Pseudopolitisch, pseudokorrekt: Ein deutscher Literaturkritikskandal

Ein später Nachtrag zur Debatte um Feridun Zaimoglus "Leyla"

Von Tom CheesmanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tom Cheesman

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob sich Feridun Zaimoglu in seinem Roman "Leyla" (2006) bei Emine Sevgi Özdamars "Das Leben ist eine Karawanserei" (1992) 'bediente', bei ihr 'abschrieb', ,sich Stoff holte' - so diverse Kritiker -, lässt sich leicht ausmachen: Nein, das hat er nicht. Zwar gibt es viele punktuelle Gemeinsamkeiten. Sie lassen sich aber allesamt daraus erklären, dass die Romane von derselben konkreten Wirklichkeit handeln, nämlich der von Frauen, die in Malatya in Anatolien aufwuchsen, mit ihren Eltern und Geschwistern nach Istanbul umsiedelten, und in den 1960er-Jahren als Arbeitsmigrantinnen nach Deutschland gingen. Die Autorin Özdamar und Zaimoglus Mutter - deren Erzählungen ihm den Hauptstoff für "Leyla" lieferten - haben zum Teil ganz ähnliche Erfahrungen gemacht, ihre Kindheitserinnerungen überschneiden sich, die Romane geben manchmal die gleichen Kleinstadtanekdoten wieder, diese werden aber jeweils völlig anders erzählt. Stilistisch und formal sind die Texte ganz unterschiedlich, und schaut man sich die punktuellen Ähnlichkeiten jeweils im Kontext an, wird sofort klar, dass hier Gleiches aus der wirklichen Welt literarisch grundverschieden verarbeitet wurde.

Ein Plagiatsvorwurf ist eine ernsthafte Angelegenheit. Dieser wurde von einer Germanistin erhoben, die sich seltsamerweise noch immer hinter der Anonymität versteckt hält. Den ersten Berichten von Christoph Schröder ("Frankfurter Rundschau", 31. März 2006) und Volker Weidermann ("FAZ", 1. Juni) folgten über zwanzig weitere. Etliche JournalistInnen gaben ihren Senf zu einer kurzlebigen Sommerdebatte, die sich vor allem durch Dämlichkeit auszeichnete, und zwar auf beiden Seiten. Weder die 'Ankläger' noch die 'Verteidiger' Zaimoglus nahmen sich die Zeit, die beiden Texte zu lesen und sich nüchtern zu überlegen, was in einem solchen Fall überhaupt als 'Plagiat' gelten könnte. Die Verteidiger gaben sich generell damit zufrieden, Zaimoglu zu loben und Özdamars Werk mangels Kenntnis desselben herunter zu spielen. Als Zaimoglu publik machte, dass seine Tante und Özdamar im Siemens-Frauenwohnheim in Berlin zusammen gelebt und dort selbstverständlich Geschichten und Klatsch aus der Heimat ausgetauscht hatten, wurde sogar die absurde Anschuldigung laut, Özdamar hätte die Erzählungen anderer 'gestohlen'.

Von Feuilletonisten kann man nicht allzu viel erwarten, von Kritikern mit Hochschulanstellung wohl mehr. Doch was die Ankläger angeht, wurde ein Tiefpunkt der ignoranten Diffamierung Zaimoglus im wohl längsten Beitrag zur Debatte erreicht: Norbert Mecklenburg (mittlerweile emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur in Köln) behauptete in literaturkritik.de 7/2006, ,fast' nirgends in Zaimoglus Text seien verdächtige Stellen in der Wortwahl identisch mit entsprechenden Stellen bei Özdamar - "es finden sich fast immer kleine Abweichungen" - übrigens nennt Mecklenburg keine einzige Ausnahme zu diesem "fast immer" -, und schloss daraus: "Aber gerade darin ließe sich eine Strategie vermuten: Spuren verwischen!" Ja, "ließe sich vermuten"! Seinen Essay betitelte Mecklenburg: "Ein türkischer Literaturskandal in Deutschland?" Damit wird impliziert, es gehe um türkische Autoren. Nein, es geht um deutsche Kritiker.

