"Ich bin wie der Thelonious Monk im Bebop - einer, der anders spielt"
Ein Interview mit Thomas Meinecke
Von Anke Biendarra
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVielleicht könnten wir damit anfangen, ein bisschen über den Literaturbetrieb zu sprechen. Sie leben ja - wie ich annehme auch ganz bewusst - nicht in Berlin, und haben von daher zumindest örtlich weniger Anteil an diesem Hype um die Hauptstadt und um die so genannte Berlin-Literatur...
Wobei ich dennoch ungefähr alle acht Wochen tatsächlich in Berlin bin. Da finden so häufig Dinge statt, an denen ich teilnehme, ob es jetzt Lesungen, Panels, oder ähnliche Veranstaltungen sind. Es wird mir immer wieder fast ein bisschen vorgeworfen, dass ich gerne Reisekosten und so etwas erstattet bekommen möchte und ein Hotelzimmer haben will. Denn eigentlich hat man doch eine Wohnung in Berlin zu haben, oder zumindest ein Zimmer, und hat sowieso was in der Stadt zu tun, was man verbinden könnte. Das ist also zum Teil für die Leute, die einen aus Berlin direkt anfragen, eine Zumutung, dass man nicht irgendwie sowieso da ist. Es macht mir aber auch Spaß - und ist insofern durchaus eine bewusste Entscheidung - nicht unbedingt Staffage dieser neuen Inszenierung Deutschlands zu sein. Denn das gefällt denen ja so gut, dass wir alle da sind, auch irgendwelche schrägen Typen, und es ist mir nicht Recht, da das Beiwerk zu sein. Obwohl ich auch meine zwei, drei Berührungen mit der Macht, also speziell der letzten Regierung hatte, die einen dann einlädt, die Schriftsteller mal an den Tisch bittet. Wenn das nicht mit der Öffentlichkeit war, habe ich es auch - dreimal insgesamt - mitgemacht, aber generell ist es mir sehr lieb, auf Distanz zu sein.
Sie haben gerade gesagt, "Das ist denen ja auch ganz recht." Wer genau sind "die"? Sprechen Sie über den Literaturbetrieb oder meinen Sie primär die Politik?
Ich meinte eher die Politik, also die Herrschenden, die Regierenden. Ich weiß nicht, ob es den Jetzigen überhaupt wirklich was bedeutet, aber es reicht schon, dass es für die, die dieses "neue Berlin" inszeniert haben, so wichtig war. Der Literaturbetrieb selber findet ja auch ganz stark außerhalb Berlins statt, wie zum Beispiel jetzt gerade auf der Buchmesse in Frankfurt, auch in Leipzig. Aus dem Literaturbetrieb halte ich mich gar nicht bewusst fern, da habe ich keine Berührungsängste.
Wenn Sie sich selber positionieren sollten in diesem Literaturbetrieb, wo sehen Sie sich da?
Ich glaube, da bin dann schon so etwas wie ein Außenseiter, der aber dennoch wohlgelitten ist. Beziehungsweise muss ich auch sagen, dass die Schonzeit bei mir jetzt vorbei ist! Ich bin ja jemand, der erst relativ spät auf den Plan trat. Mein erster Roman "The Church of John F. Kennedy" kam heraus, als ich gerade 41 geworden war. Da galt ich dann deswegen - weil das das erste Buch war, was wirklich Aufsehen erregte und weil ich neu war - plötzlich als ,junger Autor', und das blieb ungefähr bis zu meinem fünfzigsten Lebensjahr so. Am Anfang haben sich alle ziemlich viel damit beschäftigt, was ich denn da tue, weil ich eben ein bisschen anders schreibe als die meisten anderen; mein Ansatz ist auch technisch ein anderer. Da hatten viele erst mal was dazu zu sagen und haben das zur Kenntnis genommen, oft auch sehr wohlwollend. Und dann, nach zwei Romanen in dieser Art, also nach "Tomboy" und mit "Hellblau", war wahrscheinlich ein bestimmter Konsens darüber geschaffen, was ich da so mache. Dann setzte die Polarisierung ein, und von vielen werde ich jetzt auch eindeutig abgelehnt. Die laden einen vielleicht trotzdem ein, aber sie mögen es eigentlich nicht und empfinden es als eine Art Unterminierung dessen, was Schreiben eigentlich zu sein hat. Am Anfang war es so eine Art novelty effect, da war dieser neue Ansatz, der schreibt irgendwie postmodern oder es ist irgendwie Pop; dann wollten viele aber mit Pop gar nichts mehr zu tun haben, und auch der Begriff Postmoderne ist ja schwer in Misskredit geraten. Ich habe ihn ja selber nie bewusst im Schild geführt, aber ich wurde sozusagen subsumiert als einer, der auf einer Seite steht, die nicht wirklich mainstream werden soll. Und das spüre ich. Trotzdem bin ich aber irgendwie dabei. Ich bin so was wie der Thelonious Monk im Bebop, also einer, der irgendwie anders spielt.
Als Randfigur bin ich aber dennoch so wohlgelitten, dass ich immerhin auch meinen Lebensunterhalt damit bestreiten kann. Was toll ist, denn es ist ein luxuriöses Arbeiten. Ich beschwere mich also gar nicht! Es gibt mir auch gewisse Freiheiten; ich habe keine Angst in dem Betrieb wie gewisse Kollegen, die so schreiben, wie alle schreiben, und die dann mit Neid oder einer gewissen Missgunst argwöhnisch gucken, ob vielleicht ein anderer eine tollere Pointe in einem ansonsten ähnlich aufgebauten Roman hat. Diese ganzen Dinge betreffen mich gar nicht. Grundsätzlich würde ich aber sagen, dass der Literaturbetrieb untereinander viel kollegialer ist als zum Beispiel der der bildenden Künstler.
