Arbeit am Mythos Mann

Ein Band der "Thomas-Mann-Studien" bezeugt den Nachruhm

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Gedenkjahr 2005, aus Anlass von Thomas Manns 50. Todestag, bot nicht nur der Mann-Gemeinde vielfältige Anlässe zu loben und zu rühmen. Nicht nur Thomas Manns war zu gedenken, Walter Kempowski war als Thomas-Mann-Preisträger zu ehren, der jungen Wissenschaftlerin Regine Zeller wurde für ihre Magisterarbeit der Förderpreis der Thomas-Mann-Gesellschaft zuerkannt, zudem wurde 2005 Robert Gernhardts Ausstellung "Das Randfigurenkabinett des Doktor Thomas Mann" eröffnet.

Insgesamt 21 Beiträge, die auf diese Ereignisse Bezug nehmen, enthält der Band: Laudationes und Danksagungen, Gedenk- und Eröffnungsreden, autobiografische und wissenschaftsgeschichtliche Resümees. Man könnte versucht sein, nach der Legitimation einer solchen Zusammenstellung ausgerechnet in der Buchreihe der "Thomas-Mann-Studien" zu fragen. Es wäre auch denkbar, in beckmesserischer Manier nach dem wissenschaftlichen Erkenntniszuwachs zu fahnden, den dieser Band dem Leser und Kenner Thomas Manns zu bescheren in der Lage sei; man könnte schließlich sogar dem Vorurteil erliegen, dass eine Dokumentation des unbestrittenen und auch bedingungslos anzuerkennenden Nachruhms dieses großen Schriftstellers eine wenig erquickliche Lektüre sei, zumal so manches Argument der Mann'schen Selbstkanonisierung längst bekannt ist.

Die Wirklichkeit sieht anders aus: Das Studium der Festrede, die Analyse von wissenschaftlichen Kolloquiumsbeiträgen zu Person und Werk eines so 'angesagten' wie überhaupt exemplarischen Autors wie Thomas Mann sagt manches über das literarische Leben von heute und seine glücklicherweise immer noch vorhandene Verquickung zwischen Wissenschaft und Literatur aus. Zu lernen ist aus diesem Band, wie im 21. Jahrhundert ein klassisch gewordener Autor gefeiert wird. Ist doch Thomas Mann erst jetzt, um und nach 2000, tatsächlich jener ,Nationalschriftsteller' geworden, von dem seine Texte immer schon reden, der er aber als von wechselnden Mehrheiten zu Lebzeiten Ungeliebter tatsächlich nicht war. Nun scheint Thomas Mann jener tote Dichter zu sein, auf den alle an Literatur Interessierten sich einigen können. 'Thomas Mann 2005' zeigt, was im literarischen Betrieb zwischen dem Purismus des Lesens und Verstehens und den Zwängen des Medienbetriebs an Kompromissleistungen möglich ist.

Die Inszenierung des Gedenkjahrs und auf zweiter Stufe die Inszenierung des Gedenkbandes, repräsentativ von der Beiträgerliste über den rhetorischen Ehrgeiz der Texte bis hin zur Bebilderung, machen uns zu Zeugen eines Kanonisierungsvorganges, der längst Züge der Eigendynamik angenommen hat. Der vom scheidenden und vom neu gewählten Präsidenten der Thomas-Mann-Gesellschaft, Ruprecht Wimmer und Hans Wißkirchen, herausgegebene Band ist daher auch weniger zu kritisierendes Buch als vielmehr respektable Urkunde in einem Diskurs, der mit 'Nachruhm' völlig korrekt bezeichnet ist.

Versammelt ist - wieder einmal - Thomas Manns Familie: Der Autor erscheint seit den neunziger Jahren und verstärkt seit Heinrich Breloers Fernsehfilm als Agent und Zentrum eines Familien-Beziehungsnetzes, das es vielen Protagonisten erlaubt, sich zugehörig zu fühlen. Hier nun sind es Nachfolger und Nachfahren, die sich zu Wort melden: der Bürgermeister der Heimatstadt und der oberste Repräsentant Deutschlands, sodann mit Marcel Reich-Ranicki und Walter Kempowski noch einmal Vertreter aus der Generation der Söhne, die in Thomas Manns Spuren gehen wie dieser selbst in denen Goethes.

