Die Narrenkappe der Poesie

David Lerners Gedichte erstmals in deutscher Sprache

Von Frank MilautzckiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Milautzcki

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Website Poetenladen.de sagt von sich, sie sei ein "Raum für Literatur". Tatsächlich entstand mit ihr in kurzer Zeit ein wunderbarer Treffpunkt, an dem man der Vielfalt des zeitgenössischen Gedichtes nachspüren und sich in ganz verschiedenartige Räume entführen lassen kann: irgendwer schmeißt einen vom Hocker und irgendwer verwickelt einen in einen trostlosen Traum. Möglich ist alles, sagt das Gedicht.

Eigentlich ist das Gedicht ein Apparat, der Räume sortiert und er konstruiert sich aus dem jeweils unverwechselbaren inneren Inventar des Individuums, seiner Seele, seinem Geist, Humor und Esprit, seinem Schwermut und seiner Leichtigkeit - aber er wird auch von äußeren Fakten angestoßen und geleitet, so dass ein gutes Gedicht spiegelnd als ein wahrhaftiger Teil der ganz persönlichen Lebensgebärde erkennbar wird. Auch das formstrenge, das scheinbar ichlose Gedicht erzählt dem geübten Leser mehr über den Verfasser, als man in Worte fassen kann: über seine Gedanken, aber auch über seine Lebendigkeit, seine Liebe, seinen Hunger und Durst, seine Anstrengung, seinen Tod und seine Trauer. Denn das Gedicht ist eine echte Gebärde, wie es Lachen und Weinen, wie es Singen und Tanzen sind. Und wer könnte nicht lesen aus des anderen Tanz, lasziv oder schüchtern, plump oder dramatisch. Das Gedicht hat seine eigene Sprache, wie der Tanz seine eigene Sprache hat. Und man liest daraus den Menschen. Matthias Politycki hat das einmal so formuliert: "An der Art, wie einer die Sätze baut, kann man ablesen, wie seine Füße riechen."

Der Poetenladen ist ein vitaler, keineswegs nur virtueller Treffpunkt unterschiedlichster, aber immer aktuell gültiger Dichtkunst geworden. Man veranstaltet Lesungen, events, man gibt den Poeten heraus, eine Zeitschrift, die neue literarische Impulse gibt und Orientierungslinien setzt. Es erscheinen Bücher im angegliederten Verlag, die weite Verbreitung und Beachtung verdienen. Beispielsweise "Die anmutige Kurve eines Marschflugkörpers" von David Lerner, einem früh verstorbenen, hierzulande kaum bekannten outcast aus der Szene San Franciscos, dessen Gedichte Ron Winkler nun ins Deutsche übertragen hat. Die Gedichte sind zweisprachig abgedruckt und dadurch wird sehr schnell erahnbar, welche Mühe Winkler aufwenden musste, um Lerners Texte in eine Sprechform zu bringen, die dem amerikanischen spoken word angemessen ist - da stört nichts, ist alles im vergleichbaren Fluss und auch, dass aus den amerikanischen "cappuccinos" im Deutschen "latte macchiatos" werden, ist eher ein Hinweis für Tiefsinnigkeit und überlegtes Handeln. Winkler trifft - und das ist das Schwierigste, was bei Übersetzungen zu leisten ist - den Ton. Er spiegelt die Geste, er übernimmt die Gebärde. Er betreibt Lerners Dichten im Deutschen. Mehr und Besseres kann man nicht tun.

"die künftige aufgabe der sprache / ist / sich in einem gebet selbst zu verbrennen" - das hat schon Arthur Rimbaud getan, und viele Rock'n'Roller sind in ihren Songtexten an diesen Rand gegangen, an dem die Sprache zu einem Gebet wird und nicht mehr zurückfindet aus dem Feuer. Die Apotheose der einsamen Selbstverbrennung, die Inszenierung des Scheiterns des Ichs. Aber man kann es auch von einer spirituellen Warte sehen: das Ich muss angezündet sein und soll sich auflösen, bevor Anderes, Gültiges Raum gewinnen kann. Es ist eigentlich einerlei. "poesie will das auge / sein, durch das die welt sich selbst sehen kann und / erzittert" - sie will also nicht hinweg über die Welt, sondern mitten hinein. Lerner bewegt sich mit seiner Sprache genau dort. Er kocht sich "die syntax aus der gosse". In einer Art Selbstverteidigung entwickelt er das Begehren, herauszukommen aus der Schwerkraft der Straße - und doch ist er mit seinem ganzen Leben so tief mit ihr verbunden, dass ein Ausweg nur die Zerstörung zu bieten scheint, womit er in derselben Sprache ankommt, die er flieht: "nahm alles was ich liebte und / steckte es in brand".

Lerners Leben war nicht undramatisch, obgleich eher eremitisch, eingekapselt in Armut und unweit vom Wahn. Er starb 1997 in San Francisco an einer Überdosis Heroin. Vier Gedichtbände hatte er bis dahin publiziert. In seinem Appartement fand man tausende Seiten weiteres Material. Sein Bild wird noch intensiver zu zeichnen sein. Das Bild eines modernen Narren, dem es nicht um sich selbst ging. Das glaubt der Poet, dass er stellvertretend für alle Gescheiterten und täglich Scheiternden die Tragik durchleben muss, die eine sich selbst vergessende und sich selbst entwertende Figur dem Leben schuldet. Da ihm der Weg zum persönlichen Glück verbaut scheint, will er das Beispiel, entwertet sich selbst und seine Kümmernisse und braucht sich auf, um das Plakat zu sein, auf dem er der Gesellschaft die Wahrheiten entgegenschleudert. Der moderne Narr belustigt nicht, sondern zeigt dem Kollektiv das Leben vom Rand her, um das Geschehen der Wahrheit entsprechend umzulabeln und die Wirklichkeiten genauer einander zuzuordnen - so was kommt von so was her: der outcast lebt, was die Kollektivseele sich nicht gestattet, besser: weil sie sich nicht Tiefe gestattet. Mit der Narrenkappe der Poesie ruft Lerner wach, was niemand wahrhaben will. Je weniger die Gesellschaft an ihre eigenen Fehler erinnert werden will, umso mehr schwillt der Protest gegen diese Ignoranz an, so wird aus dem spoken word schließlich oft auch Rock'n'Roll, weil der andere Lautstärken und Reichweiten hat.


Titelbild

David Lerner: Die anmutige Kurve eines Marschflugkörpers. Ausgewählte Gedichte.
Übersetzt aus dem Englischen von Ron Winkler.
Poetenladen, Leipzig 2008.
144 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783940691040

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