Innerhalb des Feldes der so genannten Pop-Literatur bin ich auch ein Außenseiter, da gibt es nur wenige, die so sehr wie ich für sich reklamieren, nach einer bestimmten Methode zu schreiben, die man aus Pop erlernt hat. Wo die meisten doch schon als Popliteratur gelten, wenn bei ihnen Schallplatten vorkommen. Es sind unterschiedliche Ansätze: Ob es ein issue ist oder ob es eine Methode ist.
Sie haben mir mit Pop ein Stichwort geliefert: Mittlerweile hat es sich ja als Position herauskristallisiert, dass es mindesten zwei Arten von Pop gibt. Also den Pop, den Sie selbst, Andreas Neumeister oder Rainald Goetz schreiben, die sogenannte Suhrkamp-Fraktion. Und dann das, was Diedrich Diederichsen "Pop II" genannt hat, zu dem in den späten 90ern Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre oder Alexa Hennig von Lange zählten. Was immer man grundsätzlich von solchen Kategorisierungen halten mag: Sie sind von Suhrkamp ebenfalls unter diesem Label des ernsthaften Pop vermarktet worden.
Ja, das war interessant. Da gab es eine so genannte Streifen-Anzeige, wo Rainald Goetz, Andreas Neumeister und ich gleichzeitig Bücher draußen hatten, und es hieß, die sollten jetzt vom Verlag aus beworben werden. Und wir durften mitreden, welcher Überbegriff uns drei sozusagen verbindet. Ich weiß noch ganz genau: ich hatte "Plattenspieler" vorgeschlagen und Rainald Goetz "Pop". Und Pop war das, wo wir alle drei sofort zugestimmt haben. Und dann stand eben Pop drüber. Wobei es auch bei uns dreien, würde ich sagen, verschiedene Ansätze sind.
Sie würden sich also zum Label Pop-Literatur bekennen?
Ich würde mich eher dazu bekennen, wenn es mir zugeschrieben wird, als dass ich es mir selber an die Brust heften würde. Der Begriff kam irgendwann auf, man wurde darunter subsumiert, und dann habe ich andere Kollegen dabei beobachtet, wie sie sich dem entziehen wollten. Ich habe aber gemerkt, ich kann mich damit arrangieren und positiv damit umgehen. Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich ein Vertreter der Pop-Literatur bin. Es gibt kein Manifest von mir, was Pop-Literatur wäre, aber ich habe nichts gegen den Begriff. Aber dann bitte auch immer Hubert Fichte mitmeinen, oder Andy Warhol, der ja selbst übrigens auch tolle Texte geschrieben hat.
Es geht also darum, sich bewusst in einer Traditionslinie zu verorten und auch ein bestimmtes Bewusstsein von Historizität mitzubringen.
Absolut.
Sie sprachen von verschiedenen Ansätzen, die innerhalb des so genannten Suhrkamp-Pops existieren, um jetzt mal bei diesem Label zu bleiben. Könnten Sie das etwas ausführen?
Rainald Goetz zum Beispiel ist mir sehr lieb: ich mag ihn total gern. Und trotzdem ist bei ihm ein anderes Subjekt am Werk als bei mir, und ein anderer Begriff, eine andere Position, von der aus dieses Subjekt sich selbst mit ins Bild nimmt. Ich würde gerne eine Verwandschaft aufmachen, aber es sind unterschiedliche Methoden. So geht es mir zum Beispiel auch mit Dietmar Dath, der jetzt auch bei Suhrkamp Bücher macht und jünger ist. Ich würde sagen, er ist auf derselben Baustelle, aber mit einer anderen Aufgabe beschäftigt. Bei Dath ist es auch so, dass er ziemlich viel sampelt und zitiert und sich in die Verweishölle begibt - mit Freude und Machete. Auf der anderen Seite setzt er aber ganz andere Schwerpunkte. Zum Beispiel ist bei ihm ein gewisser Argwohn gegenüber postmoderner Theorie da. Ich friemele eher so am Detail herum und zerlege Identitätskonstruktionen sozusagen im Uhrmachersinn, und da ist Dath gar nicht dran interessiert. Dennoch würde ich ihn dazuzählen. Dann sehe ich Verwandte bei Schriftstellern, die leider gar nicht mehr leben, also zum Beispiel Hubert Fichte, und da noch nicht mal unbedingt das Frühwerk, sondern sogar eher seine komischen ethno-poetischen Aufschreibabenteuer aus seinen späteren Lebensjahren. Also oft so afro-katholische Szenerien. Da, finde ich, ist eine Art des Mitschreibens am Werk, die ich zum Teil von einem ähnlichen Impuls geleitet sehe wie meine. Obwohl auch er natürlich - ähnlich wie Rainald Goetz - sich selbst ganz stark ins Bild nimmt, als eine Art libidinöse Subjekterscheinung.
