20. Jahrhunderts stellte dann einen Bruch mit der Tradition dar und bereitete eine neue Sichtweise des Malers vor. Caravaggio hatte seine Modelle sehr gezielt ausgewählt. Sein abenteuerliches Leben und sein "naturalistischer" Stil bilden bis heute die Basis der Auseinandersetzung und beeinflussen die Struktur der Rezeption. Hauptstreitpunkt ist die Beurteilung des "Naturalismus" des Malers, d. h. das Problem des Wirklichkeitsgehalts der Bilder, geblieben.

Flankierend zur Ausstellung "Caravaggio. Auf den Spuren eines Genies" im museum kunst palast, Düsseldorf, der ersten umfassenden Caravaggio-Schau in Deutschland, ist eine Anthologie mit dem etwas reißerischen Titel "Maler Mörder Mythos" erschienen, die 8 Geschichten zu Caravaggio umfasst. Die Autoren aus verschiedenen europäischen Ländern - man hätte sie wenigstens mit knappen bio-bibliografischen Hinweisen vorstellen sollen - wollen, so heißt es im Vorwort, "ein vorrangig der Literatur zugewandtes Publikum für das Werk Caravaggios sensibilisieren", indem sie "jeweils ein oder mehrere Werke Caravaggios in den Fokus der Erzählung stellen und den Künstler selbst zum Leben erwecken". Sie stellen das abenteuerliche Leben und die Person des Künstlers in der Beschränkung auf Handlungsausschnitte ("Aussparungstechnik", "offener Anfang" wie "offener Schluß") vor, um mit Hilfe des vorgegebenen kunstgeschichtlichen Materials ihre Fiktion zu entwerfen.

Ingrid Noll lässt in ihrer Erzählung "Das weiße Hemd der Hure" die Prostituierte Fillide Melandroni sprechen, die sich Caravaggio als Modell für die biblische Judith ausgesucht hat. Bereits ihre Berufskollegin Giulia hat er als büßende Sünderin Magdalena ins Bild gebannt ("Heilige Magdalena", um 1595). Zunächst malt er beide als brave Martha (Giulia) und eitle Magdalena (Fillide). "In trotziger Arroganz, aber bereits leicht verunsichert, blicke ich von oben auf Martha herab [...] Nur ihre Hände [...] werden vom Lichtstrahl getroffen [...]. Dieser Lichtblick deutet die Wendung für meine verworfene Seele an", lautet der Selbstkommentar Fillides ("Martha tadelt die Eitelkeit Magdalenas", 1597). Nicht ohne hysterische Auftritte beginnen dann die Arbeiten am Judith-Gemälde: Judith soll im Augenblick der Enthauptung des Holofernes dessen Kehle schon zur Hälfte durchschnitten haben, und diese Szene wird an der Schlachtung eines Hahnes geprobt. Aber Fillide besorgt das Abstechen des Federviehs so professionell, dass ihr weißes Hemd unbefleckt vom Blut bleibt, was wiederum den Maler in höchste Wut versetzt. Erst als der Künstler ihr ihren Peiniger zuführt, der sie als Neunjährige vergewaltigt hat, sticht sie zu und Caravaggio kann wie ein Besessener weitermalen, bevor dann die Leiche entsorgt wird. So ist - der Lesart der Autorin zufolge - eines der berühmtesten Gemälde entstanden, "Judith und Holofernes" (1599).

Auch Tanja Kinkel geht es in ihrer Kurzgeschichte um die Personen, die dem "Maestro" Modell gestanden haben, aber aus einer ganz anderen Perspektive. Artemisia, die Tochter des Malers Orazio Gentileschi, der sie nicht nur als Modell benutzt, sondern selbst als Malerin ausgebildet hatte, lässt sich die Bilder Caravaggios im Palazzo Madama zeigen, wo Kardinal del Monte residiert, und stellt ihre eigenen Betrachtungen über den toten Maler an - als Frau, als Malerin und als Vergewaltigungsopfer, deren "Schmach" allein in einer Konvenienzehe "gesühnt" werden kann.

