Keine Zeit

Leben in der Postmoderne

Von Eva LeipprandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Leipprand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um Agnes Bernauer vom Leben zum Tode zu befördern, musste man sie fünf Vaterunser lang untertauchen. Heute wird beim Uhrenkauf sekundengenaue Pünktlichkeit auf eine Million Jahre versprochen. So haben sich die Zeitmesser gewandelt.

In der Flut der Zeit-Veröffentlichungen, die zum Millennium erneut anschwillt, ist Karlheinz Geißlers Buch "Vom Tempo der Welt" eine anschaulich geschriebene Orientierungshilfe. Geißler gibt einen Überblick über den Wandel der Vorstellungen von der naturnahen Zeitorientierung der Vormoderne über das mechanistische Bild der Uhr in der Moderne bis zur Postmoderne mit ihren "vielfältigen und variablen Zeiten"; über den Wandel, bildlich gesprochen, vom Kreis über die in die Zukunft offene Linie bis zur "Ansammlung von Zeitpunkten" in der Art pointillistischer Gemälde. Auf die Simplifizierungen, die eine solche Einteilung mit sich bringt, wird im Vorwort hingewiesen. Schwerpunkt der Darstellung ist die Jetztzeit, unsere Zeit, für die es offenbar nur das schreckliche Etikett "Postmoderne" gibt.

Keine Zeit! Das ist das dominierende Gefühl am Ende des Jahrtausends. Dabei wird die Gegenwart, so Geißler, gekennzeichnet vom Verschwinden der Uhren aus dem öffentlichen Raum. Jeder lebt seine eigene Zeit, und dies ist kein Zufall. "Das mechanische Weltbild des Uhrwerkes, das die Berechenbarkeit, die Kontrolle und die Linearität zum Glaubensbekenntnis der Moderne gemacht hat, ist in seiner Produktivkraft erschöpft. Die geforderten und erwünschten kreativen Kräfte und Energien ... sucht man heute im Nicht-Linearen und eher bei widersprüchlichen und chaotischen Phänomenen." Auch die Zeitmoral ändert sich, Pünktlichkeit wird durch Erreichbarkeit ersetzt. Hinter Geißlers These, mit dem Erreichen der Lichtgeschwindigkeit bei der Datenübertragung sei das "Ende des Beschleunigungsprogramms" abgeschlossen, sei allerdings ein Fragezeichen gesetzt.

Bei der Beurteilung des Entwicklungsprozesses gibt sich Geißler zurückhaltend und ausgewogen. Das "große Emanzipationsprogramm der Moderne" von der Natur als "monopolistischem Zeitgeber" hatte seine Kehrseite: die Abhängigkeit vom menschengemachten Takt der Maschine. Das neue Schlagwort der Flexibilisierung macht uns zwar frei vom Takt der Maschine, zugleich aber, ob wir es wollen oder nicht, zu gestressten "Unternehmern unserer eigenen Lebenszeit". Die Errungenschaften sind zweischneidig: die Zeitsparmaschine Computer, die so viel Zeit kostet; die globale elektronische Vernetzung der Non-Stop-Gesellschaft, die uns in der Zeitzersplitterung isoliert.

Wichtig sind für Geißler bewusste "Schritte in eine andere Zeit-Kultur". "Zeitwohlstand" muß ein wichtiger Indikator für Lebensqualität werden. Statt auf kurzsichtige (und oftmals zerstörerische) Schnelligkeit zu setzen, sollte die Vielfalt unterschiedlicher Zeitmuster erkannt und produktiv gemacht werden. Und dann müssen wir den "Anschluß an unsere Leiblichkeit" wiederfinden. Wir sind und bleiben Naturwesen. Unser Interesse an dem Phänomen Zeit gründet in unserem "Sein zum Tode".

Seit zehn Jahren begleitet Geißler mit zahlreichen Veröffentlichungen das Projekt "Ökologie der Zeit" der Evangelischen Akademie Tutzing. In Anlehnung an den Prozeß der Agenda 21 versucht man dort, zu "intelligenter Mäßigung" aufzurufen und den "Schutz unterschiedlicher Zeitmaße und vielfältiger Zeitformen" zu sichern. Notwendigkeit und Nutzen der Neuorientierung hat Geißler überzeugend dargelegt.

Titelbild

Karlheinz A. Geißler: Vom Tempo der Welt. Am Ende der Uhrzeit.
Herder Verlag, Freiburg 1999.
219 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3451269775

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