Literaturkritisch wertlos

Wie alle Journalisten, die sich an dieser Debatte beteiligten, kolportiert auch Mecklenburg eine Auswahl der einzelnen Punkte, die die namenlose Germanistin herausgesucht hatte, nur betrachtet er sie als Indizien für ein Delikt, das er als begangen voraussetzt. Der Verdacht wird keineswegs etwa durch genauen Stellenvergleich erhärtet, geschweige denn durch philologische Recherche beseitigt. Als erstes Beispiel nimmt der Professor die Gemeinsamkeiten bei den Beschreibungen des Euphrats: Schlangenmetapher, 'silbern' und 'verrückt'. Das sind jedoch einfach Gemeinplätze, die in allen möglichen Euphratbeschreibungen auftauchen können. Vom ,verrückten Euphrat' schrieb der arabische Lexikograf Jauhari vor zirka 1000 Jahren ("the mad Euphrates"). Die Wendung existiert offenbar noch im Türkischen.

Das zweite und letzte Beispiel, dem Mecklenburg mehr als anderthalb Sätze widmet: In beiden Romanen wird der tote Bruder mit dem Motiv der Spinne assoziiert. Mecklenburg erklärt, hier könne es sich niemals um 'zweimaligen Zugriff auf gemeinsames kulturelles Wissen' handeln. Das wäre ,typisch kurzschlüssig': "Denn wer meint, immer wenn Türken von Toten reden, assoziieren sie Spinnen, unterschätzt sträflich den Reichtum dieses Wissens. Das Besondere und Erklärungsbedürftige an dieser Parallele ist eben, dass Zaimoglu unter den zahlreichen türkischen Sprüchen der Volkskultur über Tote - mit einer Aufzählung ließen sich viele Seiten füllen - just die eine bringt, die schon Özdamar aus dieser Fülle ausgewählt hat."

Angesichts der Tatsache, dass es in beiden Romanen von Hunderten von türkischen Weisheiten und sonstigen Elementen des Volkswissens nur so wimmelt - und dazu zählen Dutzende von abergläubischen Vorstellungen allein über Tote -, bleibt uns Mecklenburg eine Erklärung schuldig, warum es mehr als Zufall sein sollte, dass sowohl Özdamar als auch Zaimoglu in einem zum Teil ähnlichen Zusammenhang (wohlbemerkt: unter anderem) vom Motiv "Spinne" Gebrauch machen. Dem intellektuellen Format von Mecklenburgs imaginärem Gegner ("immer wenn Türken von Toten reden, assoziieren sie Spinnen"; eingangs heißt es bei ihm sogar: "Alle Chinesen sehen gleich aus") entspricht haargenau das seiner eigenen lahmen Argumentation.

Ansonsten ergeht sich der Professor über Seiten im ad-hominem-Angriff auf den Autor, doziert lang, breit und dünn, legt seinen verbalen Erfindungsreichtum selbstgefällig an den Tag. Er kann Zaimoglu offenbar weder als Person des öffentlichen Lebens noch als Schriftsteller leiden. Nun gut, Zaimoglus Texte oder seine Auftritte gefallen nicht allen, bei einer Plagiatsbeschuldigung aber bedürfte es gerade von einem gestandenen Germanisten einer irgendwie wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den textuellen und kontextuellen Tatsachen.

Mecklenburg aber liefert statt Analyse unverblümte Diffamierungen und unbegründete Spekulationen über Zaimoglus Motive als Täter. Dabei bedient er sich ungeniert des Namens und der Reputation Özdamars: "Wenn Bücher [er meint Özdamars] dieses künstlerischen Formats und dieser sprachlichen Intensität für ein Schreibprojekt [d.i. "Leyla"] ausgeschlachtet werden, das der Not des Stoffmangels und der Verführung durch ein marktgängiges Thema entsprungen sein mag, dann kann das nicht so gut ausgehen, wie es uns einige Kritiker weismachen wollen. Dem zähflüssigen, faden, konturlosen Gesamtduktus dieser 'Leyla', an der literarisch nichts Aufregendes ist als der orientalische Name, könnten noch so viele Aufpfropfungen aus fremden Büchern keinen Blütenglanz geben. Natürlich können sie auch nicht - das mag empörte Özdamar-Leser beruhigen - der 'Karawanserei' und der 'Brücke vom goldenen Horn' in irgendeiner Weise schaden. Literarische Kultur beruht nicht auf Büchern, die sich schnell verkaufen, sondern auf solchen, die über lange Zeit wiedergelesen werden. Özdamars Romane gehören dazu, 'Leyla' wohl eher nicht."

