Unmögliche Möglichkeiten

Margaret Atwoods Episodenroman "Moralische Unordnung"

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"'Die erste Zeile eines Gedichts ist entscheidend, Klasse', würde Miss Bessie sagen. 'Sie bestimmt den Ton.'" Eine Lektion, die sich die Ich-Erzählerin von Margarete Atwoods jüngstem Werk "Moralische Unordnung" offenbar hinter die Ohren geschrieben hat. "Es ist Morgen. Die Nacht ist erst einmal überstanden", lautet der Satz, mit dem Miss Bessies einstige Schülerin ihre Erzählung beginnt. Sein Ton ist leicht, unprätentiös und von einer Hoffnung, deren Melancholie bereits beim Erwachen um die nächste Nacht weiß, um all die vielen Nächte, die noch folgen werden. Dieser Ton wird dem Roman den Weg weisen.

Seine kunstvoll miteinander verwobenen episodenhaften Kapitel folgen dem Lebenslauf der zunächst noch namenlosen Protagonistin zwar chronologisch von Kindesbeinen an bis ins hohe Alter, doch schnellt die Zeit innerhalb der einzelnen Abschnitte auch immer mal wieder weit zurück, oder auch schon einmal nach vorne in die ferne Zukunft. So wird die junge Schülerin schon im ersten Kapitel auf wenigen Seiten zur alten Dame. Auch flechten sich gelegentlich nur wenige Zeilen lange Phantasien der Protagonistin ein, etwa die, gemeinsam mit der Schwester von den Eltern verlassen zu werden: "Vielleicht würden sie nie zurückkommen. Vielleicht würde ich für immer hierbleiben müssen. Vielleicht würden wir beide für immer hierbleiben müssen, nie älter werdend, während der Garten zu einem Wald wurde und die Stachelbeerhecke zur Größe eines Baumes anschwoll und den Fenstern das Licht nahm."

Ihre Jugend durchlebt die Protagonistin in den beengten 1950er-Jahren, als eine junge Frau nur die Wahl hatte, "heiraten zu müssen oder aber alte Jungfer zu werden". Immerhin weiß sie, "mit guten Noten konnte man diese erschreckende Wegscheide noch eine Weile hinausschieben." Ein Jahrzehnt später scheint, wenn auch nicht alles, so doch vieles anders geworden zu sein. Die nun schon etwas ältere Ich-Erzählerin gerät in den Wirbel einer hedonistischen Jugend-Revolte und wirft mit ironisch gespitzter Feder in wenigen Strichen nuancierte Bilder des Zeitgeists der Joints, der pendelnden EsoterikerInnen und der allgemeinen Promiskuität aufs Papier, wobei ihr Blick auf das Beziehungschaos der 68er, die "einfach ihr Ding" machten und "alternative Lebensformen" probierten, nicht sonderlich freundlich ausfällt. Früher hatte es wenigstens "Gefühle gegeben, die man klar benennen konnte: Eifersucht, Verzweiflung, Liebe, Verrat, Hass, Schuld - der ganze Trödelladen. Doch jetzt war es unter den Jungen und unter denen, die jung sein wollten, verpönt, einen größeren Wortschatz zu besitzen."

Immer wieder brilliert das Buch mit originellen Bildern. Etwa, wenn sich die Protagonistin "k.o. wie ein in Bier ertrinkender Regenwurm" fühlt oder über Männer sinniert, von denen ein jeder "eine Möglichkeit, die schnell zur Unmöglichkeit [wird]" sei. Doch erschöpft sich der Roman keineswegs in Leichtigkeit. Vielmehr verbindet sich diese immer wieder mit einer Traurigkeit und mit einer Melancholie, wie sie selten in wärmere Worte gefasst wurden. Eine kurze Zeile genügt Atwood, um diese Melancholie - fast - zu entzaubern, nur um sie im letzten Wort ebendieser Zeile wieder herzustellen.

Von der mittleren der elf Episoden an ist die Ich-Erzählerin unvermittelt verschwunden. An ihre Stelle ist nun eine Frau namens Nell getreten. Schon nach wenigen Zeilen wird allerdings deutlich, dass beide Figuren identisch sind. Dieser Wechsel von der Ich-Erzählerin zur Protagonistin Nell korrespondiert mit einem zweiten, zeigt diesen geradezu an: den von der in der elterlichen Familie eingebetteten Jugendlichen zur jungen Frau, die mit einem Mann zusammen lebt, an den sie sich verliert. Dieser Mann, Tig, ist nicht nur wesentlich älter und verheiratet, sondern gibt insgesamt keine sonderlich gute Figur ab. Dass die Nell dieser Zeit oft allzu naiv wirkt, mag daran liegen, dass die Episoden nun offenbar aus Sicht ihres älteren, durch Erfahrung um einiges klüger gewordenen Ichs erzählt werden.

Später, man ahnt es schon, werden die Geschichten wieder zur Ich-Form zurückfinden. Schauplatz ist nun nicht mehr eine abgelegene Farm, auf der Nell und Tig zahlreiche kleine und gelegentlich auch schon mal größere Alltagskatastrophen durchstolpern, von denen mit leichter Lakonie erzählt wird, sondern wieder die Familie der Ich-Erzählerin; genauer gesagt, einige Besuche bei den Eltern beziehungsweise in der letzten Episode am Totenbett ihrer Mutter.

Ob die Protagonistin dieser allerletzten Erzählung wirklich diejenige der anderen ist, erscheint allerdings zweifelhaft. Die Episode ist in der ersten Person Singular geschrieben und die Ich-Erzählerin bleibt namenlos, wie stets in diesen Abschnitten. Der Name Nell allerdings fällt sehr wohl. Nur ist es nun der eines Pferdes, auf dem die Mutter früher zu reiten pflegte und an den sie sich kaum mehr erinnert. "Erinnerst du dich an Nell?" fragt die Protagonistin ihre Mutter, was sie sicher kaum so formulieren würde, wenn sie selbst ebenfalls so hieße. Außerdem hat die Protagonistin nun plötzlich einen älteren Bruder. Eine jüngere Schwester wie in den Episoden zuvor scheint es hingegen nie gegeben zu haben. Dennoch gibt es zahlreiche Verbindungen zu den Geschehnissen der frühern Geschichten. So wurde etwa auch in ihnen erwähnt, dass die Mutter gerne ritt.

Das Rätsel der Identität der Ich-Erzählerin bleibt ungelöst. Ebenso wie die Frage, wie viel aus dem Leben der Autorin in das Buch eingeflossen ist. Einige Details entsprechen jedenfalls ihrer Biografie. So etwa, dass sowohl Nells Vater als auch der Atwoods Insektenforscher sind. Und tatsächlich wird das Buch im Klappentext als "Roman von Atwoods Leben" ausgewiesen.


Titelbild

Margaret Atwood: Moralische Unordnung. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Malte Friedrich.
Berlin Verlag, Berlin 2008.
254 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783827007094

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch