Ein Vergleich ohne Konsequenzen

Anita von Raffays Annäherung an die Frage nach dem Gewissen ist von einer Antwort weit entfernt

Von Marcel SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 sei die Frage nach dem Gewissen neu ins allgemeine Bewusstsein gerückt, schreibt Anita von Raffay einleitend in ihrem Buch "Die Gewissensfrage in Psychoanalyse und Analytischer Psychologie". In diesen öffentlichen Diskurs will die Autorin einsteigen, indem sie zwei Gewissenskonzepte näher untersucht - nämlich das Konzept der Psychoanalyse in der Tradition Sigmund Freuds und das der Analytischen Psychologie in der Tradition Carl Gustav Jungs. Um ihren potenziellen Leserkreis zu erhöhen, adressiert Raffay ihr Werk nicht nur an den engeren Zirkel der praktizierenden Therapeuten, sondern zugleich auch an "jeden, der verstehen möchte, inwiefern Gewissen und Moral Kulturträger und Sozial- sowie Politikträger der menschlichen Gesellschaft sind". Dies freilich impliziert den unausgesprochenen Anspruch, mit der Untersuchung einen relevanten Beitrag sowohl zu einem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess als auch - dies im Hinblick auf die Erwähnung des "11. September" - zu einer gesamtgesellschaftlich bedeutenden Frage zu leisten. Diesen Anspruch freilich kann die Autorin nicht erfüllen.

Im ersten Teil kommt Raffay auf verschiedene Aspekte der Überich-Theorie zu sprechen, die in der Nachfolge Freuds entwickelt worden sind. Vor allem Edith Jacobson, Otto F. Kernberg und Joseph sowie Anne-Marie Sandler hätten das Überich-Konzept dabei auf den heutigen aktuellen Stand gebracht. Neben diesen setzt sich Raffay noch mit zahlreichen weiteren "Freud-Nachfolgern" auseinander, wie etwa Melanie Klein, John Steiner und Daniel Lagache. In kurzen Paragrafen werden ihre theoretischen Auseinandersetzungen mit der Gewissensfrage kurz umrissen - mehr freilich nicht. Zu den meisten Autoren gäbe es sicherlich mehr zu sagen. Im Gegenzug dazu wird der zweite Teil - die Gewissensfrage in der Analytischen Psychologie - mit der Feststellung eröffnet, die Analytische Psychologie habe insgesamt "relativ wenig zu diesem Thema publiziert". Warum Raffay in diesem Fall aber den Vergleich zwischen Psychoanalyse und Analytischer Psychologie hinsichtlich der Gewissensfrage forciert und zum Thema ihrer Arbeit macht, bleibt dem Leser freilich verborgen.

Vor diesem Hintergrund mag es nur wenig überraschen, dass der Vergleich eher dürftig ausfällt. Vielmehr kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier einfach zwei "psychologische Richtungen" anhand eines Gegenstandes "aufbereitet" werden, ohne dass sie mittels einer einschlägigen und konsequenten heuristischen Methode angemessen verglichen und aufeinander bezogen werden würden. So hätte eine vorangestellte Diskussion des Gewissensbegriffes der Arbeit ebenso gut getan wie entscheidende Vorüberlegungen zu einer möglichen Methode. Leider erscheinen die Kapitel des Buches (ebenso im Übrigen wie die Unterkapitel) eher zusammenhanglos und verloren. Dieser Eindruck verstärkt sich in dem Kapitel "Das Überich in literarischen Beispielen". Hier werden in Freud'scher Manier literarische Werke zur Illustrierung psychologischer Sachverhalte und Fragen "degradiert" und sowohl knapp als auch aspektmonistisch nacherzählt. Ihre Bedeutung für die Leitfrage bleibt dabei völlig unklar. Dies freilich mag nur wenig überraschen, denn immerhin: Auch die Leitfrage selbst ist völlig unklar.

Im letzten Kapitel versucht sich Raffay dann doch noch an einem Vergleich von Psychoanalyse und Analytischer Psychologie - ein Vergleich, der mit etwa 30 Seiten sehr knapp ausfällt und sich im Großen und Ganzen auf die Differenzen zwischen Freud und Jung konzentriert. Für die Psychoanalyse liege der Ursprung des Gewissens "in der Sorge um die Liebe des Objekts und der entsprechenden Dankbarkeit gegenüber den Objekten." Für Jung jedoch sei "das Gewissen einfach vorhanden, es gibt keinen Grund für seine Entstehung".

Am Ende schließt Anita von Raffay mit dem Bekenntnis, dass Gewissen für sie als ein dynamischer Prozess zu verstehen sei, "der eine konstante Arbeit bedeutet, die jeder Mensch täglich neu zu leisten hat". Dafür freilich hätte es jenes Vergleiches zwischen Psychoanalyse und Analytischer Psychologie - der im Bestfall als eine zu verkürzte Einführung oder Aufforderung zur Einarbeitung in die Gewissensfrage gelten kann - nicht bedurft. Raffays "Neue Untersuchung einer alten Wunde" kommt leider nicht zu neuen Erkenntnissen.


Titelbild

Anita von Raffay: Die Gewissensfrage in Psychoanalyse und Analytischer Psychologie.
Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 2005.
226 Seiten, 52,00 EUR.
ISBN-10: 3772823718

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