"Du Hundeland, Sauvater"

In seinem zweiten Roman "Heldenfriedhof" seziert Thomas Harlan erbarmungslos die Verlogenheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft

Von Jonas EngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Engelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die aus der Ignoranz gegenüber den Opfern resultierende Wut auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft ist es, die "Heldenfriedhof", Thomas Harlans zweiten Roman, ebenso wie dessen zentrale Figur Enrico Cosulich, vorantreibt. Die Biografie seines Vaters, des Regisseurs Veit Harlan ("Jud Süß"), mag mit dazu geführt haben, dass Thomas Harlan sein Leben in den Dienst der Bekämpfung und Verurteilung der Nazi-Verbrecher gestellt hat, von der Beschaffung von Beweismaterial aus polnischen Archiven zur Unterstützung der Anklage in den Auschwitz-Prozessen (was ihm in Deutschland ein Verfahren wegen Landesverrats einbrachte), über seine Filmarbeiten (am Bekanntesten wohl "Wundkanal" von 1984, der die NS-Vergangenheit des für den Bau von Stammheim zuständigen Beamten Paul Werner offen legt), bis hin zu seinem Romandebüt "Rosa", der sich mit dem ersten deutschen Vernichtungslager Chelmno auseinandersetzt. Jedoch nimmt die Reduktion auf die Wut gegenüber dem Vater dem Buch seine Wucht, seinen Hass auf den deutschen Staat, dem Harlan bereits 1948 Richtung Paris (wo er mit Gilles Deleuze in einer WG lebte) den Rücken kehrte, und wo er noch heute offiziell gemeldet ist.

Die Handlung von "Heldenfriedhof" ist in Italien - einem anderen Land, in dem Harlan zeitweilig lebte - angesiedelt. Ausgangspunkt ist das Jahr 1962, von dem aus in Richtung Vergangenheit und Zukunft geblickt wird: Am 26. Mai 1962 werden auf dem Triester Friedhof die Leichen von 15 Männern gefunden, die sich in selbst ausgehobenen Gräbern das Leben genommen haben; es handelt sich dabei, wie man schnell herausfindet, um Angehörige der "Abteilung Reinhard", die unter der Leitung von Odilo Globocnik und der Aufsicht Christian Wirths für den Bau der ersten Vernichtungslager in Polen zuständig gewesen war. Unter Wirth wird 1943 ein Teil der Abteilung nach Italien verlegt, wo mit der systematischen Ermordung der italienischen Juden in einer ehemaligen Reismühle im Triester Stadtteil San Saba begonnen wird. Eines der Opfer war Margarita Dürr, Enrico Cosulichs Mutter, deren Spuren sich in einem Zug Richtung Deutschland verlieren. Nach dem Krieg findet ihr Sohn statt ihrer Spuren diejenigen der an den Ermordungen Beteiligten, die unter alten und neuen Namen unbehelligt in Deutschland und Österreich leben. Gemeinsam mit Freunden, unter anderem Hermann Langbein vom Internationalen Auschwitz Komitee, spürt er sie auf, fotografiert sie und fertigt Dossiers über ihre bürgerlichen Nachkriegsleben an, ihre mit "Wüstenrot erbauten Familien". Die Beschäftigung mit diesem Teil der Geschichte zermürbt ihn mehr und mehr, an einer Stelle heißt es, dass Enrico unter der Last des Gesagten, beziehungsweise Ungesagten zusammenzubrechen drohe.

Das Ungesagte ist das Schweigen der ehemaligen NS-Schergen, die sich lieber am Grab ihres ehemaligen Führers Wirth umbringen, als dieses Schweigen zu brechen: der kollektive Selbstmord ist die Erfüllung eines Eides, eher zu sterben, als dem Feind in die Hände zu fallen (dieser kollektive Selbstmord ist eine der wenigen nicht historisch verbürgten Aussagen des Buches, lediglich zwei Mitglieder des Kommandos brachten sich in selbstgeschaufelten Gräbern um, um nicht gegen ihre ehemaligen Kameraden aussagen zu müssen; der Eid existierte, wie aus Briefen hervorgeht, wirklich). Und genau das hatte ihnen durch die Forschungen Cosulichs gedroht, die die Staatsanwaltschaft aufmerksam hat werden lassen. Cosulich verarbeitet seine Ergebnisse in einem Roman namens "Heldenfriedhof", dessen erstes Kapitel den Kollektivselbstmord beschreibt und am Tag vor diesem in einer Zeitung erscheint. Eine wirkliche Erklärung für diesen Zufall gibt es nicht, außer dass Cosulich seine Gegner so gut beobachtet hat, dass er ihre Schritte vorausahnen konnte. Aber auf Erklärungen hat es der Roman auch nicht abgesehen, vielmehr will er den Leser in seiner Sperrigkeit von einfachen Erklärungen im Kontext des Nationalsozialismus abbringen.

