Schnell ein- und ausgelesen

Der Brigitte-Kronauer-Reader

Von Katrin A. SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin A. Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Reader sei ein Buch mit Auszügen aus der Literatur und verbindendem Text, sagt der Duden. Benutzt wird die Bezeichnung aber oft pejorativ für schlechte Kopien, wird assoziiert mit oberflächlichem Lesen. Daher wundert es nicht, dass sich Brigitte Kronauer über die zunächst geplante Benennung des Bandes als 'Reader' energisch gewehrt haben soll. Das sei ein allzu "unsympathischer Begriff". Gegen die Auswahl der Textauszüge und ihr erneutes Erscheinen hat sie jedoch nichts ausrichten können. Zusammengestellt anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises 2005 liegt mit "Feuer und Skepsis" ein Buch vor, das auch dem letzten Leser das Werk Kronauers zugänglich und schmackhaft machen soll. Dass das aber immer auch ein gefährliches Unterfangen ist, das richtig schief gehen kann, hat nicht zuletzt das Christa-Wolf-Lesebuch gezeigt. Es reicht noch nicht aus, einfach alte Texte neu zu veröffentlichen, um geneigte Leser zu gewinnen.

Bei "Feuer und Skepsis" liegt der Fall aber anders. Bereits der provozierende Titel steht für Kronauers literarische Intention, für das, was sie mit Literatur erreichen will: nämlich avantgardistisches Schreiben, wie sie in einem "dpa"-Interview bekennt. Zugleich erhebt sie den Anspruch, dass ihre Literatur "den treuesten und streng fordernden Freund des Individuums darstellen" soll. Tatsächlich erweist sich das wilde Konglomerat als Dokument eines Funken sprühenden und zugleich logisch zweifelnden Geistes. Dass der Band trotz der Namensänderung in "Einlesebuch" gerne als einführender Reader zu ihrem Werk benutzt wird, zeigt sein eingebürgerter Gebrauch in der akademischen Lehre.

Was ist also das Besondere an diesem Lesebuch, das es so sehr von anderen unterscheidet? Auf den ersten Blick bietet sich dem Leser ein enormes Spektrum von Texten und Textgattungen. Von Essays und Romanauszügen über Vorträge ist alles vertreten. Als Querschnitt des Kronauer'schen Schaffens bilden die thematisch geordneten Texte in sehr unterschiedlicher Länge ein buntes Mosaik. Auch die gelungene Einführung der Herausgeberin Elisabeth Binder ist eine schöne und zugleich dezente Hilfestellung. Außerdem tröstet sie darüber hinweg, dass man sich als Leser von der "interpretierenden Ordnung" der Texte "gegängelt vorkommen" könnte. Es ginge vielmehr darum, einen Gedanken über die Gattungsgrenzen hinweg zu verfolgen.

Die gewaltig erzählende Kronauer nimmt den Leser, der sich mit ihren Texten befasst, mit auf eine Reise durch den Alltag. Sie schafft es - ohne kitschig zu werden - das Kleine und Alltägliche wortgewandt zu fassen und in einen Text einzuschließen, damit es nicht verloren gehe. Sie zeigt sich als genaue Beobachterin des Menschseins. Besonders prägnant wird das in "Willi Wings in seiner Apotheke", einem Auszug aus dem 1994 erschienen Roman "Das Taschentuch". Hier ist der Textausschnitt so glücklich ausgewählt, dass die wenigen Seiten den Leser schon tief in das Geschehen entführen. Der Blick auf den Apotheker in weißem Kittel wird zu einer Charakterstudie, die die Wirklichkeit einer Apotheke peinlich genau zeigt, ohne in langatmigen Realismus zu verfallen. Nicht ganz so gelungen ist hingegen die Auswahl manch anderer Texte. Der Auszug aus "Tierlos" zu Elias Canettis Tierbuch beispielsweise fällt so knapp aus, dass man ihn außerhalb seines Kontextes nur schwer verorten kann. Ihre poetologischen Überlegungen hingegen kommen nicht zu kurz, als dass man sich nicht ein Bild davon machen könnte. "Das Geschichtenmuster schützt und beherbergt unsere Erinnerungen", schreibt sie im Kapitel "Die Wirklichkeit und die narrativen Tricks".

Es geht ihr nicht um das Auffinden einer definitiven Wahrheit - wie sollte das auch gehen? Die Philosophie der Skepsis lehrt ja gerade diese Unmöglichkeit. Und dass sie als plakativ-programmatische Überschrift zum Band auch Kronauers Werk wie eine Klammer umspannen soll, zeigt der kurze Textausschnitt aus "Ist Literatur unvermeidlich?".

Der Proust'sche Fragenbogen aus der "FAZ", den sie 1987 beantwortete, zeigt die Autorin in hellen Schlaglichtern. Er verweist auf die reale Person Kronauer, die hinter den Texten steht. Ihr Motto, zu dem sie sich dort bekennt, ist ein altdeutscher Spruch: "Ich hab ein Maul, dem geb ich zu fressen, das muß reden, was ich will." Es ist anzunehmen, dass sie es mit ihren Fingern und dem Schreiben auch so hält. Ihrem Schreiben liegt eine "vertrauenerweckende Menschlichkeit" zugrunde, worauf Elisabeth Binder im Vorwort ausdrücklich hinweist. Und das ist alles andere als unpolitisch. Den Mensch ins Zentrum des Interesses zu stellen und ihn wieder zu einem Zweck an sich zu machen, fordert auch Konsequenzen in der Realität, nicht nur in der Fiktion. Kronauers Austritt aus dem PEN im Oktober 2005 ist so eine Reaktion. Sie will sich nicht für das politische System instrumentalisieren lassen und bezieht gerade dadurch Position.

"Feuer und Skepsis" vereinigt derart viele Texte auf kurzem Raum, dass das 'Readerartige' dem Buch tatsächlich nicht einmal abgesprochen werden kann. Dennoch gelingt es der Auswahl auf weiten Strecken, die Gefahren eines solchen Lesebuchs zu umschiffen, nicht zuletzt durch die thematische Gliederung, die die großen Themen Kronauers übersichtlich präsentiert. "Feuer und Skepsis" ist das, was es sein will: Ein buntes "Kaleidoskop", das durch das Einlesen in das weitgefächerte Werk Brigitte Kronauers neugierig macht, die Texte wieder vollständig zur Hand zu nehmen und zu lesen.


Titelbild

Brigitte Kronauer: Feuer und Skepsis. Einlesebuch.
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Elisabeth Binder.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005.
231 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3608937285

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