Ich mag dann im Endeffekt ja auch die Jungs von "Tristesse Royale" wirklich gern. Ich habe eigentlich auch gar keine Chance eingeräumt gekriegt, sie nicht zu mögen, weil nämlich das normale bürgerliche Feuilleton von mir immer hören will: "Suhrkamp-Pop ist doch gut, aber finden Sie das nicht auch ganz schön windig, was die da so machen?" Und dann muss ich sagen, im Endeffekt ist das irgendwie erfolgreich. Dieses Buch "Tristesse Royale" hat funktioniert, es hat die Leute aufgeregt, es hat polarisiert - auch im Sinne eines gewagten Pop-Produkts. Das ist eigentlich wirklich Pop. Aber dann werde ich, um das noch mit reinzubringen, zum Beispiel mit Kathrin Röggla am allerhäufigsten gemeinsam für Veranstaltungen gebucht und verstehe mich mit ihr prächtig, obwohl sie einen gewissen Argwohn gegenüber dem Begriff Pop hat. Sie setzt sich davon gerne ab. Aber es gibt sehr viele Sympathien, wo man im Endeffekt das Gefühl hat, auch politisch an einem Strang zu ziehen.
Bleiben wir noch mal für einen Moment bei Pop. Ich wollte Ihnen ein Zitat von Rainald Goetz ins Gedächtnis rufen, der in "Hirn" schreibt: "Es gibt keine andere vernünftige Weise über Pop zu reden, als hingerissen auf das Hinreißende zu zeigen, hey super." Können Sie das bestätigen, beziehunsgweise das Zitat kommentieren?
Nein, das kann ich eigentlich nicht bestätigen. Da liegt auch wirklich der Unterschied zwischen Rainald Goetz und mir. Er ist wirklich der, der mal 'geraved' hat. Ich habe das gut beobachten können, denn wir wohnten ja lange in derselben Stadt. Er hat sich wirklich ins Getümmel begeben und gesehen, was passiert, wenn er seinen Körper da reinführt. Ich hingegen bin schon immer eher der gewesen, der zugeschaut hat, also teilnehmender Beobachter war. Das heißt, ich hatte immer einen analytischeren Zugang, den Goetz teilweise bewusst unterdrückt oder ausgeschaltet hat, um eben durch so eine Nacht gehen zu können. Bei mir ist immer ein Element der Distanz präsent geblieben, wo ich schaue, was passiert jetzt gerade, was mache ich gerade, wie stehe ich da, was macht der DJ? Also, ich fühle mich dann auch immer wie ein Chronist, wie ein Abtastsystem, wie ein Aufnahmeapparat. Ich war schon immer jemand, der an Pop toll fand, dass Pop - und zwar nicht nur Musik, sondern auch Filme, und auch Pop Art - sein eigenes Zustandekommen miterzählt, also sehr oft auch auf einer reflexiven Ebene stattfindet. Bei mir gibt es oft eine richtige direkte Referenz auf das Sekundäre, auf die Auswertung, die dann wieder eingeführt wird ins vermeintlich Primäre. Und dadurch entsteht eine Art Kreislauf, ein Zirkel, der für mich stark mit Pop zusammenzubringen ist.
Ich finde Goetz' Zitat aber toll, wie auch dieses andere, wo er sagt, "Pop hat kein Problem". Das finde ich deshalb klasse, weil damit ausgeschaltet werden kann, dass all diejenigen, die sich mit Pop nicht richtig beschäftigt haben und es auch lästig finden - und da spreche ich jetzt eigentlich wieder von Feuilletonisten - dass man denen sagen kann, Pop wird es immer geben, Pop ist eine bestimmte Art des Wahrnehmens, und das hat kein Problem, und es kann auch nicht over sein. Das fand ich so gut, wenn man denen das Gefühl geben konnte, ihr seid praktisch nicht dabei, ihr könnt jetzt gar nicht mitreden. Pop kann man sich nicht einfach aneignen und das ist eben auch das Faszinosum. Pop ist nicht wirklich erlernbar, er ist nur erfahrbar.
Was Pop natürlich einerseits sehr demokratisch und andererseits auch extrem elitär macht.
Beides in einem, ja! Das ist doch eine irre Mischung aus Aristokratischem und Demokratischem. Das hat man schon von dandyistischen Strategien so gelernt. Das geht eigentlich auf Poe, Baudelaire und Wilde zurück.
Wenn ich Ihnen die Frage stelle, die Michel Foucault vor vielen Jahren gestellt hat, nämlich "Was ist ein Autor?", was würden Sie antworten? Was ist Ihre Konzeption von Autorschaft im 21. Jahrhundert?
Ich habe auch für mich das Gefühl, das ist eine bestimmte Funktion. Eine Autorfunktion, wie Foucault das genannt hat - wobei in dem Zusammenhang dann ja auch häufig gleich vom Tod des Autors gesprochen wird. Da wird von vielen irgendwas schief gelesen, denn - es gibt ihn ja! Es ist ja kein klinischer Tod, wenn man eine solche Funktion als das erkannt hat, was sie ist. Dann ist sie eigentlich nur ein bisschen demystifiziert und aller Geniekonzepte entkleidet. Es geht eher darum, woraus dieses Subjekt gemacht ist. Wenn ich weiß, woraus es gemacht ist, ist das Subjekt ja nicht tot. Sondern es gibt einem ein gewisses Bewusstsein davon, was überhaupt in den vorhandenen Möglichkeiten liegt. Dann braucht man sich nicht zu überheben und sich im Brokatmorgenmantel als Super-Genie aus irgendeinem Himmelbett schälen, sondern man kann einfach an den Schreibtisch gehen und eine Stunde schreiben.
