Die Souveränität des Konsumenten

Nico Stehrs Gesellschaftstheorie zur "Moralisierung der Märkte"

Von Gustav MechlenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gustav Mechlenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Verlockende an der Moral ist, dass man sie neuerdings im Supermarkt kaufen kann. Es kommt nur darauf an, die richtige Wahl zu treffen: Ist die Milch auch Bio, der Kaffee fair gehandelt, das Kleid garantiert aus Soja, der Teppich sicher nicht von Kinderhand geknüpft? Ich kaufe ökologisch korrekt ein, also bin ich ein guter Mensch, so lautet das Credo der einflussreichen amerikanischen "Neo-Greens", die im Vergleich zu den deutschen Ökos der frühen Jahre nicht Konsumverzicht predigen. Im Gegenteil: Die Welt verbessern, das lässt sich am besten mit einer ausgedehnten, moralisch sauberen Shoppingtour bewerkstelligen. Nicht umsonst trägt der US-Dollar schließlich den Spitznamen Greenback.

Nachhaltigkeit, Fairness, Solidarität - diese ethischen, nicht ökonomischen Werte sowohl auf Seiten der Konsumenten als auch der Produzenten und Vermarkter verändern die Wirtschaft grundlegend, schreibt der Kulturwissenschaftler und Soziologe Nico Stehr in seinem Buch "Die Moralisierung der Märkte". Eine Schlüsselrolle komme dabei neben dem steigenden Lebensstandard - Moral ist, wenn man es sich leisten kann - dem "umfassenderen Wissen" zu: So steht der Konsument jeden Tag vor der Aufgabe, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Ein geradezu heldenhaftes Unterfangen, das ihn dazu verpflichtet, gründlich zu recherchieren, wie die Produkte hergestellt, vertrieben und vermarktet werden. Wissensbasierte Ökonomien sind moralisch. Waren und Dienstleistungen haben nicht mehr nur einen ökonomischen Wert, sondern ihnen wird auch ein moralischer Wert zugeschrieben oder abgesprochen wie beispielsweise bei der Solar- oder Atomenergie. Auf diese gesellschaftlichen Veränderungen muss die Ökonomie, die nie immun war gegenüber kulturellen oder normativen Werten, zunehmend reagieren und sich von der Vorstellung neutraler Waren und Dienstleistungen lösen. Bei Nichtbeachtung dieser Veränderungen droht schlicht und schmerzlich sinkender Profit. Die These von der Moralisierung der Märkte besagt nicht, dass die Märkte kollabieren, dass der Wettbewerb uneffizient ist, dass die Preise ihre Funktion im Wirtschaftssystem nicht länger ausüben können oder dass der Freiheitsgrad der Produzenten völlig untergraben wird. Gemeint ist dagegen, dass der moderne Konsument aufgrund fundamentaler Veränderungen im Wirtschaftssystem und in der Gesellschaft seine Produktwahl zunehmend aus anderen Überlegungen heraus trifft als aus Gründen der reinen "Nützlichkeit".

Mit kurzen, präzisen Sätzen und mit ausnahmsweise verblüffend angenehmem didaktischen Insistieren erleichtert Stehr den Einstieg in eine Gesellschaftstheorie, die entgegen der verwandter Bücher zum Thema der sich ständig stapelnden Berater- und Ratgeber-Literatur für verzweifelte und gestresste Ökonomen keine Komplexität scheut und niemals zu einer Aneinanderreihung wohlfeiler Faustregeln verkommt.

Diese komplexe Darstellung bedeutet allerdings, dass Nico Stehr einen Großteil seines Buches mit abgrenzenden Argumentationen gegenüber den bekannten ökonomischen Theorien befasst ist. Angefangen vom äußersten liberalistischen Rand, den neoklassischen Theorien vom Ende des 19. Jahrhunderts, die vom Markt als moralfreier Zone ausgehen, von Systemen, die stabil laufen, lediglich aufgrund des je individuellen Profitstrebens. Aber auch die Gegner jener neoliberalen Theorien genauso wie die marxistischen Theoretiker von Adorno bis Marcuse treffen Stehrs Kernthese nicht. Diese zumeist mit soziologischen und ethnologischen Untersuchungen befassten Überlegungen insistieren darauf, dass Moral zur Grundausstattung menschlichen Handels gehört, weil man schließlich nicht vom Himmel fällt und sofort beginnt einzukaufen, sondern weil man umständlich und langwierig erzogen wurde und einem moralische Beweggründe vor jeder Kaufentscheidung eingeprägt sind.

Bereits diese unmittelbar einleuchtende Tatsache wurde von der Ökonomie aber bisher nie als fester Bestandteil anerkannt, was angesichts der eindeutig auf moralische Werte wie Verantwortung, Umwelt und Gesundheitsbewusstsein et cetera abzielenden Verführungen der werblichen Maßnahmen des Marktes verwunderlich ist. Was nichts an solchen Schlachtrufen ändert wie "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral", aber wer keinen Hunger leidet, kann sich sehr gut mit moralischen Argumenten Distinktion und Einfluss verschaffen. Stehr insistiert deshalb auf dem Tatbestand, dass die luxuriösen Lebensumstände in reichen Industrienationen eine Moralisierung nach sich zieht. Ob die Welt dadurch besser wird, vermag der Autor nicht zu entscheiden. Der von ihm ausgemachte Trend allerdings, dass Konsument und Produzent bestimmte Eigenschaften und Verpflichtungen ihrer Staatsbürgerrolle auf die Rolle als Verbraucher übertragen, ist seiner Einsicht nach demokratischen Gesellschaften durchaus angemessen.

Stehrs ausführliche Darstellungen verschaffen dem Leser, immer mit der Perspektive auf seine These, eine rasante Rekapitulation der bestehenden ökonomischen Theorien und treffen einen Punkt, über den sich in etlichen Schriften und Talkshows besinnungslos hinweggesetzt wird. Es gibt keine Neutralität, nirgends, auch nicht in der Ökonomie.

Ist das Geheimnis der unsichtbaren Hand, von der Adam Smith, der Begründer der klassischen Volkswirtschaftslehre, vor 250 Jahren sprach, damit nun endgültig gelüftet? Das allgemeine, gesellschaftliche Glück wird maximiert, indem jedes Individuum sein persönliches Glück erhöht, so beschrieb der schottische Moralphilosoph damals das Wunder, dass der Markt "wie durch eine unsichtbare Hand" sozialverträglich regulierend wirkt. Fast scheint es so, als wolle "Die Moralisierung der Märkte" die Lösung dieses Problems für unsere moderne globalisierte Welt nahe legen. Der Kapitalismus heilt sich selbst, könnte man meinen. Doch an einen Automatismus glaubt auch Stehr nicht, dafür aber an die Souveränität der Konsumenten, und deren "Hände" sind bei den Kaufhandlungen keineswegs immer unsichtbar.


Titelbild

Nico Stehr: Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
379 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518294314

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