Kein Sommermärchen

Frederick Weinsteins "Aufzeichnungen aus dem Versteck" schildern die autobiografischen "Erlebnisse eines polnischen Juden 1939-1946"

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eben noch waren in Polen Sommerferien, und die Schüler haben fröhlich Sonnenblumen gepflückt. "Das ist vielleicht läppisch und nicht erwähnenswert", wendet Frederick Weinstein in seinen "Aufzeichnungen aus dem Versteck. Erlebnisse eines polnischen Juden 1939-1946" ein, "aber in meiner Erinnerung verbinden sich diese Vorgänge sehr eng mit den ersten Nachrichten vom Ausbruch dieses fatalen Krieges, und deshalb muß ich, ob ich will oder nicht, davon erzählen."

Kaum jemand ahnt am Vormittag des 1. Septembers 1939 in Polen, welche Hölle schon in wenigen Stunden über alle Bürger - und besonders die Juden - hereinbrechen wird. Der Zweite Weltkrieg beginnt, die Deutschen kommen, und in Weinsteins Aufzeichnungen, die er in einem dunklen Warschauer Kellerversteck jenseits der Gettomauern am 9. Juni 1944 als 22-Jähriger begann, heißen sie "Germanen", "Barbaren", "Hunnen" oder auch schlicht "Schwaben" (szwab/szwaby ist eine in Polen verbreitete pejorative Bezeichnung für die Deutschen).

Weinsteins Erinnerungen sind eine einzigartige Quelle, ein unschätzbares Dokument und noch dazu so detailgetreu geschrieben, dass man den Text sofort in der Schule lesen lassen könnte, ja müsste: "Es ging und geht Fred Weinstein um Genauigkeit, Anschaulichkeit und Verständlichkeit", erklärt die Übersetzerin Jolanta Wózniak-Kreutzer in ihrem Vorwort der vorbildlich kommentierten Edition. "Handlungen sollen nachvollzogen und Gefühle, wenn irgend möglich, nachempfunden werden können".

Es ist jedoch kaum fassbar, unter welchen lebensbedrohlichen und unmenschlichen Bedingungen Weinstein seinen Text verfasste. In einem winzigen, lichtlosen Raum vegetierte er zusammengepfercht mit seinen Eltern und schrieb seine Rückschau auf die vergangenen fünf wie durch ein Wunder überlebten Jahre auf Altpapierbögen nieder. Ermutigt von der Nachricht der beginnenden Invasion der Alliierten begann er auf eine Zukunft zu hoffen und wollte Zeugnis ablegen, zu Ehren "der stillen Helden [...], die aus den Händen der Hunnen des 20. Jahrhunderts einen furchtbaren Tod empfingen".

Einmalig an der mit finanzieller Hilfe der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur realisierten Ausgabe ist, dass ihr Verfasser noch lebt. "Das ist etwas Besonderes", bemerken die Editorinnen Barbara Schieb und Martina Voigt in ihrer Einleitung. "Denn die bekannten, noch in der Zeit des Holocausts abgefassten autobiografischen Schriften von Juden stammen zumeist von Autoren, die den Völkermord nicht überlebt haben - man denke an Anne Frank, die 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen kurz vor der Befreiung starb."

Die Historikerinnen konnten nicht zuletzt mit Hilfe des Autors einen akribischen Fußnotenapparat erstellen, der die heutigen Lesern möglicherweise unwahrscheinlich vorkommenden Gräuel, von denen Weinstein berichtet, genauer datiert und Punkt für Punkt belegt: "Frederick Weinstein begleitete den Editionsprozeß von Anfang an und stellte sich während dreier persönlicher Begegnungen und in kontinuierlichem E-Mail-Verkehr den von ihm oftmals als endlos empfundenen Fragen", heißt es im Vorwort. "Er war an mehreren Tagen im Oktober 2002 zu einem sechzehnstündigen lebensgeschichtlichen Interview in New York bereit", das in die historiografischen Kommentierungen seiner Aufzeichungen mit eingeflossen sei.

Dabei muss man sich klarmachen, dass der Autor das Manuskript sein Leben lang sorgfältig aufbewahrt hatte, ohne die Kraft zu haben, seine Handschrift auch nur längere Zeit anzusehen. Dadurch drohten die furchtbaren Erlebnisse, von denen er sich nach Kriegsende emotional hatte distanzieren können, wieder hochzukommen. War der rauschhafte Schreibprozess, den Weinstein selbst als "outburst" und Hilfsmittel zur mentalen Selbsterhaltung im Versteck erinnert, Teil seines Überlebenskampfes, so war ihm ein späterer Rekurs auf die festgehaltenen Traumata kaum noch möglich: "Erst nach fast sechzig Jahren willigte er ein, die Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zu übergeben", schreiben die Herausgeberinnen. "Die enorme seelische Anstrengung, die dies für ihn bedeutet, sollte auch der Leser nicht vergessen."

Der Duktus des Überlebensberichts ist in Anbetracht der grauenhaften Erlebnisse, die er wiedergibt, erstaunlich stringent. Die Erzählung baut dabei eine Atmosphäre permanenter und qualvoller Lebensbedrohung auf, die für den Leser manchmal kaum zu ertragen ist. "Als ich damals die Ereignisse beschrieb, fast zeitgleich oder nur kurze Zeit später, da stoben die Worte nur so aus meinem Kopf heraus", erinnert sich Weinstein im Frühjahr 2006, "und ich stand noch völlig unter dem Eindruck all der Greuelszenen und des menschlichen Leidens um mich herum". "Im ganzen haben die Überprüfungen gezeigt", ergänzen die Kommentatorinnen im Vorwort, dass Weinstein "seine Aufzeichnungen mit großer Präzision und Wahrheitsliebe geschrieben hat". Diese Authentizität der geschilderten Ereignisse zieht den Leser atemlos durch den Text, und oft blättert man zum Anhang vor, um weitere Quellenbelege für die erinnerten deutschen Kriegsverbrechen fassungslos zur Kenntnis zu nehmen.