Das wird ja auch im Dekonstruktivismus oft verwechselt, als sei das Ding, wenn es einmal zerlegt ist, nicht wieder zusammensetzbar oder würde nicht mehr funktionieren. Ich sehe dieses Ende gar nicht. Posthistoire heißt doch nicht, dass es gar keine geschichtliche Bewegung mehr gibt. Es ist ja nicht vorbei, es gibt nur endlich mal eine Klarheit darüber, was überhaupt los ist und was sich bewegt und wie. Das würde ich durchaus auch darunter subsumieren, was Theorien geleistet haben, die der Postmoderne zugeschrieben werden. Es gibt eine Dynamik, es ist nichts over. Sicher gibt es einige, die das so auffassen, aber das finde ich dann leicht verkitscht.
Im dekonstruktivistischen Diskurs ist es aber schon so, dass das autonome Subjekt abgeschafft ist beziehungsweise ziemlich pulverisiert wird. Wie kann man dieses Subjekt, besonders als politisches, wieder zusammensetzen, beziehungsweise wie tragen Ihre Texte dazu bei?
Ich denke, abgeschafft ist es nur als politischer Popanz. Als Chimäre, die sich einbildet, eine bestimmte Stimme zu haben. Darüber habe ich mich zum Beispiel auch mit Judith Butler persönlich unterhalten, dass es doch nicht pulverisiert ist im Sinne von in alle Winde zerstreut und nicht mehr fassbar. Es geht um eine Analyse dessen, was dieses Subjekt ausmacht, woraus es gemacht ist. Und es ist natürlich ganz stark in Sprache konstituiert. Für viele heißt, sich auf jemanden wie Judith Butler zu berufen, vernebeln, auflösen, hinfällig machen; viele sprechen gern von Beliebigkeit. Ich sehe gar nichts Beliebiges, ich sehe eher eine Schärfung, wenn auch im Detail. Die großen Ausrufezeichen fallen weg, die großen Gesten, die Hymnen. Das genau ist für mich der Reiz, als Schriftsteller auch künstlerisch von dieser Erkenntnis ausgehend, trotzdem Texte zu schreiben und das immer mit im Bewusstsein zu führen. Und dann wird's doch politisch, wenn man bei jedem Komma überlegt, was tue ich denn da, was spricht denn da durch mich durch. Sich also keine Illusion darüber zu machen, dass man selber autonom etwas in Worte fasst, was nicht andere auch schon in Worte gefasst haben, sondern dass man im Grunde genommen eine bekannte Formel bereits vorliegen hat und sie praktisch überschreibt. Entweder übernimmt, oder überschreibt, vielleicht ein bisschen moduliert, vielleicht auch nur durch irgendetwas anderes konterkariert. Man muss sich bewusst sein, dass es das Vordiskursive nicht gibt.
Politisch wird es auch dann, wenn man sich keine Illusionen darüber macht, dass man nicht unbedingt schon politisch handelt, wenn man jetzt hier auf die Straße geht und den nächstbesten Luxuswagen in Brand setzt. Sondern eher, wenn ich mir beim Schreiben genau überlege, mit welchen Worten ich wen wie fixiere. Und das habe ich von dekonstruktivistischen, meist feministischen Texten gelernt. Das hat für mich etwas Zukunftsweisenderes, weil man dann loslegen kann. Aber das ist dann vielleicht auch meine spezielle, klassischen Aufklärungskonzepten verbundene Art. Ich finde ja auch nicht, dass das Konzept einer (auch linken) Aufklärung hinfällig geworden ist. Da halte ich immer noch dran fest.
Sie haben gerade davon gesprochen, eine Form zu überschreiben. In Ihrem poetologischen Essay "Ich als Text" sagen Sie von sich, sie hätten kein Interesse daran, sich etwas auszudenken, narrativ etwas heranzuholen, eine Erfahrung zu beschreiben. Andererseits sind aber alle Texte, bis auf "Holz" (1988), mit der Gattungsbezeichnung "Roman" kategorisiert, das heißt, Sie bleiben dennoch in dieser festgelegten Kategorie. Spielt das Genre für Sie überhaupt eine Rolle, oder geht es Ihnen eher darum, dasselbe zu unterwandern, durch diese Art einer nicht-linearen Erzählweise, in der es ja - in den Worten E.M. Fosters - zum Beispiel keine runden Figuren mehr gibt? Ist das also eine subversive Strategie?