Solche Unterstellungen über Zaimoglus Motive sind praktisch unwiderlegbar; solche Meinungen zu seinen Texten aber bedürfen, jenseits von apodiktischen Werturteilen, der Fundierung auf Grund einer Textanalyse oder zumindest -beschreibung. Die wiederum setzt eine Lektüre des Textes voraus. Aus Mecklenburgs Artikel aber ist nirgends ersichtlich, dass er von dem Roman "Leyla" mehr als den Titel kennt. Er mag den Roman durchaus gelesen haben, doch tut er so, als kenne er ihn nicht. Was er daraus zitiert, sind nur die einzelnen Wörter, die von der anonymen Germanistin aufgelistet wurden und in jedem anderen Zeitungsartikel auch erschienen. Über die dargestellten Personen oder Ereignisse des Romans erfährt man rein gar nichts. Es kann nicht daran liegen, dass es Mecklenburg an Platz gefehlt hätte. Er schreibt fast 3.500 Worte, ohne eins über Figuren, Plot oder Erzählstruktur des Romans zu verlieren. Das ist schon seltsam. Und gerade an der zitierten Stelle wirken die Beschuldigungen besonders inkonsequent. Falls Zaimoglus Hauptproblem wirklich das mangelnder vulgärorientalistischer Klischees gewesen wäre, warum dann gerade bei Özdamar Stoff suchen, deren Texte laut Mecklenburg solche Klischees souverän vermeiden?

Mecklenburgs Hasstirade ist literaturkritisch wertlos. 'Kritischer Kommentar' lautet sein Untertitel. Ein Witz ist das. Gerade er, für den gerade das Fehlen von Belegen "eine Strategie vermuten ließe", schreibt in Bezug auf einen anderen Beitrag zur Debatte diesen Satz: "Weiter herunterkommen - bis in die demagogische Verteilung von Konjunktiv und Indikativ - kann eine literaturkritische Argumentation nicht mehr"! Da mag sein überschwängliches Lob auf Özdamars Werk für sie und ihre Leser nur peinlich wirken.

Terribles simplificateurs

Wo Mecklenburg von einer Second-Hand-Liste punktueller Gemeinsamkeiten und von vagen Spekulationen über vulgäre Ambitionen ausging, brachte Sieglinde Geisel in der "NZZ" vom 24. Juni 2006 unter dem Titel "Leyla: Eine Travestie?" den wohl interessantesten Beitrag zur Debatte, indem sie wenigstens den Versuch machte, einen Plagiatsvorwurf halbwegs wissenschaftlich zu fundieren. Sie geht von strukturellen Textgemeinsamkeiten aus, anstatt von bloß punktuellen, und stellt Thesen auf über ideologisch motivierte intertextuelle Bezüge, die auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Ihr Beitrag ist knapp gehalten und gelegentlich amüsant. Immerhin bietet sie eine Art Analyse, die aber jeder Grundlage entbehrt.

Eine Diskussion über "Leyla" als 'Travestie' - ein Text mit Ich-Erzählerin, den ein Mann schrieb - bleibt sie uns leider schuldig. Wie zuvor Mecklenburg verliert auch Geisel Worte über die sinnlose Unterstellung, es sei falsch, Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Romantexten auf reelle Gemeinsamkeiten im referenziellen Raum und in der referenziellen Zeit dieser Texte zurückzuführen, also in der konkreten (das heißt auch sprachlichen) Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen. Mit Geisels Worten: "die Idee eines ethnischen Pools, aus dem türkische Autoren quasi unbewusst schöpfen, [ist] ohnehin fragwürdig." So formuliert ist das nicht nur fragwürdig, sondern vollkommener Quatsch. Aber wer (außer ganz, ganz Dämliche) behauptet so was? Man stelle sich zwei Romane über Ost-Berlin in den 1980er-Jahren vor. Da wird Honecker erwähnt, die ausgewaschenen Autolackfarben, und sonst noch einiges an Lokalkolorit. Ist der später erschienene Roman dann ein Plagiat? Nicht unbedingt, und so wird man als germanophober Essentialist, Reduktivist entlarvt, als einer dieser 'terribles simplificateurs' (so Mecklenburg), die allen Deutschen eine ewiggleiche, unentrinnbare Kulturdifferenz zuschreiben.