In "Heldenfriedhof" kulminieren all die Stränge, die Harlan in seinem Leben verfolgte; es ist ein wissenschaftlich absolut fundiertes Buch über die Biografien von Naziverbrechern vor und nach 1945, also vielmehr ein "Untersuchungsbericht", ein ins "Unendliche reichendes Forschungsprojekt", wie ein Protagonist das Buch im Buch umschreibt. Harlan rückt bisher noch nicht allzu bekannte Nationalsozialisten und Hintergründe wie eben den Versuch, die "Erfahrungen" aus Polen in Italien nutzbar zu machen, in den Mittelpunkt. Beispielhaft dafür steht der innerhalb von "Heldenfriedhof" zentrale Name August Dietrich Allers. Wahrscheinlich nur einigen Historikern ein Begriff, war der Jurist als Geschäftsführer der Euthanasiezentrale maßgeblich an den Planungen der Massentötung Behinderter beteiligt. Als Mitglied der "Abteilung Reinhard" wurde er 1944 Wirths Nachfolger in Triest, nachdem dieser von Partisanen erschossen worden war. Nach 1945 lebte er unter seinem bürgerlichen Namen in der BRD, unterstützte alte Kameraden, bis er 1968 wegen Beihilfe zum Mord in 34.549 Fällen zu acht Jahren Haft verurteilt wurde, von denen er zwei abzusitzen hatte.

"...du Land, du Deutsch, du, gehe, du, du, doch du, gehe, doch hin, knie, hin, du Tag, du Sau, du einhelliges, Schwein du, ihr alle ihr, du, ihr alle ihr, zweideutigen, ihr, du Hundeland, Sauvater, du Land, du Un, du Tier...". So steht es in "Heldenfriedhof" hinter einer 15 Seiten langen namentlichen Aufzählung aller 510 Abgeordneten des deutschen Budenstages, die 1968 dem so genannten Ordungswidrigkeiten-Gesetz zustimmten, dem "größten deutschen Nachkriegsverbrechen", das zum Abbruch fast aller noch anhängigen Verfahren gegen deutsche Nazi-Täter führte.

Die Fassungslosigkeit Harlans angesichts einer solchen Politik durchzieht den gesamten Roman, der sprachlich sicherlich eines der mächtigsten und, dem Thema angemessen, sperrigsten deutschsprachigen Bücher der letzten Jahre ist. Selten wurde eine Abneigung gegen Deutschland formal so virtuos verpackt. Doch trotz aller formalen Größe bleibt immer deutlich, dass es Harlan vor allem am Inhalt gelegen ist, der sich eben nur auf diese Weise in Worte fassen lässt, wenn auch die Sprache den Erzählern, von denen es mehrere nebeneinander gibt, angesichts dessen, was sie zu berichten haben, des öfteren versagt. Thomas Harlan erzählt die Geschichten der Täter, die sich immer wieder überschneiden und deren Spuren durch den Text zu folgen ebenso schwierig wird, wie ihre Verwandlungen in unauffällige Bürger zu durchschauen sind.

"Dies alles ist frei erfunden und doch hoffe ich, du würdest einen Augenblick lang daran zweifeln", heißt es an einer Stelle im Buch. Aber spätestens hier hat man schon begonnen, sämtliche Namensregister der eigenen Bücher über den Nationalsozialismus zu durchforsten - nur um festzustellen, dass zumindest dieser Satz nicht stimmt.


Titelbild

Thomas Harlan: Heldenfriedhof. Roman.
Eichborn Berlin, Berlin 2006.
584 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3821807644
ISBN-13: 9783821807645

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