Irgendwie ist es schon eine Unterwanderung, aber natürlich nur dann, wenn man trotzdem noch "Roman" drüber schreibt. Denn sonst würden ja alle sofort sagen, okay, das ist ja jetzt was ganz anderes. Ich muss ja trotzdem noch den Körper subvertieren, der existiert. Dieses Insistieren darauf, dass das trotzdem ein Roman ist, ist ja nicht mal was richtig Neues. Man könnte zum Beispiel auf "Bouvoir et Pécuchet" von Flaubert zurückgehen, wo es auch Roman genannt wird und dann grandios scheitert. Es ist auch so etwas wie ein Eingeständnis, wenn man einfach "Roman" schreibt. Von mir aus müsste man es vielleicht gar nicht kategorisieren, aber die Verlage haben das ganz gerne. Die fragen dann, was ist es denn eigentlich, schreiben wir Roman hin? Und dann sag ich sofort ja. Das lässt sich jetzt vor Germanisten wahrscheinlich nur schwer halten! Aber ich behaupte es einfach gerne, weil ich darauf insistieren möchte, dass es bestimmte Erzählweisen gibt, die ich verfolge und die ich gerne auch unter diesem generellen Begriff beheimatet sehen möchte. Ich möchte nicht nur deswegen etwas ganz anderes machen, weil es bei mir anders zugeht. Ich würde es auch als Wortmeldung zu diesem Gattungsbegriff begreifen und für mich reklamieren, man kann auch so erzählen - und da sind wir dann wieder beim autonomen Subjekt - man kann auch einen Roman schreiben, dessen Verfasser am Anfang des Textes noch gar nicht weiß, was am Ende rauskommen wird. Und genau dieses Prozesshafte, was dann eher noch im Text abläuft als in der so genannten Handlung, äquivalent als Roman deklamieren. Es ist mir wichtig, dass man die narrative Ebene nicht nur an dem sieht, was vorkommt, sondern auch daran, wie es vorkommt. Deshalb sind es quasi alles auch Entwicklungsromane. Es wird immer ein Erkenntnisprozess innerhalb dieser paar hundert Seiten erzielt, der bei mir, anders als im klassischen Entwicklungsroman, vom Autor vorher nicht gewusst wird.
Darf ich da noch mal nachhaken? Das habe ich im Gespräch mit Schriftstellern schon öfter gehört, aber soll ich Ihnen das wirklich glauben? Dass Sie, wenn Sie Ihren Text beginnen, tatsächlich nicht wissen, wo Sie damit enden? Dass Sie aber dennoch sagen, es handele sich um einen Entwicklungsroman?
Das müssen Sie mir glauben! Denn das ist mein Hauptansporn beim Schreiben überhaupt: dass ich denke, das nehme ich mir jetzt vor, und in anderthalb Jahren werde ich dann von A nach B gedacht haben. Und das macht einfach Spaß und beinhaltet die Lust zu sehen, was sich anbietet aus der Konstellation all dessen, was man da so zusammenhäufelt. Das weiß ich vorher nicht. Es ist eher so, dass ich mir sage, das will ich rausfinden. Also zum Beispiel bei "Musik": Ich als jemand, der ein heterosexuelles Leben führt, sich aber seit Jahrzehnten auch mit Outlawtum beschäftigt, mit queeren Entwürfen und Praxen, allerdings ohne sie selber zu praktizieren, sondern eher in einem Velvet Underground/Baudelaire/symbolistischen Sinne. Dass jemand, der ein normiertes Leben führt und ein Jahrzehnt lang durch die Lektüre von feministischen Texten und später auch Queer studies gegangen ist, dann mal sein 'normales' Modell unter die Lupe nimmt, beziehungsweise mit dem Besteck rangeht, das man erlernt hat durch dekonstruktiven Feminismus. Das muss man dann einfach beim Schreiben rausfinden. So habe ich mir sehr grob, als eine Art Schablone, jemanden ausgedacht, der von mir als heterosexuell eingeführter Mann als Flugbegleiter arbeitet, also in einem Frauenberuf, obwohl die meisten in dem Beruf arbeitenden Männer schwul sind. Und diese Figur muss dann quasi per Sprache gerechtfertigt werden. Das ergibt eine interessante Reibung und ein Oszillieren, und das macht mir beim Basteln Spaß. Da bin ich wahrscheinlich nicht anders als jemand, der aus Streichhölzern Notre Dame nachbaut.
Darum konnte ich auch für diese Ausstellung in Köln ("Das achte Feld - Geschlechter, Leben und Begehren in der Kunst seit 1960", 2006) nicht noch mal "Musik" schreiben - obwohl die Organisatoren das gerne gehabt hätten - weil mir das überhaupt nichts bedeuten würde, eine Bewegung, die ich schon einmal beim Schreiben durchlaufen habe, also auch einen geistigen Erkenntnisgewinn, noch mal zu rekonstruieren. Deshalb habe ich dafür dann lauter kleine Tableaux geschrieben, die jetzt in "Feldfoschung" versammelt sind. Die sind statischer und zeigen in sich nicht so eine Entwicklung. Nur einmal gibt es eine Geschichte, die circa dreißig Seiten lang ist, "Mister Gay". Das hat dann einfach beim Schreiben so lange gedauert, dass da wieder der Effekt auftrat, unbedingt irgendwas, was in der Zeitung stand oder im Fernsehen war oder sonst noch passiert war, mit hinein zu bringen. Denn wenn ich schreibe, verquickt sich das immer mit dem, was gerade der momentane Input ist.
Wie soll ich mir den Schreibprozess konkret vorstellen? Es klingt so, als würden Sie kontinuierlich lesen und das Gelesene verarbeiten. Oder gibt es eine Forschungsphase, in der man einen groben Aufriss macht, und dann hört man irgendwann auf zu lesen? Sie haben das in einem anderen Interview so beschrieben: Links liegt der Stapel mit Büchern und in der Mitte sitzen Sie und der Inhalt der Texte läuft quasi durch Sie hindurch und fließt dann weiter in Ihren eigenen Text.