Sobald sie die Ebene der pseudopolitischen, pseudokorrekten Verallgemeinerungen verlässt, verliert Geisel ihren Halt noch mehr. Inkonsequenterweise suggeriert sie, es sei eine "historische Unstimmigkeit", wenn Zaimoglu einen Sexualkunde-Unterricht in der Schule, im ländlichen Anatolien der 1950er-Jahre schildert, beteuert aber wenige Zeilen später, dass Malatya "keine Kleinstadt, wie mancherorts zu lesen war, sondern eine Stadt mit der Einwohnerzahl von Zürich" sei. Klar ist nur dies: Weder von der Geschichte der kemalistischen Lehrpläne noch von Stadt-Land-Beziehungen im Verlauf der Modernisierung hat sie die blasseste Ahnung. Die muss man auch nicht haben, noch weniger aber muss man Vermutungen als Fakten hinstellen.

Fingernägelschneiderei

Geisel nennt dennoch drei untersuchenswerte Punkte. Erstens: "Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Romanen finden sich nicht auf der Ebene des Erzählten, sondern unterhalb des Plots, auf der Mikroebene der sprachlichen Inszenierung. Zur Debatte steht nicht die Tatsache, dass auch in 'Leyla' das Tabu des nächtlichen Fingernägelschneidens zur Sprache kommt, sondern dass es in der gleichen Art und Weise geschieht wie in 'Karawanserei': als Auftakt zu einer Aufzählung, einer Verdichtung von Tabus, die ein kleines Mädchen im Lauf der Zeit zu hören bekommt. Diese Form der Darstellung hat nichts mit einem 'türkischen' Traditionsgut zu tun, sondern ist eine literarische Schöpfung der Autorin."

Immerhin ein scheinbar seriöser literaturkritischer Ansatz. Vergleichen wir also die relevanten Stellen mit den Tabuaufzählungen (zumal Geisel keine anderen Beispiele nennt): Özdamar zählt 20 Tabus auf, Zaimoglu sieben. Die Stelle bei Özdamar beträgt zirka 150 Wörter, die bei Zaimoglu an die 350. Von Zaimoglus Tabus steht nur das bereits erwähnte auch bei Özdamar. Bei ihm steht dieses Tabu keineswegs am Anfang, wie Geisel behauptet, sondern den 'Auftakt' bildet bei ihm ein Tabu über den Umgang mit Leichnamen. Bei Özdamar handelt es sich keineswegs um eine Aufzählung, "die ein kleines Mädchen im Lauf der Zeit zu hören bekommt", sondern um eine einmalige Rezitation von Saniye, der jungen Nachbarin der Erzählerin. (Während Mecklenburg nur Özdamars Bücher gelesen zu haben scheint, verfährt Geisel fairer, indem sie den Texten beider Autoren scheinbar dieselbe flüchtige Aufmerksamkeit schenkt.) Özdamars Aufzählung hat die Form einer wirklichen Liste. Die Tabus werden eins nach dem anderen unkommentiert benannt, 15 davon als Imperativsätze im Infinitiv, sonst ebenso unpersönlich mit "man" oder "der Mensch". Zaimoglu formuliert in vollen Sätzen in der ersten Person, und jedes Tabu wird von diskursiven Erklärungen und Erzählungen begleitet, die es in den Familienalltag einbetten.

Bei Özdamar klingt die Stelle wie folgt. Saniye will der Erzählerin beibringen:

"was ich nicht im Leben tun sollte, damit das Kismet unserer Familie sich nicht wieder knotet:
Nicht in der Nacht die Fingernägel abschneiden.
Nicht im Stehen Wasser trinken.
Bei Vollmond keine Fremden besuchen.
[...]
Keinen Löffel den Nachbarn leihen.
[...]
Auf der Strasse den Kopf nicht drehen und zurückschauen.
Am Freitag keinen Staub rausschmeißen.
[...]
Wenn ein Mädchen unter einem Regenbogen von einer auf die andere Seite läuft, wird es ein Junge, und ein Junge wird ein Mädchen.
Dann sagte Saniye: ,Und der Regen soll auf die Erde der Armen und in das Feuer der Reichen regnen, Insallah., Ich sagte auch ,Insallah'"

