Unterwegs nach immer und überall
Zum Sammelband "Road Movie" von Norbert Grob und Thomas Klein
Von Fehmi Akalin
Erfolgreiche Genrebezeichnungen sind vor allem deshalb so erfolgreich, weil sie ihre Funktion als orientierende Kommunikationskonventionen zwischen Produzenten und Rezipienten relativ friktionslos erfüllen. Welche Merkmale beispielsweise den Western konstituieren, muss sich der Zuschauer nicht jedes Mal aufs Neueste in Erinnerung rufen, wenn er mit einem derart etikettierten Film konfrontiert wird - meint er, mit Western nichts anfangen zu können, kann er ruhigen Gewissens und ohne Aktualisierung der konkreten Gründe einen großen Bogen um ein Exemplar dieser Gattung machen, welches ihm seine Programmzeitschrift da für den Fernsehabend ankündigt. Bei solch etablierten Metagenres geraten analog dazu auf akademischer Seite explizite Definitionsbemühungen eher in den Hintergrund - der genretheoretische Zugang sedimentiert dann zu einem Analyseinstrumentarium neben anderen.
Etwas anders sieht die Sachlage bei kleineren Filmgenres und solchen, die es sein sollen, aus. Es ist insofern ein interessantes Vorhaben, das die von Norbert Grob betreute Reihe "Genres/Stile" im Mainzer Bender-Verlag in Angriff angenommen hat. Neben den bereits erschienenen Bänden zur "Nouvelle Vague" und zum "Road Movie" stehen weitere Arbeiten zum "Politthriller", zum "Noir Kino", zum "Gefängnisfilm" und zum "Neuen Deutschen Film" auf dem Programm - eine willkommene Alternative zu gängigen Buchreihen über klassische Filmgenres, die den Filmbuchmarkt nach wie vor dominieren.
Es kann bei diesen wenig etablierten Genres durchaus reizvoll sein, sich bezüglich ihrer Konturierung eine gewisse explorative Naivität zu erlauben, indem man von der Einbettung von Genres in einen Kommunikationszusammenhang absieht und so tut, als existiere der Untersuchungsgegenstand als unmittelbar zugängliche Entität - als Textsorte eben. Es dürfte daher recht aufschlussreich sein, die Autoren der vorliegenden Publikation dabei zu beobachten, mit welchen Mitteln sie versuchen, das Phänomen Road Movie dingfest zu machen. Tatsächlich fällt hier zunächst auf, dass einer textualistischen gegenüber einer konventionalistischen Objekterfassung der Vorzug gegeben wird: das Genre soll primär anhand seiner textuellen Strukturmerkmale bestimmt werden.
Bei der Antwort auf die Frage, was denn das Road Movie im Innersten zusammenhalte - Strukturalisten würden hier wohl von der Tiefenstruktur des Genres sprechen -, scheinen sich die einzelnen Beiträger auch durchaus einig zu sein: Road Movies bildeten "in ihrem innersten Kern ein Genre des Aufbruchs", sie zehrten von der "Problematik der Heimat-, Identitäts- und Sinnsuche", häufig hätten die Filme die "Suche nach einem freien Weg innerhalb der reglementierten Gesellschaft" zum Thema, ihre Protagonisten seien entsprechend "Suchende, die ihr Leben nicht in den Griff kriegen", die "nicht in die als festgefahren, als betoniert erlebten Verhältnisse wollen, sondern etwas suchen", getrieben von einem "Wille[n] zum Aufbruch, um Äußeres neu wahrzunehmen, auf das sich auch Inneres verändert".
Dies alles ist gewiss nicht falsch, aber wenn man will, kann man diesen Motivkomplex auch in vielen anderen Filmen entdecken, die man nicht unbedingt dem Genre des Road Movie zuschlagen würde. Dieser Eindruck des Unverbindlichen wird noch verstärkt durch die These der Herausgeber, dass die Entwicklung und die Blütezeit dieses genuin amerikanischen Genres in auffallender Weise mit der "Krise" der amerikanischen Gesellschaft korreliere, so Ende der 1940er-Jahre als Folge des Zweiten Weltkrieges, Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre als Folge des Vietnamkrieges und zuletzt in den frühen 1990er-Jahren als Folge des stark medial vermittelten Golfkrieges. Das Problem solcher vulgärsoziologischen Kontextualisierungen ist freilich, dass sie zu viel ein- und zu wenig ausschließen.
