Selbsterlebensbeschreibung
Konrad Wünsches "Galerie der Anthropologie"
Von Rolf Löchel
Es gibt Bücher, die lassen sich nicht so ohne weiteres einem bestimmten Genre oder einer Textsorte zuordnen. Oft sind gerade sie besonders originell und darum lesenswert. Doch nicht immer. Ein solches Buch, das sich der Kategorisierung weithin entzieht, hat nun auch Konrad Wünsche publiziert. Im Untertitel stellt er es als "eine Galerie der Anthropologie" vor. Im Text spricht der Autor allerdings ebensowohl von einem Buch, das "Menschenzerrbilder" nachzeichne, "Macht und Rang der Selbstverkennung" erörtere und zugleich eine "Selberlebensbeschreibung" sei. Denn mit seinem Vorhaben, "anthropologische Defigurationen" zu sammeln, zu untersuchen und zu vergleichen, will Wünsche "besonders Erinnerungen aus [s]einer Lebensgeschichte erwecken". Der Text oszilliert also nicht nur zwischen anthropologischem Versuch, Bild- und Porträtinterpretationen sowie einer Autobiografie, sondern verknüpft darüber hinaus ein sich wissenschaftlich gerierendes Vorhaben unter Verwendung eines religiös konnotierten Begriffes mit einem persönlichen (Selbst-)Zweck.
Eine Untersuchung, wie der Autor meint, hat er allerdings kaum zustande gebracht. Und dies nicht nur, weil er seine Zitate partout nicht nachweisen will. Schwerer wiegt noch, dass Argumentationen und Beweisführungen nicht eben seine Sache sind. Zumeist zumindest. Argumentativer und so verständlicher befasster sich der Autor mit den Gegenständen seines Interesses nur dann und wann, etwa mit Totenmasken oder mit Kinderkarikaturen des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls wäre es wohl zutreffender, seinen Text ein Essay, einen Versuch zu nennen.
Ähnlich ge- und verdrechselt, wie die Zusammenstellung der Themen und Inhalte des Buches ist der Stil, dessen sich Wünsche befleißigt: nicht kunstvoll, sondern artifiziell und manches im Ungewissen lassend. Letzteres hat seine Ursache nicht zuletzt in einem gespreizt daherkommenden Obskurantismus, der auch beim geneigtesten Leser nach nicht allzu langer Zeit eine gewisse Abneigung gegen den Text evozieren dürfte. Zur Verdeutlichung nur ein einziges, dafür aber etwas längeres Zitat: "Ja, versuche du, ein Mensch zu werden! Wer Mensch geworden, er wird auch ohne uns verstehen, was ihm not tut: lieben oder glauben und auf welche Weise. Denn wir sind ohne Ausnahme nicht Menschen, sondern Krüppel, durch Zufall oder Gewalt verursacht, weil wir die Fähigkeit zur natürlichen Entwicklung verloren haben. Nein, nicht sagen: Glaube! Und ich werde nicht sagen: Liebe! Um lieben und glauben zu können, müssen sich jene innerlich erneuern, müssen verstehen, was ihnen not tut, muß das Gewebe der Existenz des Menschen von Grund auf geistig umgeformt werden. Wir sind Krüppel, weil unser Bewußtsein ins Leere rast. Mit jeder Wahrnehmung des Göttlichen ist notwendig das Gefühl unserer eigenen Nichtigkeit verbunden." Und so geht die dunkelsäuselnde Threnodie der verlorenen Natürlichkeit und der Nichtigkeit im Angesicht Gottes fort und fort. An anderer Stelle gesteht Wünsche immerhin selbst zu, zwei seiner Sätzen klängen wohl "seltsam geraunt". Wenn es doch nur diese beiden wären.
Andere Aussagen wiederum geraten ihm zwar knapp und klar, bieten dafür aber kaum bahnbrechend zu nennende Erkenntnisse: "Das Leben hinterlässt Spuren bei jedem." Wer hätte das gedacht! Doch gelegentlich - auch das sei nicht verschwiegen - gelingt es ihm tatsächlich, einen Gedanken in ein Aperçu zu fassen. Etwa, wenn er konstatiert, in der Lagerfeuerromantik der Hitlerjungen, hätte "[k]ein Gedanke an irgendwelche Gedanken" aufkommen können.
Zur Gestrigkeit von Wünsches Vorstellung einer vermeintlich möglichen 'Natürlichkeit des Menschen' passt die Misogynie, die den Subtext seiner illustrierenden Beispiele durchzieht. "[N]iemand konnte [in den Wochen des Mai 1945] sicher sein, am nächsten Morgen und Stunden später damit zu endigen, daß er sich niederlegte, um am folgenden Tag damit fortzufahren, schon gar nicht mit der gleichen Frau, mit der er die vorherige Nacht verbracht hatte". Verrät dieses Zitat die implizite Misogynie nur dadurch, dass seine möglichen Subjekte, die 'Niemande' männlich gedacht sind, so tritt sie im folgenden schon deutlicher hervor. Die Kunst der Hässlichkeit illustriert Wünsche mit zwei Beispielen, die beide zu Lasten des 'anderen' Geschlechts gehen. "Die Lebensgefährtin hat den Lebensgefährten erst erledigt, wenn ihre unerbittlichen Versuche fremdzugehen als geglückte Prostitution eines Abends ihm klargeworden sind." So das eine. Auch für das zweite müssen ihm Frauen herhalten. Diesmal ist es eine "Schwester", die "die Schwester" "aus dem Haus hinausgeekelt" hat.
Die Werke der Künstlerin Cindy Sherman, die er in maskulinistischer Herablassung wie ein zu schulmeisterndes Mädchen beim Vornamen zu nennen pflegt, rückt er mit Hilfe eines Adorno-Zitates in die Nähe von Kitsch. Er selbst tut ihre Kunst ab, indem er sie mit einem weiblich konnotierten Krankheitsbegriff belegt. Nichts weiter als "hysterische Performanzen" sind sie ihm.
Dass Wünsche Jean-Martin Charcots öffentliche Zurschaustellung der 'Hysterikerin' Augustine völlig zu recht als "Verbrechen" und einen "Fall von Kinderschändung" geißelt, ist ihm zugute zuhalten und lässt zudem vermuten, dass er sich der Sexismen seines Textes kaum bewusst geworden sein dürfte. Besser macht das die Sache allerdings nicht.
Bei aller anfälligen Kritik handelt es sich immerhin um eine originelle Form der Autobiografie. Doch wenn der Autor in einem gegen Ende des Buches eingeflochtenen Dialog die "Ur"-Figur zur "Ich"-Figur sagen lässt, alle guten Bücher seien Memoiren, so kann man das füglich bestreiten, und sicher ist, dass beileibe nicht alle Memoiren gute Bücher sind. Ein Beleg liegt vor.