Insgesamt erweckt diese Stelle einen spielerischen Eindruck. Formal erinnert sie stark an bürgerliche Sammlungen von volkstümlichen Sprüchen. Diese Form rückt die scheinbare Naivität und die Absurdität der vielen kleinen rituellen Vorgaben ins Auge, und zwar nicht nur für den 'modernen', 'aufgeklärten' impliziten Leser (der hier natürlich auch das ,Exotische' genießt). Die Stelle suggeriert im Kontext zudem die sich anbahnende Skepsis der Mädchen solchen Überlieferungen gegenüber. Auffallend ist dabei, dass der Tabubruch kaum mit ernsthaft zu befürchtenden Folgen verbunden ist. Bei den meisten Tabus wird keine Strafe erwähnt, und wenn, dann eher blass formuliert. Nur einmal etwas stärker: "die Geister hauen dir eins ins Gesicht". Alles bleibt im Bereich des Theoretischen. Das zitierte 'Wissen' besitzt offenbar keine Macht über diese Mädchen. Sie sind unter sich, plaudern, amüsieren sich. Saniye wirkt faszinierend auf die Erzählerin. Weniger der kulturelle Inhalt ihrer Tabu-Auflistung macht Eindruck als die imponierende Rezitation selbst.

Bei Zaimoglu werden die Tabus anders funktionalisiert. Anstatt "Nicht in der Nacht die Fingernägel abschneiden" heißt es hier: "Ich darf mir die Fingernägel nicht nachts schneiden". Seine Erzählerin zitiert hier ihre Eltern, die 'Weisheit' der Erwachsenen, insbesondere die ihres brutalen Vaters, und erklärt, wie sie diese 'Weisheit' im Alltag konkret erfährt. Hier sind die Tabus richtige Handlungsanweisungen. Alle sind mit fürchterlichen Bedrohungen verbunden, mit gewaltigen körperlichen bis tödlichen Sanktionen, die durch verschiedene gruselige, groteske Unwesen ausgeführt werden. Die Stelle beginnt am Anfang eines Unterkapitels völlig unvermittelt: "Das Zimmer, in dem die Seele eines Toten herumgeht, muss man weihen.

Man stellt eine Wasserkaraffe, Holzpantoffeln und ein Handtuch bereit und verlässt den Raum. [...] Wenn man die Seele stört, lockt sie den Verhinderer ihrer Erlösung ins Verderben. Es sei denn, man ist zu einem Teufel entartet. [...] Ich darf mir die Fingernägel nicht nachts schneiden. Die Dämonen schnappen nach den Nägeln, schlucken sie herunter, bekommen einen Wanst, und weil sie auf allen vieren kriechen, hört man dann, wie ihre dicken Bäuche über den Boden schleifen.
An Dienstagen ist Hausputz verboten, es bringt Unglück, Glas und Porzellan gehen zu Bruch, man verstaucht sich einen Knöchel, oder ein tollwütiger Hund schnappt nach den Fußknöcheln. [...]"

Und so fort. Erst nach weiteren 100 Wörtern wird die Quelle dieser ,Weisheiten' genannt, die Gewalt, die hinter den verschiedenen Teufeln, Geistern und anderen Gewaltinstanzen steht, nämlich die Gewalt des Vaters: "Nachdem ich meine Notdurft verrichtet habe, darf ich dem Plumpsklo-Loch nicht den Rücken kehren. Sonst erscheint ein Dschinn, der mich so lange schlägt, bis mich der Schlag trifft. Das Loch, in das man sich entleert, ist wie ein furchterregender Herrscher, sagt der Mann meiner Mutter [...]. Meine Mutter aber sagt, es sei wirklich klug, dem Latrinenloch nicht den Rücken zu kehren, denn oft kriechen katzengroße Ratten hoch.
Sie können sagen, was sie wollen, ich halte mich nicht daran.
Wenn meine Mutter weiss, dass ein Gast kommt, dreht sie den Spiegel um.
[...] Sollen sie mir die Hausgesetze noch so heftig einschärfen, ich glaube nicht daran, ich glaube nicht."