Da ist ein ironischer Künstler wie Robert Gernhardt, vor allem aber sind Wissenschaftler und Publizisten aus den Generationen der Enkel und der Urenkel versammelt. Zu den Enkeln wären (neben dem leiblichen Enkel Frido Mann) all diejenigen zu rechnen, die bald nach Thomas Manns Tod noch frühe Sachwalter seines Erbes waren und die teils auch die Forschung zu Thomas Mann mit begründeten. Selbst wenn sie vor allem mit autobiografischen Rückblicken vertreten sind, erfährt der Leser aus der Vorgeschichte von Manns Nachruhm sehr viel Neues. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte sind die Aufsätze von Manfred Dierks, Hermann Kurzke, Hans Rudolf Vaget und vor allem Eckhard Heftrich, da sie Entscheidungen über den Weg der Erforschung von Manns Texten aus den jeweiligen Biografien heraus endlich verstehbar machen. Kontexte und Ausgangsbedingungen sind die vor allem in Westdeutschland verbreitete Ablehnung gegenüber Mann sowohl in der unmittelbaren Nachkriegszeit als auch dann nochmals in den post-68er-Jahren oder die Philologisierung der Mann-Rezeption im Gefolge der Eröffnung des Thomas-Mann-Archivs.

Der Band belegt auch einen Generationswechsel, denn die Urenkel dürfen nun eine reiche Ernte einfahren: Thomas Sprecher als Leiter des Zürcher Thomas-Mann-Archivs und Hans Wißkirchen als Begründer und Leiter des Lübecker Buddenbrook-Hauses sowie Präsident der Thomas-Mann-Gesellschaft sind Akteure in einer Erfolgsgeschichte, deren fast notwendige Konsequenz der Festakt in der Lübecker Marienkirche mit dem Bundespräsidenten als Gedenkredner nun einmal ist.

Der Thomas Mann, von dem in diesem Buch immer wieder die Rede ist, ist ein Autor der Grenzüberschreitungen und zugleich ein Meister der Integration - nicht etwa jemand, der polarisiert. In ihm finden sich Opfer und Täter gleichermaßen wieder, er ist noch in seinen offenkundigen Fehlern, allzu deutlichen Spuren des Antisemitismus etwa, einer, dem man verzeihen möchte. Er ist nachgerade in Lübeck immer wieder ein Heimkehrer, ein verlorener Sohn, wie der des Lukas-Evangeliums oder wie der Jaakob des Alten Testaments, der nun allerdings nicht vom Vater, sondern von den genealogischen Nachfolgern mit offenen Armen empfangen wird.

Sechzehnmal auf vier knapp vier Druckseiten fällt in Horst Köhlers Festrede der Begriff 'Kultur'. Mann ist nun endlich, so Thomas Sprecher wohl ebenfalls zurecht, Goethes Nachfolger geworden, und dennoch sind die Absatzzahlen seiner Bücher grandios. Der Band reizt mithin zum Nachdenken über die Dialektik (nicht etwa: die Alternative) von mythischer Projektion und wissenschaftlicher Anschlussmöglichkeit an Texte und Mythen, die mit dem Namen Thomas Mann signiert sind.

Sich über all diese Thomas-Mann-Bilder der Gegenwart kritisch zu informieren, ist die Aufgabe jedes an Manns Texten ernsthaft Interessierten. Warum sollte verschwiegen werden, dass wir alle im Bann des Zauberers stehen? Sogar Polemik könnte erlaubt sein: sie würde dem großen Mann am Ende weniger schaden als allzu ungeteiltes Lob.


Titelbild

Ruprecht Wimmer / Hans Wißkirchen (Hg.): Vom Nachruhm. Beiträge zur Lübecker Festwoche 2005.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2007.
278 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783465035275

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