Ja, das ist auch so. Es staut sich vorher nur an. Ich habe zum Beispiel unglaubliche Lust, mich jetzt noch mal genauer mit theologischen Konzepten zu befassen, die mit merkwürdigen Dogmen zusammen hängen, wie der unbefleckten Empfängnis oder Maria. Da komme ich dann auch wieder nicht aus einem gewissen feministischen Zusammenhang heraus - komme ich wahrscheinlich nie mehr! Da gibt's einfach unglaublich interessante Sachen, mit denen ich mich unbedingt bald beschäftigen möchte. Das hab ich alles schon in Kisten parat. Ich trau mich gar nicht, das zum Beispiel auf eine Reise wie diese mitzunehmen, weil ich denke, ich bräuchte eine Art Zwischenablage, dann müsste ich die Ecken der Seiten einknicken oder mitschreiben und Notizen machen. Dann habe ich gleich Angst, dass das Schreiben selbst nicht dynamisch genug sein wird, sondern eher abgehangen. So würde ich mir als Meister über mein Material vorkommen, was ich mir einfach nicht gestatte. Also zu sagen, okay, was nimmst du zuerst, es wäre doch ganz gut, hier damit anzufangen und dann dazu zu kommen. Das käme mir schon abgeschmackt vor, oder abgefeimt. Das räume ich mir nicht ein. Ich habe auch eine eher unelegante Aufbaustruktur am Anfang. Ich gehe aber hinterher nicht noch einmal ran und stelle sie um. Denn es war einfach so; es hat sich so entwickelt. Ich würde sogar sagen, dass mein Schreiben dem Lesen weitgehend gleicht, weil es praktisch ein direktes Zu-Papier-bringen von Leseprozessen ist. Ein Umsetzen des fragenden, erstaunten Mitprotokollierens von Lektüre. Das ist jedenfalls mein Ansatz. Vielleicht überwinde ich den ja mal! Das will ich gar nicht ausschließen. Aber im Moment ist es noch so, dass es mir am meisten Spaß macht und sich eine gewisse Methodik daraus entwickelt hat, der ich auch vertraue.
Es klingt so, als hätten Sie durch diese Methode nie mit Writer's block zu kämpfen.
Richtig. Den habe ich damit quasi ausgetrickst!
Komplett! Es ist interessant, denn eigentlich ist das Verfahren, das sie beschreiben, dem akademischen Schreiben sehr nah.
Stimmt. Dann gibt es sicher auch keinen akademischen Writer's block, oder?
Ach, reden wir doch lieber von was anderem!
Die Akademiker können ja nicht so mit geschlossenen Augen wie ich da durch, sondern die müssen ihre Thesen beweisen.
Wir müssen auch ständig unsere vermeintliche Klugheit beweisen, nicht zuletzt, indem wir uns mit der Forschung auseinandersetzen, die schon da ist. Das führt dann manchmal zu Blockaden!
Ja, und ich darf ja dumm sein. Da habe ich auch so eine Art masochistische Lust meinem Text gegenüber, mich als unsouverän zu erweisen, indem man auch Dinge aufschreibt, die man nicht wirklich beherrscht. Aber das glauben Sie mir jetzt wieder nicht!
Ja, das glaube ich Ihnen auch nicht! Das habe ich nämlich auch schon vorher über Ihre Methode gelesen, dass Sie sagen, ich bekenne mich zum Dilettantentum. Dann ist es ja umso bewundernswerter, wenn dabei ein Text herauskommt, der reflektiert und komplett durchgearbeitet erscheint und eine bestimmt Gestalt hat.
Die Texte sind souverän, aber ich eben nicht! Das wäre dann vielleicht der so genannte künstlerische Wille, den man auch hat, selbst wenn man primär das Gefühl hat, dem Material zu dienen. Diese Form hat auch mit Sound und Musikalität zu tun. Ein Formwille ist schon da. Dennoch finde ich es nach wie vor total reizvoll, Dinge in Sprache zu fassen, die man gerade noch eben begreift, so dass es einem beim Schreiben fast schon wieder entwischt. Die Befriedigung, die man empfindet, wenn man abends den Laptop zuklappt, entsteht, weil man das Gefühl hat, da was fixiert zu haben, was man kaum noch mal so hinkriegen wird. Die Souveränität dessen, der meistens vorher sein Wissen akkumuliert hat und es dann so richtig schön in Form gegossen abgibt, finde ich nicht reizvoll. Spannend finde ich es, wenn man immer auf der Grenze des Verstehbaren schreibt. Der nächste Satz wäre schon nicht mehr möglich, weil man da praktisch nicht mehr weiterkommt. Und das reizt mich - damals schon in "Tomboy" - zum Beispiel an einem Autor wie Lacan. Der ist für mich echt sehr schwer zu lesen, und da bin, wenn schon nicht Dilettant, dann zumindest Autodidakt. Ich gehe nicht in einen Lesekreis, ich studiere nicht, ich bin nicht an der Uni, aber es reizt mich wahnsinnig, auch die Dinge zu lesen, die ich kaum begreifen kann. Ich weiß zum Beispiel, der Unterschied zwischen Penis und Phallus ist in "Tomboy" fixiert, aber ich könnte ihn jetzt hier nicht rekapitulieren. Aber ich weiß, ich war mal in der Lage, es umzusetzen und habe das da fixiert. Insofern ist das kohärenter, als mein eigener Bewusstseinszustand jetzt nach dem Schreiben. Der fällt wieder zurück in so eine Art Tohuwabohu. Da wird jedes Mal wieder eine Art Sammlung, eine Konzentration vollzogen. Das ist schon so. Es klingt ein bisschen kokett, aber ich glaube schon, dass es so ist.