Es ist augenscheinlich, dass die Behauptung, Zaimoglu habe irgendein Strukturprinzip, irgendeine 'Form der Darstellung' bei Özdamar abgeguckt, bestenfalls auf schlampiger Lektüre basiert.

Dennoch haben die Stellen etwas Wichtiges gemeinsam: die Kritik an der überlieferten ,Weisheit' aus der Perspektive junger Mädchen. Diese Kritik, die die Erzählerinnen als Rebellierende kennzeichnet, gehört zu den Regeln der Gattung ,sozialkritischer Entwicklungsroman über eine Frau im traditionell-patriarchalischen Umfeld'. Leyla rebelliert ganz selbstbewusst gegen die ,Hausgesetze'. Özdamars Erzählerin ist im langen Prozess der Selbstbehauptung begriffen, die zitierte Stelle stellt nur implizit eine Etappe in diesem Prozess dar. Von Salomon bis Chinua Achebe häufen sich nun die literarischen Beispiele für Sprichwörterreihen mit diversen Funktionen. Ob Özdamar die Aufzählung von Alltagstabus als Ausdruck des aufkeimenden kritischen Bewusstseins eines Mädchens erfand, wie Geisel behauptet?

Wohl kaum. Im Prozess der Modernisierung - um die es in den beiden deutschen Romanen über die Nachkriegs-Türkei ja geht - wird die Gültigkeit überlieferter Werte und Machtverhältnisse in Frage gestellt. An volkstümlichen Verhaltensregeln wird eine bereits untergehende gesellschaftliche Ordnung anschaulich; die moderne Gesellschaft schmunzelt darüber. Schriftsteller aller Länder benutzen seit Jahrhunderten solchen Stoff.

Insbesondere für Leser der türkischen Übersetzung, sei vermerkt, dass Özdamars Roman für sie nicht ganz so bezaubernd ist wie für Leser der deutschen Originalfassung. Gürsel Aytaç, Germanistin in Ankara, betont zum Beispiel, "dass Özdamar ihre literarischen Montagen aus fast schon zu türkischem Gemeingut gewordenen schriftlichen und mündlichen Kulturgütern herstellt, d.h. sie zitiert solche Texte, die sie in ihrer Kindheit und früher Jugend in Anatolien als Tochter einer kleinbürgerlichen Familie oft hörte."

Solche Texte wird Zaimoglus Mutter, wird Zaimoglu selbst natürlich auch kennen. Die Originalität von Özdamars erstem Roman liegt nicht im Stoff, der den meisten türkischen Lesern wohl bekannt ist, sondern in der Art und Weise, wie sie türkisches ,Gemeingut' ins Deutsche übersetzt und montiert, meint Aytaç. Zieht man die hochoriginelle, interkulturelle sprachliche Ebene vom "Karawanserei"-Roman ab, bleibt (abgesehen von gewissen Elementen des magischen Realismus und von der dramatisch-parataktischen Erzählstruktur) ein Beispiel des Dorfromans zurück, einer beliebten Gattung der realistischen, sozialkritischen türkischen Literatur von Autoren wie Yasar Kemal oder Fakir Baykurt. Dorfromane werden häufig aus der Kindsperspektive erzählt, in der Form eines Entwicklungsromans, und befassen sich normalerweise mit Spannungen zwischen traditionell-provinziellen und modern-urbanen Kulturströmungen. Die Kritik an veralteten Vorstellungen, wie sie zum Beispiel von Tabusprüchen transportiert werden, gehört selbstverständlich zu diesem Genre. Sowohl Özdamar als auch Zaimoglu folgen somit bereits etablierten Gattungsregeln.

Übrigens erinnert Özdamars Auflistung von Absurditäten auch an ein Kapitel aus "Alice im Wunderland", in dem die Duchess unentwegt sinnlose moralische Sentenzen von sich gibt, was Alice unerträglich findet. In Özdamars "Der Hof im Spiegel" spiegelt sich die Erzählerin in einer "Alice"-Leserin.