Andrea Camilleri kleidet seine Erzählung "Die schwarze Sonne" in einen quasi-autobiografischen Bericht: Der Erzähler begibt sich im Jahre 2004 nach Syrakus, um der Aufführung einer griechischen Tragödie beizuwohnen. Auf geheimnisvolle Weise wird ihm ein Bündel von Papieren zugespielt, die seinerzeit Caravaggio während seines Aufenthaltes in Syrakus nach der Flucht von Malta zurückgelassen hatte. Aus dieser "Art Schmierkladde mit Anmerkungen" teilt er die Abschnitte mit, die Caravaggios Zeit auf Malta erhellen sollen. In Malta hatte dieser Zuflucht gesucht, um zum Gratialritter des Malteserordens ernannt zu werden. Das hätte die Aufhebung des gegen ihn erlassenen Todesurteils bedeutet, welches wegen Mordes bei einer Schlägerei in Rom über ihn verhängt worden war. Doch auf Grund des Gemäldes "Die Enthauptung Johannes' des Täufers" (1608), in dem das Licht der Enthauptung mit dem Licht der schwarzen Sonne identisch sei, wird er des diabolischen Zauberwerkes beschuldigt und in den Kerker geworfen, aus dem ihm mit Hilfe seines Freundes Mario Minniti die Flucht nach Syrakus gelingt. Hier, bei der Arbeit an dem Gemälde "Die Bestattung der heiligen Lucia" (1608), überfallen ihn Visionen, und die Angst vor dem Zugriff der Häscher treibt ihn weiter nach Messina. Ebenso unvermittelt wie der Auszug aus Caravaggios angeblichen Papieren begonnen hat, bricht er auch wieder ab, ein Stück unruhevoller Lebensgeschichte des Malers enthüllend und deutend, das die Gründe für seinen bald darauf erfolgenden Tod vorwegnimmt.

Arnold Stadler gibt eine Interpretation des Bildes "Die Berufung des heiligen Matthäus" (1599-1600), das sich in der Kirche San Luigi dei Francesi zu Rom befindet. Caravaggio hat den Augenblick gemalt, da Jesus (Il Salvatore, der Erlöser) auf die Zöllner, Kollaborateure der römischen Besatzungsmacht, trifft und mit seiner Hand in die hinterste Ecke zeigt, wo Matthäus vor seinem Geldhaufen sitzt und sich wie in der Schule duckt. "Vielleicht übersieht er mich [...]. Aber mit der Hand Jesu kommt das Licht, das Matthäus einfängt, und unsichtbar im Raum steht der Satz: Folge mir nach! Das Bild hält den Augenblick fest, in dem alles umkippt, die Welt eine andere wird, wenigstens für Matthäus." Matthäus ändert sein Leben tatsächlich, sodass es dann als Vorlage für das Bild auf der gegenüberliegenden Seitenwand in der Contarelli-Kapelle, eine Folterszene, dienen konnte. Caravaggio hat die Runde von Sündern und Ganoven, auf die Jesus stößt, in die Straßen Roms verlagert, und als Vorbild hat er wohl Leute genommen, die mit ihm verkehrten. Römische Stricher als Modelle für Heilige? Stadler kann in der Matthäus-Figur ein weiteres Selbstbildnis Caravaggios entdecken, ein inneres, ein Psychogramm. Da wurde einer berufen, der so war wie ich. Das Bild ist aber auch, so argumentiert er weiter, ein Beitrag zur katholischen Reformationsgeschichte. Sie kommen gleich zu zweit, Jesus und Petrus, die Einheit der Kirche und die apostolische Sukzession. Und das Bild ist auch das Porträt eines Schriftstellers, denn Matthäus wurde ja schließlich wegen seines Buches umgebracht. Aber das Evangelium, die Botschaft, dass der Mensch nicht verloren, dass er gerettet ist, wenn er Jesus Salvatore folge, hat sich durchgesetzt und hat die Welt verändert. Es verschlägt einem förmlich den Atem, wie vielschichtig und beziehungsreich Stadler in dieser Bildexegese zu brillieren vermag.

