Zwischen Klappentext und Feuilletonartikel

Mit seinen Rezensionsabstracts hat "Perlentaucher.de" eine lukrative Nische gefunden - zum Schaden des Literaturjournalismus'?

Von Janina HuftRSS-Newsfeed neuer Artikel von Janina Huft und Nicole WeideRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicole Weide

"Wer taucht, kann doch gar nicht untergehen", sagte Thierry Chervel vor der Urteilsverkündung durch das Frankfurter Landgericht. Zwei große Zeitungen, die F.A.Z. und die "Süddeutsche", hatten gegen sein kleines Online-Kulturmagazin "Perlentaucher.de" geklagt. Sie werfen ihm Meinungsdiebstahl vor, sie fürchten um den klassischen Kulturjournalismus und um ihre Leserschaft. Grund genug also, ein Exempel zu statuieren.

Was "Perlentaucher.de" Böses getan hat? Aus Sicht der beiden Zeitungsverlage hat er Urheber- und Wettbewerbsrechte verletzt. Zum Geschäft des eifrigen Online-Unternehmens gehört es, die in den beiden großen Feuilletons täglich erscheinenden Buchkritiken für die eigene Datenbank zu so genannten Abstracts zusammenzufassen - ohne weitere Interpretation und Wertung. Diese Kurzfassungen verkauft "Perlentaucher.de" auf eigene Rechnung an den Online-Buchhändler "buecher.de", wo sie direkt neben den ausführlichen Besprechungen der beiden Zeitungen zu finden sind.

Die Angst der Dinosaurier

Die Frage, die sich für die Frankfurter Richter stellte: Ersetzt das Lesen eines solchen Abstracts das Lesen des eigentlichen Feuilletonartikels? Das befürchtet die F.A.Z. - und noch mehr: Sie könnte durch derlei Exzerpte Leser verlieren. Das ist der Horror eines jeden Zeitungsverlages. Gegen die tägliche Zusammenfassungen der Feuilletonartikel im Hauptprogramm der "Perlentaucher.de"-Website habe man gar nichts, solange diese Kurzfassungen nicht kommerziell genutzt würden, erklärt die F.A.Z.. Und sieht einen klaren Fall von Konkurrenz. Chervel jedoch ist anderer Meinung: Bis heute versteht er nicht, wie "Perlentaucher.de" mit seiner irrelevanten Größe Unternehmen wie die F.A.Z. und die "Süddeutsche" schädigen können soll.

Die Idee eines Online-Kulturmagazins entstand 1999: Während des ersten Internet-Hypes entschlossen sich Chervel, Anja Seeliger, sein Bruder Niclas und andere zur Gründung von "Perlentaucher.de". Seit März 2000 ist die Seite im Netz. Ihr Kernprodukt: Allmorgendlich bringen findige Redakteure Licht ins Dunkel des Feuilletondschungels. Für Kulturinteressierte werten sie die interessantesten Artikel der großen deutschen Feuilletons aus und fassen sie kurz zusammen. Schlüsselbegriffe sind hervorgehoben, und Links führen den Leser - wenn möglich - zu den Originalbeiträgen. Am frühen Nachmittag folgt die "Bücherschau des Tages", eine Übersicht der frisch rezensierten Bücher, aus der "Perlentaucher.de" eben jene Datenbank speist, in der sich mittlerweile mehrere tausend Einträge zu Buchkritiken der großen deutschen Zeitungen finden.

Das Magazin ist einzigartig im deutschsprachigen Netz. 600.000 Besucher, zumeist mit Studienabschluss und überdurchschnittlichem Einkommen, nutzen das Angebot der kleinen Berliner Redaktion, Tendenz steigend. 2003 nannte die Jury des Grimme-Online-Awards "Perlentaucher.de" treffend ein "Journal der Journale" und zeichnete die Seite für die beste Idee und Konzeption im Bereich Medienjournalismus aus. "Fein und uneitel gestaltet" sei der Internetauftritt, und das Wort stehe stets im Vordergrund, lobten die Juroren.

2005 ging die englischsprachige Schwesterseite "signandsight.com" mit Hilfe von Geldern der Kulturstiftung des Bundes an den Start. "Perlentaucher.de" selbst finanziert sich hingegen nicht aus öffentlichen Mitteln, sondern durch Werbung auf der Website und in den eigenen Newslettern - und eben auch durch den Verkauf der zusammengefassten Buchrezensionen an "buecher.de".

Im November wies das Frankfurter Landgericht die Klage der Zeitungen ab und erklärte, dass die "Perlentaucher.de"-Abstracts weder gegen das Urheber-, das Wettbewerbs-, noch gegen das Markenrecht verstoßen. Das Lesen der Buchbesprechungen sei mit dem Lesen der Feuilletonartikel nicht grundsätzlich gleichwertig, befinden die Richter. Jedoch: "Ob ein Abstract den Originalbeitrag zu ersetzen vermag, hängt nicht nur von objektiven Umständen, sondern ganz wesentlich von den subjektiven Bedürfnissen der Leser ab."

Dem Leser bleibt es also auch in diesem Fall selbst überlassen, wie ausführlich er sich informieren möchte. Und der "Perlentaucher.de" kann seine Suche nach literaturjournalistischen Perlen fortsetzen. Vorerst. Denn nicht ganz unerwartet geht der Rechtsstreit 2007 in die nächste Runde. Im Januar legten F.A.Z. und "Süddeutsche" beim Oberlandesgericht Frankfurt Berufung ein. Bei "Perlentaucher.de" macht man sich auch diesmal keine großen Sorgen: Wer taucht, kann ja bekanntlich nicht untergehen.

Aber wie steht es mit der Sorge der Printmedien um den Kulturjournalismus - ist die begründet? Kann die Buchnotiz tatsächlich einen Feuilletonartikel ersetzten? Glauben F.A.Z. und "Süddeutsche" wirklich an einen Rückgang ihrer Leserschaft? Zumindest die Möglichkeit besteht. Denn welcher Internet-Nutzer geht zum nächsten Kiosk, um die F.A.Z. zu kaufen, wenn die neuesten Nachrichten und Informationen nur den berühmten einen Mausklick entfernt sind? Umdenken heißt das Stichwort für die Medienhäuser.

Unsere großen deutschen Zeitungen sollten das Internet vielmehr als Chance begreifen, ihre Bekanntheit noch weiter zu steigern und ein noch breiteres Publikum zu erreichen. "Perlentaucher.de" gehört zu jenen neuen journalistischen Angeboten des World Wide Web, die sich auch in Zukunft weiter verbreiten werden. Auf unnachahmliche Weise macht er klar, dass das flüchtige, temporeiche Medium und der Kulturjournalismus einander nicht ausschließen müssen. Mit seinem Grundsatz "In der Kürze liegt die Würze" versteht es das Magazin, auf seiner Suche nach literaturjournalistischen Perlen die wichtigsten Informationen auf den Punkt zu bringen und passt sich somit der Mentalität einer rastlosen Gesellschaft an. Unbeantwortet bleibt jedoch weiter die Frage nach den eigenen Bedürfnissen des Lesers: Klickt er sich in Sekundenschnelle von Text zu Text oder genießt er den Feuilletonteil lieber bei einer Tasse Kaffee am Frühstückstisch?