Nicht liebenswürdig

Die folgenden Punkte in Geisels Argumentation rücken von der Mikroebene auf die Makroebene der Texte. Punkt zwei untersucht die beiden Vaterfiguren. Auch hier wird scheinbar literaturwissenschaftlich argumentiert, oder zumindest ideologiekritisch:

"Wenn man es darauf anlegt, kann man 'Leyla' durchaus als eine Travestie von 'Karawanserei' lesen. Die strukturellen Motive erscheinen in neuer Bedeutung, und im Gegensatz zur unsystematischen Auswahl der Versatzstücke hat diese Umdeutung Methode. Beide Vaterfiguren sind Geschäftsleute und Bankrotteure. Sie leihen sich Geld bei reichen Männern und pfänden das Familienmobiliar, sie tragen einen besonderen Hut und fahren ein teures Auto, beide flüchten sich ins Männercafé und haben einen Koran über dem Bett hängen, aus dem sie in kritischen Momenten den Frauen vorlesen. Auf der Ebene der Handlung und des Charakters aber haben die beiden Figuren nichts gemein: Bei Özdamar haben wir es mit einem liebenswürdigen, selbstironischen, melancholischen Versager zu tun; Zaimoglu zeichnet einen engstirnigen, despotischen, fundamentalistischen Familienvater, den alle fürchten - und der sich passgenau in das Islam-Bild des Westens fügt. Eine solche Verkehrung des Ausgangsmaterials ins ideologische Gegenteil ist ein klassisches Verfahren der politischen Propaganda."

,Umdeutung'? ,Verkehrung'? ,Methode'? ,Ideologie'? ,Propaganda'? Özdamar beschreibt einen netten Vater. Zaimoglu beschreibt einen widerlichen Großvater. Beide Romanfiguren führen typische Kleinstadtmännerleben ihrer Zeit und ihres Ortes. Steht der türkische und/oder islamische Schriftsteller, zumal der männliche, etwa in der Pflicht, alle seine Landsleute, Verwandten und Glaubensgenossen, zumal die männlichen, als liebenswürdige Leute darzustellen, auf die Gefahr hin, sonst mit solchen Beschuldigungen konfrontiert zu sein?

Leylas menschenfeindlicher Vater Halid ist als literarische Figur in der Tradition der Schauerromantik (im Englischen "Gothic") zu verorten. Wie Dracula etwa verkörpert Halid für bürgerliche Leser sowohl die regressive, feudalistische Macht (er gibt sich als adlig aus und ,regiert' brutal im Haus) als auch die gefürchtete Unvernunft der Massen aus dem Osten, wobei Halids Unvernunft, wie Draculas auch, die Form der Rebellion gegen jegliche Autorität annimmt. Halids Verbrechen verlassen an manchen Stellen derart den Boden des Realistischen, sind derart "Gothic" (zum Beispiel der Kindsmord an seinem neugeborenen Sohn und die Beerdigung der Leiche bei Mondlicht), dass er höchstens als eine Karikatur extrem phobischer, westlicher Vorstellungen vom Typus des despotischen orientalischen Mannes zu verstehen ist. Ähnlich provokante Figuren (in realistischerer Form) sind Zaimoglus Lesern seit "Kanak Sprak", "Abschaum" und "Leinwand" bereits bekannt. Halid aber ist nicht nur Inbegriff des projizierten Terrors Leylas oder des Lesers. Er ist eine keineswegs eindimensionale Figur. Gelegentlich erscheint er sogar sehr sympathisch. Gerade in der Beerdigungsszene zum Beispiel wird Halids innerer Monolog so präsentiert, dass eine gewisse Empathie von uns verlangt wird. Im Verlauf des Romans wird klar, dass er ein Opfer seiner Gesellschaft ist. Ein Kriegsflüchtling aus Tschetschenien, Analphabet, dem es in der Türkei nie gelingt, Fuss zu fassen. Sein Schicksal ist das des unerwünschten Immigranten. Als Hausdespot kompensiert er seine gänzliche Machtlosigkeit. Doch auch im Privaten ist seine Macht illusorisch. Leyla und ihre Geschwister lernen, wie sie mit ihm klar kommen und dabei ihre eigenen Interessen durchsetzen. Kurzum: Der Fall ist viel komplizierter, viel interessanter, als es Geisel suggeriert.

Sevgi, Sevgi, Sevgi...