Weinstein beschreibt die kopflose Flucht seiner Familie vor der heranrückenden deutschen Wehrmacht. Schon in der ersten Nacht nach Beginn der Invasion gerät sie auf der überfüllten, größtenteils von hilflosen Zivilisten verstopften Straße in ein Bombardement deutscher Kampfflieger. "Nach der ersten Explosion entstand ein unbeschreibliches Chaos, die Bombe war etwa 120 Meter von mir entfernt direkt neben der Straße eingeschlagen [...]. Die Detonation war sehr stark, eine mächtige Säule aus Schutt und Steinen schoß auf, mehrere Dutzend Meter hoch, als wäre ein Vulkan ausgebrochen, und zwischen den Erdmassen konnte man Zweige und Äste, Deichseln und Wagenräder und menschliche Gliedmaßen erkennen."

Spätestens bei der wenig später folgenden Beschreibung - in der Weinstein von einem Erlebnis auf der Landstraße nach Lódz berichtet, als er und seine erschöpfte Familie an betrunkenen Volksdeutschen vorbeikommen, die die von ihnen mit Wodka abgefüllten Wehrmachtssoldaten anfeuern, den vorbeilaufenden Juden etwas anzutun - wird die Lektüre beinahe unerträglich. Man kennt die Fotos lachender NS-Rekruten, die Juden umringen, um ihnen höhnend den Bart und die Haare abzuschneiden - aber ein solches Erlebnis aus der persönlichen Perspektive eines Opfers heraus hautnah geschildert zu bekommen, macht seine vollkommene Hilflosigkeit gegenüber den zynischen Späßen betrunkener deutscher Massenmörder in seltener Weise nachfühlbar. Bei Weinstein ist das alles nur der Auftakt; es sind die ersten Schocks, die dem Erzähler klar machen, dass er wahrscheinlich bald getötet werden wird. In seinem Bericht aber geht der Alptraum immer weiter.

Im Grunde müsste man die ersten Abschnitte dieses 1945 aus den Trümmern des zerbombten Warschauer Verstecks geretteten Konvoluts komplett zitieren. Man sollte aus Weinsteins Buch in Deutschland auf einer Lesetour öffentlich vortragen, um ein Gegengewicht gegen die Guido-Knopp-mäßige Propaganda für eine aufrechnende Betrauerung deutschen Opfertums zu setzen, die den Diskurs deutscher Erinnerungspolitik neuerdings wirkungsmächtig bestimmt. Statt pompöser, mit Millionenbudgets verfilmter Einfühlungen in den "Untergang" Adolf Hitlers und seiner Entourage, die die Massen vom Schüler bis hin zum Universitätsprofessor begeistert in die Kinos strömen lassen, sollte man die vergilbten Tintenzeilen von Opfern wie Weinstein wenigstens einmal in deutschen Bildungsanstalten zur Kenntnis nehmen, um ihnen zu ihrem historischen Recht verhelfen.

Auch ein viel gelobter Faktencollageur wie Walter Kempowski, der in seinem neuen Roman "Alles umsonst" (2006) von der deutschen Flucht aus Ostpreußen berichtet, sollte Weinsteins Erinnerungen unbedingt lesen. Vielleicht führt eine solche Lektüre ja dazu, dass er sein nächstes Buch den Verbrechen widmet, die der sowjetischen und alliierten Befreiung des nationalsozialistisch besetzten Territoriums voraus gingen und alles Spätere auslösten: Bei Weinstein jedenfalls wird das maßlose und nicht enden wollende Entsetzen plastisch, das der beginnende deutsche Vernichtungskrieg nach Polen brachte, um seine blutige Spur bis tief in die Sowjetunion hinein zu ziehen und Millionen von Menschen als Sklaven zu schinden, zu foltern und schließlich auszulöschen.

Weinsteins Erinnerungen sind ein Meilenstein der Literatur Shoah-Überlebender. Sie stehen - allein schon aufgrund ihrer abenteuerlichen Entstehungs- und Tradierungsgeschichte - auf einer Ebene mit Berichten und Büchern wie denen Tadeusz Borowskis, Primo Levis, Imre Kertész' oder auch Edgar Hilsenraths. Gewiss: Weinstein ist kein professioneller Schriftsteller, der sich mit zeitlichem Abstand der bedachtsamen literarischen Aufarbeitung seiner Traumata stellte. Weinstein schrieb seine Erlebnisse unmittelbar auf, um durchzuhalten. Und er wollte seine Notizen lieber überleben, "als dass sie mich überleben - und dann weiterexistieren als Symbol dieses elenden Daseins", wie er 1944 ein der Einleitung zu seinen Notizen notierte. Weinstein verfasste seine Erlebnisse inmitten der Shoah mit dem Anspruch, ein wahrhaftiges Zeugnis vom Leid seiner Mitmenschen, von sich und seiner Familie zu geben - nicht mehr und nicht weniger.

Besonders aber ist in seiner Schrift die - am Ende fast nur noch stichwortartige - Direktheit, mit der der Autor seinen Leidensweg geschildert hat.


Titelbild

Frederick Weinstein: Aufzeichnungen aus dem Versteck. Erlebnisse eines polnischen Juden 1939-1946.
Herausgegeben und mit einem Kommentar versehen von Barbara Schieb und Martina Voigt.
Übersetzt aus dem Polnischen von Jolanta Wozniak-Kreutzer.
Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2006.
578 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3936872708

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