Ich muss halt nur noch mal nachfragen!
Ja, das ist ja auch richtig, wenn das auch in Frage gestellt wird. Ich muss mir ja auch immer wieder überlegen, was es genau ist. Das Gute an solchen Gesprächen ist auch, dass man sich das manchmal noch genauer überlegt, als wenn man es einfach nur macht. Da eben ein so starkes, intuitives Mitprotokollier-Element da ist, bin ich mir nicht immer vollkommen bewusst, wo ich gerade stehe. Deshalb bin ich auch glücklich, dass - zumindest in Deutschland - relativ viel an den Unis über mich gearbeitet wird. Es gibt immer wieder Seminare und ab und zu bekomme ich Arbeiten zugeschickt, vor allem Magisterarbeiten. Zum Beispiel über "Rortys Ironiebegriff bei Thomas Meinecke." Ich habe Richard Rorty noch nie im Original gelesen, aber dann erfahre ich so, was da für Korrelationen bestehen, und dann lerne ich was über mich. Aber ich selbst fühle mich noch nicht so richtig in der Lage, dass in einen Poetikbegriff fassen zu können. In so Gesprächen überlege ich's mir.
So setzt es sich vielleicht ja auch zusammen.
Ja, für mich geht das dialogisch besser, als wenn ich jetzt so vor mich hin überlegen würde. Dazu habe ich viel zu sehr so eine Art musikalisches Intuitionsding laufen, wenn ich mich ans Schreiben mache, als dass ich mir das so genau vorher überlegen könnte. Zumal das Prozesshafte eine so große Rolle bei mir spielt, da verlässt man sich dann doch im Endeffekt auf so einen gewissen Flow.
In "Musik" sagt die Figur Karol, die innovativen Momente, in denen sich gesellschaftliche Errungenschaften ankündigen, würden sich immer zuerst in der Musik, also "sonisch" ankündigen. Er spricht auch von den Schwierigkeiten, diese Momente narrativ zu rekonstruieren. Spricht sich darin auch ihr eigenes Projekt in "Musik" aus?
Ja. Es ist fast eine Art Trauerarbeit, wenn man nacherzählen möchte, was eigentlich neu an Roxy Music war, wenn es dann später Bands wie Blur sowieso gab. Das hat etwas fast Bedrückendes, weil man oft nicht in der Lage ist, noch mal wieder an den Punkt zurückzuspulen, wo es noch nicht passiert war. Das betrifft ja genauso gut andere ästhetische Formen, zum Beispiel Mode. Wann habe ich denn eigentlich zum ersten Mal eine Röhrenjeans getragen? Jetzt finde ich Röhrenjeans irgendwie komisch, aber sie kommen ja jetzt wieder, oder? Mein Auge ist irgendwie immer noch so, dass ich lieber das ausgestellte Hosenbein mag. Und dieser Moment ist eigentlich toll, denn da ist so ein Widerstand am Werk. Man ahnt schon, man wird im Jahr 2008 die Röhrenjeans wieder toll finden, aber noch bin ich dazu gar nicht in der Lage. Und in der Rekonstruktion des Ganzen wird vieles einfach vergessen, es geht verloren. Es wird einfach als sehr linear dargestellt, eins erwächst aus dem anderen, es geht immer hin und her zwischen Röhre und Schlag, so wird es dann lapidar abgetan. Aber dass das irgendwie ganz große Dramen sind, geht verloren. Zum ersten Mal so was gesehen zu haben oder gehört, in der Musik, das stimmt einen fast wehmütig, weil es einem hinterher alles zur Verfügung steht und historisch beherrscht wird. Dabei war es doch eigentlich jeweils eine Unerhörtheit.
Besitzt dieses Moment auch eine politische Dimension?
Politisch gesehen ist es wohl wirklich so gemeint, dass man schaut, wie sich Erscheinungen wie Psychedelic oder Punk Rock oder Techno jeweils auch mit politischen Modellen oder Utopien verbinden lassen. Später hat man das einfach als Stil zur Verfügung, ohne dass es dieselbe Reibungskraft hätte. Ich meine, es gibt ja jetzt noch Punks, aber es ist dann eben nicht mehr als die Ratte auf der Schulter.
Das, was Sie gerade sagten, spricht ja auch dafür, dass die Protestbewegungen, die sich aus Jugendkulturen entwickeln, weniger geworden sind. Ich denke hier an Dick Hebdige und seine Studie "The Meaning of Style". Eine seiner Hauptthesen ist, dass der Mainstream sich immer Dinge aus der Subkultur oder der Protestbewegung aneignet. So wie eine bestimmte Art, sich im Punk zu kleiden, zum Beispiel von Vivian Westwood auf den Laufsteg gebracht wurde. Da tauchte die Sicherheitsnadel in der Backe der Punks plötzlich auf dem Runway auf. Und dann ging es weiter in den Mainstream. Irgendwann konnte man dann eine Hose kaufen, wo die Sicherheitsnadel am Hosenbein hing, und das war dann hip und in. Hebdige argumentiert, dass durch diese Aneignung Dinge entschärft werden und ihre politische Sprengkraft verloren geht.
Und dass sie damit die nächste Protestwelle evozieren...
Wobei ich bezweifle, dass das heute noch der Fall ist.
Haben Sie den Eindruck, die Wellen werden einfach immer etwas niedriger und irgendwann ist es dann nurmehr eine gekräuselte Oberfläche?