Dieses Problem vor Augen, wird daher zu Diskriminierungszwecken die Optik zusätzlich auf die Oberflächenstruktur der Filme scharfgestellt. Auf dieser Ebene differieren die Eingrenzungsvorschläge jedoch nicht unbeträchtlich. So changieren die beiden Herausgeber in ihrem Beitrag noch zwischen einer sehr weiten und einer etwas engeren Definition, indem sie unter Road Movies einerseits "Straßenfilme/Wegefilme/Reisefilme" allgemein subsumieren, das heißt: "Filme übers Unterwegs-Sein - über Gehen, Fahren, Flanieren, Rasen, Rennen, Schlendern, moving on the road", andererseits aber - nur wenige Zeilen weiter - "das Transportmittel" zum "zentrale[n] Element im Road Movie" erklären: "die Maschine oder das Gerät, mit dem die Protagonisten durch die Welt ziehen - das Motorrad, die Autos, die Trucks, der Bus, der Rasenmäher". Thomas Meder hingegen findet: "Das Auto" als typischstes Utensil des Road Movie könne nicht nur "ersetzt werden durch einen Lkw, ein Motorrad", sondern auch durch "eine Kutsche oder ein Raumschiff", so dass bei ihm letztlich auch der Westernklassiker "Stagecoach" als Road Movie durchgeht. Mehr Aussicht auf Konsens dürfte wohl Knut Hickethiers Offerte beschieden sein, die beiden Ebenen - die Tiefen- wie die Oberflächenstruktur - stets zusammenzudenken: "Zur großen Fahrt gehört das moderne Fortbewegungsmittel", "das rauschhafte Durcheilen", "das schnelle individuelle Fortkommen mit einem Gefährt", welches "die Entfaltung der fahrenden Subjekte in jede gewünschte Richtung ermöglicht". In diesem wohl lesenswertesten Beitrag des Bandes versucht der Autor, seine Überlegungen am Beispiel des "deutschen Road Movie" zu plausiblisieren, die er nebenbei auch mit einigen interessanten kulturhistorischen Thesen unterfüttert. Bedenkenswert ist auch Hickethiers skeptische Nachfrage, ob das Road Movie denn tatsächlich ein eigenständiges Genre konstituiere oder ob es nicht besser als ein "übergreifendes Erzählmotiv im Film" verstanden werden sollte, "das eine bestimmte Handlungskomponente fokussiert".
Wenig Erhellendes erfährt man hingegen in den beiden Beiträgen, die den intertextuellen Bezügen des Road Movie in der Printliteratur (Bernd Kiefer) und der Malerei (Thomas Meder) der so genannten Gegenkultur nachgehen. Vier weitere Aufsätze nähern sich ihrem Gegenstand 'von unten', indem sie ausgewählte Subgenres des Road Movie unter die Lupe nehmen: Neben den Motivkomplexen "Gangsterpärchen auf der Flucht" (Grob) und "Musiker on the road" (Thomas Klein), bei denen der Genrezusammenhang eher lose zu sein scheint, werden mit den "Biker-Filmen" (Marcus Stiglegger) und den "Rennfilmen" (Kai Mihm) auch evidentere Untergattungen erörtert, welche Meder wiederum lieber zu den "Vorgängern des kleinen Genres" gezählt wissen möchte. Interessant ist auch, dass Mihm in seinem Essay die elitäre Überhöhung der kanonisierten Exemplare der Gattung - die nicht selten mit einer prätentiösen Gesellschaftskritik hausieren gehen - und die komplementäre Geringschätzung der Rennfilme seitens des "gehobenen Feuilletons und (der) Filmwissenschaft" moniert, nur um sich letztlich doch wieder an den Idealen der ideologiekritischen Kunstauffassung zu orientieren, indem er versucht, bei diesen Filmen "einen unerwartet subversiven Unterton" nachzuweisen, "der bisweilen ebenso rebellisch anmutet, wie die counter culture-Ideen der kanonisierten Klassiker".
Ziemlich aus dem Rahmen fallen die reichlich geschwätzigen und eitlen "Notizen zum Unterwegs-Sein" des Vorzeige-Road-Movie-Makers des deutschen Films, Wim Wenders, welche während der Promo-Tour zu seinem jüngsten Film "Don't come knocking" entstanden sind. Auch der Beitrag von Grob über "Gangsterpärchen" beeindruckt eher mit einer überbordenden Vorliebe für Regisseur-zentrierte Kombinatorik als mit gewinnbringenden Einsichten zum Genre. Zur Rolle der Gewalt in diesen Filmen heißt es etwa: "Bei Ray und Altman (und später bei Scott) bleibt sie bloßes Mittel [...]. Doch schon bei Lewis ist sie auch Zweck [...] (was Scorsese und Malick, Lynch und Stone dann weiterführen)." Interessant - und wie sieht es aus mit der beliebten These, im Zentrum der Road Movies stünden auffallend häufig Suchende und Gejagte? Nun: "Auf Ray und Altman, Malick und Scorsese trifft dies ohne Zweifel zu. Für Lewis und Penn gilt dies weniger [...]." Vielleicht noch etwas über das erotische Verhältnis der Gangsterpärchen? Also: "Lewis und Penn (und in gewissem Maß auch Altman) zeigen schon, wie da zwei 'sich erblicken' [...]. Doch anders als Ray [...] akzentuieren Lewis und Penn, Lynch und Stone, wie diese Gefühle gerade durch den Willen zur Tat (bei Lewis und Stone) verstärkt bzw. (bei Penn und Lynch) geweckt werden." Mit etwas Mut zur Übertreibung könnte man behaupten, dass die Genretheorie, die mal als Korrektiv zu der nicht gerade selten an der Genieästhetik orientierten Autorentheorie angetreten war, hier eine gewisse Revision erfährt.
In ihrem Einleitungsbeitrag erheben die Herausgeber den etwas zu hoch gegriffenen "Anspruch", "das Genre in seiner ganzen Breite [zu] erfassen und [zu] diskutieren". Unterm Strich sollte man die Beiträge wohl als das lesen, was sie eher sind: anregende Präliminarien zum Genre des Road Movie.
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