Ihr da oben, wir da unten

Über Michael Kumpfmüllers Roman "Nachricht an alle"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie ein Phönix aus der Asche betrat Michael Kumpfmüller im Jahr 2000 die literarische Szene. Er war bereits 39 Jahre alt, als er mit seinem Debütroman "Hampels Fluchten", den die FAZ in Fortsetzungen vorab veröffentlicht hatte, für reichlich medialen Wirbel gesorgt hatte. Nach seinem von der Kritik kontrovers aufgenommenen Zweitling "Durst" (2003) hat Kumpfmüller nun mit "Nachricht an alle" ein hoch ambitioniertes Erzählwerk vorgelegt: einen polyphonen Roman, mit dem die Politik wieder in die deutschsprachige Literatur zurückgekehrt ist. Man fühlt sich bei der Lektüre ein wenig an das Treiben von Felix Keetenheuve, Wolfgang Koeppens Hauptfigur im Roman "Das Treibhaus" (1953), und an das politische Ränkespiel in Heinrich Bölls letztem Roman "Frauen vor Flußlandschaft" (1985) erinnert.

Kumpfmüller wählt einen äußerst dramatischen Einstieg. Ähnlich wie in Narvid Kermanis Roman "Kurzmitteilung" setzt eine SMS die Handlung in Gang. Selden - ein Mann von Anfang 50 und Innenminister eines nicht näher beschriebenen westeuropäischen Staates - empfängt auf seinem Mobiltelefon die erschütternde "Nachricht an alle", gesendet von seiner Tochter Anisha: "Es hat eine Explosion gegeben. Es ist entsetzlich. Wir stürzen ab. Betet für mich. Ich liebe Euch".

Wenig später erhält der Minister, der sich in Übersee aufhält, die traurige Gewissheit, dass sich seine Tochter tatsächlich unter den 180 Toten eines Flugzeugabsturzes in der Nähe von Rom befindet. Nicht wie zunächst befürchtet ein Anschlag, sondern ein "banaler Triebwerkschaden" war die Ursache. Auf Seldens Leben hat das Unglück keinerlei Einfluss. Abgeklärt und kühl geht er zum politischen Tagesgeschäft über. Seine zweite Ehe mit einer mittelmäßigen Künstlerin verläuft ziemlich routiniert, amouröse Abwechslung sucht er in Hotels - bewacht von seinen Bodyguards. Für Gefühle scheint kein Platz zu sein, den Flugzeugabsturz empfindet Selden eher als Strafe: "Wurde das Schlimmste wahr, war es die Quittung für seine Sünden, sein Versagen als Vater, als Mann, als Politiker."

Doch Kumpfmüller beschränkt sich nicht auf die eindimensionale Erzählperspektive des sich vehement an die Macht klammernden Politikers, sondern durch abrupte Szenenwechsel kommen auch Stimmen von der anderen Seite der Gesellschaft zu Wort: Journalisten, Gewerkschafter, Leibwächter und allerlei skurrile Anarchisten. Sie werden als Chöre, die des Volkes Unmut zum Ausdruck bringen, als Kontrast zu Seldens Welt in den Erzählfluss einmontiert. Schnittstellen gibt es nur wenige, sieht man einmal davon ab, dass sich Selden in eine abenteuerliche Beziehung mit der jungen Journalistin Hannah stürzt.

Kumpfmüllers Blick auf die Medien fällt alles andere als freundlich aus. Der nach Emotionen lechzende Skandaljournalismus wird in seinen schlimmsten Auswüchsen dargestellt. "Sag mir deine Gefühle, und ich sage dir, zu was wir dich verurteilen", heißt es im Roman. Reporter werden zu aasfressenden Hyänen: "Sie lebten vom Unglück anderer Leute. Sie weideten es aus, sie ernährten sich davon."

Die Ohnmacht der Politiker, die in einer eigenen Gesetzmäßigkeiten unterworfenen Sphäre leben, trifft auf die Wut der Massen, die sich in unkontrollierten, gewalttätigen Demonstrationen entlädt. "Wartet ab. Die Stunde wird kommen. Niemand weiß, wann, aber die Zeit ist reif", verkündet Rubber, ein in die Jahre gekommener Anarchist, in dessen Gefolge sich drei Graffiti-Sprüher und die psychotische Mania tummeln.

Die Proteste geraten außer Kontrolle, die Gewalt multipliziert sich auf geheimnisvolle Weise, und Innenminister Selden, der sich bisweilen eben diese Abwechslung in seinem monotonen Job sogar wünschte, wird selbst zur Zielscheibe von Attacken. Eine Bierdose wird zum Wurfgeschoss umfunktioniert, und die völlig außer Kontrolle geratene Mania geht mit einem Messer auf ihn los. Die drastische Zuspitzung der Ereignisse fungiert hier als Stilmittel zur Darstellung der völligen Entfremdung voneinander, und das rasante Erzähltempo scheint von Seldens übervollem Terminkalender diktiert zu sein. Viele Randfiguren bleiben dadurch ziemlich blass, doch Kumpfmüller geht es augenscheinlich weder um eine Analyse noch um eine Parteinahme, sondern lediglich um die pointierte Beschreibung eines fiktiven Staates, der sich auf das totale Chaos zubewegt.

"Ihr da oben, wir da unten" hieß ein 1973 erschienener, erfolgreicher Reportagenband von Bernt Engelmann und Günter Wallraff. Die in diesem Buchtitel implizierte, schier unüberbrückbare Kluft in unserer Gesellschaft hat Michael Kumpfmüller erzählerisch thematisiert. Irgendwie sind sie alle gescheitert - egal ob oben oder unten auf der sozialen Leiter. Zurecht wurde dieser Roman vorab mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet, denn die soziale Sprengkraft und die Schar der Gestrandeten ist ähnlich gewaltig wie im "Alexanderplatz".


Titelbild

Michael Kumpfmüller: Nachricht an alle.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008.
352 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783462039672

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