"Poetry makes nothing happen"

Im "Text+Kritik" -Heft "Benutzte Lyrik" befassen sich neun Autorinnen und Autoren mit unterschiedlichen Facetten "politischer Gebrauchslyrik"

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lyrik bewirkt nichts. Weder vermag sie politische Verhältnisse zu ändern, noch das irische Wetter. So resümierte zumindest W.H. Auden anlässlich des Todes seines Dichterkollegen William Butler Yeats. Doch solch skeptischen Unkenrufen - oder eher Unkenversen - zum Trotz gibt es immer wieder selbst- und sendungsbewusste Lyrikerinnen und Lyriker, die ihren poetischen Werken einen außerliterarischen Zweck zuschreiben und sie aus dem gesicherten Elfenbeinturm ästhetischer Spielereien in die raue Realität politischer und gesellschaftlicher (Miss-) Stände entsenden.

Das Problem dabei: Wird Lyrik solcherart als "Gebrauchslyrik" konzipiert, ist sie meist so hochgradig zeit- und situationsgebunden, dass sich retrospektiv fast nur noch Literaturwissenschaftler und Literarhistoriker für sie interessieren - wie etwa die neun Autorinnen und Autoren, die sich im 173. Heft der "Text+Kritik"- Reihe mit unterschiedlichen Facetten "Benutzte[r] Lyrik" auseinandersetzen und dabei Beispiele politisch engagierter Lyrik von der frühen Arbeiterdichtung des 19. Jahrhunderts bis hin zu den späten Gedichten Hans Magnus Enzensbergers in den Blick nehmen.

Den Auftakt des Heftes bildet eine Untersuchung des Hauptherausgebers Hans Ludwig Arnold zur "Deutschen Arbeiterdichtung von den 1840er Jahren bis in die 1930er Jahre". Dabei charakterisiert Arnold Arbeiterdichtung als lyrische Form, die alles andere als eine l'art pour l'art-Ästhetik repräsentiert: Häufig speziell für bestimmte Zusammenkünfte wie etwa Arbeiterversammlungen verfasst, mussten diese Gedichte nach Möglichkeit sangbar sein oder doch zumindest balladesk-erzählend und sollten den Versammelten ein Gefühl des Zusammenhalts und der Zugehörigkeit vermitteln. Darum suggeriert sich der Sprecher in diesen Gedichten auch eher als kämpferisch-solidarisches 'Wir' denn als bürgerlich-subjektives 'Ich'. Der literarische Wert beziehungsweise das künstlerische Innovationspotential dieser Art von Dichtung war - zumindest zunächst - vergleichsweise gering: Da man sich als gesellschaftliche, nicht aber als künstlerische Avantgarde verstand, wurden vor allem bereits etablierte literarische Klischees bemüht, wobei Anspielungen auf antike Mythologie eine zusätzliche Nobilitierung der eigenen Sache bewirken sollten. Arnold zeichnet in seinem Beitrag jedoch auch einen Wandel der Arbeiterdichtung nach: (Arbeiter-)Dichter wie etwa Heinrich Lersch und Gerrit Engelke emanzipierten sich zunehmend von der Arbeiterklasse und beharrten stärker auf ihrer künstlerischen Individualität - nicht zuletzt auch durch die Übernahme des expressionistischen Sprachgestus. Doch auch das 'lyrische Wir' wurde einer (verhängnisvollen) Entwicklung unterzogen: Der gegen Ende des Ersten Weltkrieges einsetzende Wandel von einem klassengebundenen zu einem deutsch-nationalen 'Wir' sollte wenig später den Nationalsozialisten in die Hände spielen. Diese wiederum schalteten auch die Arbeiterdichtung gleich, ließen viele der Lyriker verbieten und ihre Werke verbrennen. Zwar gab es einige, die sich mit den Nationalsozialisten zu arrangieren vermochten, doch als eigenständige Literaturform existierte die Arbeiterdichtung fortan nicht mehr.

Mit dem identitätsstiftenden Aspekt von Lyrik beschäftigt sich auch Ingo Stöckmann in seinem Beitrag "Bismarcks Antlitz", in dem er die stereotype Charakterisierung des 'eisernen Kanzlers' als "aufrichtigen und treuen Deutsche[n]" in den zahlreichen Bismarck-Gedichten des späten 19. Jahrhunderts untersucht. Durch die Propagierung dieser Eigenschaften, so argumentiert Stöckmann, kam es zu einer "inneren Reichsgründung", die insbesondere auch durch den performativen Vollzug der als Vortragslyrik konzipierten Gedichte möglich wurde: "die Gebrauchssituation der Texte [errichtet] eine Gemeinschaft, die sich im hörenden Nachvollzug des Textsinns zur gefühlten Nation wandeln soll".

In ihrem ausgesprochen aufschlussreichen Beitrag zu "Walter Mehrings 'Gebrauchslyrik'" wiederum geht Ruth Flockrack der Frage nach, ob Gebrauchslyrik auch nach ihrem 'Gebrauch' noch Relevanz besitzt. Von Walter Benjamin bereits als "Konsumartikel" abgetan, erweisen sich im Zuge der Analyse Mehrings Gedichte aus seinem 1922 veröffentlichten Band "Das politische Cabaret" als gezielte, dadurch allerdings auch zeitgebundene Provokationen; dabei erfüllten einige der Gedichte, wie etwa das bereits im Titel hoch-provokante "Coitus im Dreimäderlhaus", ihren 'Zweck' allerdings schon dadurch, dass sie gar nicht erst publiziert wurden. Das Resümee, das Florack in Bezug auf Mehrings Lyrik zieht, kennzeichnet diese allerdings als weitgehend 'verbaucht': "Als wohl kalkulierte Aktion ist solch ein sinnlicher Affront mittels Sprache jedoch räumlich wie zeitlich an die Situation gebunden und mit der Reaktion - der Abwehr der zugemuteten Provokation - auch verbraucht. Die spätere Überlieferung der Texte im Rahmen einer Sammlung reduziert sie zwangsläufig auf den Status von Dokumenten."