Geisel stellt im dritten Punkt ihrer Argumentation die These auf, Özdamar selbst wäre Opfer eines "literarischen Muttermords". Der Schluss von Geisels Beitrag geht spielerisch mit literaturwissenschaftlichem Gedankengut um, man denkt hier vielleicht an Harold Blooms Thesen in "Einflussangst" (1995) über "starke" Dichter, die ihre Vorgänger poetisch "überwinden" müssen: "Wenn man die beiden Romane mit den Augen eines Detektivs liest, kann man nicht ignorieren, dass es in 'Leyla' eine Figur mit Özdamars Vornamen gibt. 'Sevgi, die Irre' lacht auf 'wie ein Hyänenjunges', und sie tut im Übrigen das, was die Ich-Figur in 'Karawanserei' auch tut: lustige Geschichten erzählen, herumalbern, ihre Mutter lieben und mit Knaben ringen. Doch in 'Leyla' nimmt sie ein böses Ende. 'Sie ist tot, sagt Selda, doch sie lebt in dem üblen Gerede der Männer und Frauen weiter.' Dass Zaimoglu in seinem Roman eine Sevgi sterben lässt, beweist nichts. Aber falls die Parallelen in seinem Roman tatsächlich aus 'Karawanserei' stammen sollten, liegt der Gedanke nahe, dass er in einem (geradezu klassischen) literarischen Muttermord die Autorin zumindest symbolisch zum Verschwinden bringen wollte, die ihm Bausteine für seinen Roman geliefert hat."

In "Leyla" gibt es zwei Sevgi-Figuren, Freundinnen des Mädchens Leyla, die "normale Sevgi" und die "irre Sevgi", und außer dem Vornamen erinnert nichts an ihnen besonders an die Mehrfach-Migrantin, Aktivistin, Dramatikerin und Schriftstellerin Özdamar oder an ihre Ich-Erzählerinnen. Mehrere Mädchen in "Leyla" lachen, erzählen, tollen herum, gebärden sich wie Jungs, lieben ihre Mütter. Am burschikosesten ist wohl die Kurdin Manolya: "Das Gesetz, das Gesetz, schimpft Manolya, unter meinen Füssen das Gesetz! [...] O Gott, sage ich, du trägst ja keinen Büstenhalter. - Die Männer tun es auch nicht." Vom dramatischen Tod der "irren Sevgi" in Malatya erfährt Leyla von ihrer Schwester Sevda, als sie bereits in Istanbul leben: "Ein Kleinstadtdrama, stelle ich fest, und wundere mich, dass ich mit fester Stimme reden kann, dass ich ihr noch keine Träne nachgeweint habe." Sevdas Satz über das "üble Gerede" klingt bei Geisel nur deshalb so böse, weil sie ihn aus dem Kontext gerissen und (um mit ihr zu sprechen) ideologisch umgedeutet hat. Die "irre Sevgi" sorgte Zeit ihres Lebens für übles Gerede, ihr Tod sorgt für noch viel mehr davon. Sie betrügt ihren Mann mit einem anderen. Ihr Gatte erhält eines Tages einen Anruf, er soll von der Stadtkaserne nach Hause kommen. Sevgi und ihr Liebhaber liegen tot auf der Straße unterm Fenster ihrer Wohnung im fünften Stock. Der tote Liebhaber hat Einschuss- und Messerwunden. Unklar bleibt, ob es sich um Doppelselbstmord oder Mord und Selbstmord handelt. Welcher Leser denkt bei diesem Skandal an Emine Sevgi Özdamar?

Spekulationen sind etwas Feines. Aber irgendwann wird es idiotisch. Es bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Wer dies liest, möge selbst darüber spekulieren, was Leute wie Geisel und Mecklenburg dazu bewegt, derartige Spekulationen über Bücher zu verbreiten, die sie anscheinend höchstens flüchtig gelesen haben. Die Germanistin, die diese Affäre ins Leben rief, bleibt anonym. Sollten die in diesem Skandalfall angewandten Methoden typisch sein, dann steht es ganz schön schlimm um die Literaturkritik und die Literaturwissenschaft in Deutschland.


Titelbild

Emine Sevgi Özdamar: Das Leben ist eine Karawanserei - hat zwei Türen - aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994.
384 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3462023195

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Titelbild

Feridun Zaimoglu: Leyla. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.
525 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3462036963

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