Ja, das trifft es vielleicht. Wenn wir noch mal an den Anfang und Ihre Aussage über "Tristesse Royale" zurückgehen, dass das Buch gut sei, weil es polarisiert habe - kann man denn in diesem Kontext den Begriff "Protest" überhaupt noch anschließen?
Es ist sicher nicht mehr der Protest, den wir von der Generation vorgeführt bekamen, die innerhalb unserer Lebensspanne den großen Protest schlechthin inszenierte, nämlich die 68er. Aber es fragt sich, ob darin vielleicht auch eine gewisse Einmaligkeit lag, weil die Konfrontation zwischen den Nazis und den Blumenkindern doch ganz enorm war. Woran sich folgend ein Generationskonflikt entzündete, der vielleicht in einem gewissen Sinne eine historische Sache war. Die Frage ist auch, ob sich nicht wieder eine gewisse Kontinuität zwischen den Generationen einstellen wird und man gedanklich einfach noch der Idee anhängt, dass es explodieren muss. Punk zum Beispiel war ja auch nur noch dieses Zurückschwappen gegen die Hippies. Danach kam eigentlich mit Techno etwas auf, was sich eher im gekräuselten Wasser abspielte, was schon kleine Fronten aufmachte, aber keine, die sozusagen richtig an die große Politik rührten.
War Techno denn nicht in erster Linie total hedonistisch -- und damit auch Ausdruck der so genannten "Generation Golf"?
Gegenfrage: Ist Hedonismus nicht auch was ganz Politisches? L'art pour l'art war doch zum Beispiel im 19. Jahrhundert eine extrem politische Haltung gegenüber der von der Obrigkeit eingeforderten "Moral von der Geschicht'". Ich denke, man findet immer wieder seine dissidenten Positionen, aber dieser ganz große Gegenentwurf, wo man auch dachte, man könne das andere Leben führen, diese Illusion ist vielleicht weg, und insofern geht es tatsächlich um Kleinteiliges, um Distinktionen, die den Politikern auch egal sein können. Von daher stimmt es schon; es ist in gewissem Sinne eine Depolitisierung der großen Protestbewegungen. Wenn sich allerdings die Arbeitsverhältnisse so weiter entwickeln wie bisher, gibt es vielleicht auch wieder richtige ökonomische Kämpfe ums Überleben. Denkbar ist alles.
Nachdem wir jetzt schon so viel über politische Fragen gesprochen haben, lassen Sie mich auch damit abschließen: Kann es im 21. Jahrhundert in Deutschland noch einen öffentlichen Intellektuellen geben? Oder stirbt derselbe mit Autoren wie Günter Grass und Martin Walser aus? Oder nimmt er nur neue Formen an? Die Frage hat zum Hintergrund, dass es in der jüngeren Autorengeneration geradezu einen Unwillen zu geben scheint, sich öffentlich zu bestimmten Dingen zu äußern.
In der Apparatur der Medienöffentlichkeit gibt es den öffentlichen Intellektuellen durchaus noch. Ich werde alle paar Wochen wegen irgendwas angerufen, wo ich mich in Radiosendungen oder auch Feuilletons äußern soll. Da kann George Bush wiedergewählt worden sein oder die Twin Towers angegriffen werden - dauernd werden wir Schriftsteller gefragt. Die Redaktionen funktionieren jedenfalls noch so. Aber ich glaube auch, dass sich unter den jetzigen Schriftstellern zunehmend ein Unwille einstellt. Wieso sollten denn wir etwas darüber wissen, was nicht ein kluger Journalist sowieso folgern kann? Oft es geht es aber auch um eine Art Mobilmachung, speziell, wenn politische Dinge eintreten, wie zum Beispiel der 11. September 2001. Da sollten plötzlich alle Schriftsteller was zu sagen, und eigentlich war man doch genauso erschrocken oder auch verwirrt wie alle anderen auch. Und da geht es dann darum, so einen erhabenen Sound herzustellen, mit schönen Worten, der schon einer Art politischer Mobilmachung oder aber auch der Stabilisierung dienen kann. Ich finde das sehr fragwürdig.
Auf der anderen Seite habe ich mich auch immer mal wieder selbst geäußert. Zum Beispiel habe ich mich beim Balkankrieg auch aufgeregt, da kam quasi der innere Peter Handke bei mir durch. Dass die deutsche Armee drei Mal in einem Jahrhundert Belgrad zerbombt, fand ich einfach skandalös. Und ich habe mir einfach nicht zugetraut - und auch unserer Regierung nicht - darüber zu befinden, wer jetzt in diesem wirklich schmutzigen Auflösungskrieg Jugoslawiens, der natürlich auch von der deutschen Außenpolitik forciert war, die Guten und die Bösen sind. Es war mir einfach derart unangenehm, Deutschland erneut als kriegsführendes Land zu erleben, dass ich mich da gerne auch öffentlich protestierend geäußert habe. Es ist wirklich eine schwierige Frage, denn eigentlich finde ich es kompletten Quatsch, andererseits gilt es noch immer. Und manchmal will man nicht, und manchmal ist man vielleicht auch ganz froh über eine Chance, öffentlich was zu sagen.
Herr Meinecke, haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch.
Hat Spaß gemacht und mich jetzt richtig erfrischt.
Anmerkung der Redaktion: Anke Biendarra führte dieses Gespräch mit Thomas Meinecke am 28. Oktober 2006 in Cincinnati (USA).
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