In "Ein großer Wurf und sein Scheitern" untersucht Ursula Heuenkamp am Beispiel der Lyrik Brechts und Bechers, wie die Verfasser so genannter "proletarischer Lyrik" versuchten, ihr Publikum zum Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur zu mobilisieren - und wie sie damit scheiterten. Inhaltlich nahtlos, stilistisch jedoch ausgesprochen medias in res schließt sich Jan Knopfs Beitrag zur Brecht'schen "Medienlyrik" an; Knopf legt anhand einer Analyse von Brechts "Notwendigkeit der Propaganda" dar, wie dieser die Unterbrechungen durch nationalsozialistische Störsender, die die Rundfunkübertragungen seiner Lyrik durch den Deutschen Freiheitssender erschweren sollten, zum lyrischen Kompositionsprinzip machte.

Peter Brenners erhellende Untersuchung zu den "Traditionszusammenhängen nationalsozialistischer Lyrik" wiederum lässt Parallelen zwischen der Lyrik des Nationalsozialismus und der eingangs von Arnold charakterisierten frühen Arbeiterlyrik deutlich werden: Ebenso wie die Arbeiterdichtung des 19. Jahrhunderts war auch die nationalsozialistische Lyrik weitgehend epigonal und stellt sich über weite Strecken als relativ uninspirierte Melange aus literarischen Versatzstücken dar. Doch Brenners Beitrag wirft darüber hinaus auch Fragen nach der Verbindlichkeit von Kunst und der moralischen Verantwortung des Künstlers auf: Hatten etwa Dichterinnen wie Agnes Miegel und Gertrud Fussenegger zumindest in einigen ihrer Werke den Nationalsozialismus noch hymnisch-sakral verklärt, so distanzierten sie sich nach dem Krieg von ihrer "ideologischen Süchtigkeit" (Fussenegger) und ihre Apologeten versuchten, diese als fehlgeleitete, naive 'Schwärmerei' zu entschuldigen. Bald wieder mit zahlreichen offiziellen Preisen bedacht - Fussenegger bekam, wie Brenner in Parenthese feststellt, unter anderem 1993 den Jean-Paul-Preis des Freistaates Bayern, Miegel erhielt 1959 den Großen Kulturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste - waren sie künstlerisch und scheinbar auch moralisch weitgehend rehabilitiert. Auch zur ästhetischen Ehrenrettung Josef Weinhebers, der in seinen drei Oden aus der Sammlung "Blut und Stahl" in klassischer Form einen "Hochgesang auf den deutschen Rüstungsarbeiter" zum Besten gab und die "Strassen Adolf Hitlers" feierte, eilen in letzter Zeit vermehrt wohlwollende Exegeten, die ihm, wie unlängst der Lyriker Steffen Jacobs in seinem "Lyrik-TÜV", bescheinigen, er habe - bei allen bedauernswerten politischen Verfehlungen - doch zumindest einige wirklich "großartige" Gedichte verfasst. Demnach ließe sich also das politische Engagement einzelner Lyrikerinnen und Lyriker weitgehend problemlos von den poetischen Meriten ihres übrigen Œuvres trennen, sollte sich herausstellen, dass sie auf das falsche ideologische Pferd gesetzt haben. Gerade dieser Rückzug in den künstlerischen Elfenbeinturm jedoch führt den Gedanken engagierter Lyrik beziehungsweise engagierter Kunst ad absurdum: Inhaltliche Aussagen werden dadurch zu unverbindlichen und sekundären, dem 'Eigentlich-Künstlerischen' untergeordneten Komponenten erklärt, denen zumindest retrospektiv jegliche konkrete Wirkmächtigkeit abgesprochen wird; oder, in den Worten Audens: "Poetry makes nothing happen."

In ihrem zweiten Beitrag zeichnet Ursula Heuenkamp die "DDR-Lyrikdebatten der 1960er Jahre" nach, die sich an einer 1962 von Stephan Hermlin organisierten Lyrik-Lesung entzündeten. Gerade durch den deutlichen literarhistorischen Schwerpunkt des Beitrags zeigt sich erneut die starke zeitliche Gebundenheit politischer Lyrik ebenso wie der sie begleitenden Debatten. Während Hermann Korte daran anschließend das "epigrammatische Gedicht um 1968" in den Blick nimmt und dabei nicht nur Epigramme Frieds betrachtet, sondern auch die weniger bekannten Gedichte Arnfried Astels und Günter Bruno Fuchs', bilden Gunter E. Grimms Überlegungen zur politischen Lyrik Hans Magnus Enzensbergers den Abschluss des Heftes.

Insgesamt überzeugt "Benutzte Lyrik" sowohl durch die Breite des Spektrums bei der Auseinandersetzung mit dem Thema als auch durch die Qualität einzelner Beiträge. Gerade deshalb, so steht zumindest zu Hoffen, werden nicht nur literarhistorisch Interessierte das Heft mit großem Gewinn lesen.


Titelbild

Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Benutzte Lyrik. Heft 173.
edition text & kritik, München 2007.
116 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783883778686

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