Das Protokoll eines Verhörs Caravaggios durch einen römischen Jesuitenpater gibt Gerhard Falkner - "Amor vincit omnia" (Die Liebe besiegt alles). Die Szene wird zum Tribunal, in der die gerichtliche Verfolgung des Malers zwar beschlossene Tatsache ist, er aber als moralischer Sieger hervorgeht: "Ich suche in meiner Malerei etwas, für das ich bereit sein muss, sehr weit zu gehen ich suche die menschliche Natur, das Gefühl, das nicht verschleiert ist von einer matten Religiosität, die ehrliche Schönheit suche ich, der Laster und Schmutz nichts anzuhaben vermag. Ich will die Dinge ergründen, und dazu muss ich das Verhältnis von Betrachter und zu Betrachtendem neu setzen, dazu muss ich gültige Gesetze übertreten. Das sind meine Verbrechen. Ich male das Verbrechen des ergründenden Augenblicks. Und wie könnte ich die Opferung Isaaks malen, wenn ich nicht wüsste, wie man ein Messer führt?" Das Verhör, das schon das baldige Ende des Malers ankündigt, wird kontrapunktiert durch einen schrecklichen Angsttraum, aus dem Caravaggio in seinem Lebenshunger gestärkt hervorgeht.

Henning Mankell imaginiert die letzten Tage und den Tod Caravaggios am Strand von Porto Ercole in freien Rhythmen: "Ich stelle mir vor, dass seine inneren Räume am Ende so voll waren, / Dass er es nicht mehr aushielt... Der streitsüchtige, dunkelhaarige Mann / Mit den hohen Augenbögen / Hatte gesagt, was er zu sagen hatte". Dagegen lässt Nino Filastò all die kriminologischen Legenden über den "verfluchten Maler", den rauflustigen Tunichtgut mit schlechtem Umgang, den Homosexuellen und Mörder beiseite und fragt stattdessen, ob der Maler nicht vielmehr wie der schreibende Philosoph Giordano Bruno das Exil deswegen auf sich nehmen musste, weil er mit seinen Werken in einem Land Anstoß erregte, in dem die Gedankenfreiheit verfolgt und jene Menschen an den Pranger gestellt wurden, deren Lebenswandel allein dieser Freiheit verpflichtet war. Das wenige, was die Gerichtsvollzieher der kapitolinischen Justiz 1605 an Hab und Gut Caravaggios beschlagnahmten - und pedantisch auflisteten -, zeigt einen manisch von der Kunst Besessenen. Filastò beschäftigt sich mit den Mäzenen und Modellen des Malers, weist an einzelnen Werken nach, wie der Künstler das Sakrale mit dem Menschlichen zu verbinden wusste, manches zu menschlich, zu alltäglich und naturalistisch wurde, so dass viele Bilder keinen Eingang in eine Kirche fanden.

Warum darf nach Caravaggios "Geburt Christi mit dem heiligen Laurentius und dem heiligen Franziskus" (1609) nicht mehr gesucht werden? Florian Illies erzählt "die unmoralische Geschichte" vom raffinierten Diebstahl dieses Bildes 1969 aus dem Oratorio di San Lorenzo in Palermo (bereits Peter Watson hatte sich 1984 in seinem Kriminalroman "The Caravaggio Conspiracy" mit diesem Thema beschäftigt) und unterstellt ironisch, dass es jetzt von einem Mafiaboss seiner wahren Bestimmung zugeführt worden sei: Befreit von den glotzenden Touristenaugen kann es nun in stiller Einkehr bewundert werden. Das Bild steht auf Platz 3 der zehn weltweit meistgesuchten Kunstwerke des FBI, und Gerüchte über das Schicksal des Bildes gibt es unzählige. 2005 richteten sogar die Bürger von Palermo eine Petition an die Mafia und appellierten an ihre staatsbürgerliche Pflicht, Sizilien seinen nationalen Schatz zurückzugeben.

Das sind nur kaleidoskopartige Bruchstücke, herausgeschüttelt aus dem so facettenreichen Leben und Schaffen des Malers, der mit dem Blick des Psychologen das Innerste seiner - auch biblischen - Figuren erforschte und ihnen ihre ganze schmerzliche Menschlichkeit zurückgab. Aber sie machen neugierig, regen an, sich mit dem "ultimo classico" intensiver zu beschäftigen, und die eigenwilligen subjektiven Deutungen könnten nicht nur dem Kunst- und Literaturfreund, sondern auch manchem Wissenschaftler von Nutzen sein.


Titelbild

Maler, Mörder, Mythos. Geschichten zu Caravaggio.
Herausgegeben von Jean-Hubert Martin, Bert Antonius Kaufmann und dem Museum Kunst Palast, Düsseldorf.
Hatje Cantz Verlag, Ostfilden-Ruit 2006.
111 Seiten, 7,95 EUR.
ISBN-10: 3775718079

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