Ein Faust als Reisender zwischen Ost-Berlin und Chile

Jorge Edwards politische Parabel einer teuflischen Entführung erscheint mit 20 Jahren Verspätung auf deutsch

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Fauststoff kondensiert in seinen markantesten Dichtungen vom Spiess'schen "Volksbuch" über Christopher Marlowes "Tragical History of Doctor Faustus" bis zu Johann Wolfgang Goethes Meisterwerk ein breites Potential an spezifisch modernen Motiven, die von vielen hundert späteren Dichtern so dankbar wie selektiv aufgenommen und durchgespielt wurden. Komponisten musikalischer und musiktheatraler Faust-Adaptionen gaben sich gerne der von Goethe zugefügten Gretchen-Geschichte hin (seltener auch der älteren Tradition der Begegnung mit dem Schönheits-Idol Helena). Politisch interessierte Künstler von Friedrich Maximilian Klinger bis Hanns Eisler faszinierte eher der Motivkomplex der Internationalität, der Faust als einen Reisenden ausweist - als einen Flüchtling und Exilanten, als einen sozial Engagierten, der Systemvergleiche anstellt. In dieser Tradition der politischen Faustadaptionen mit Fokus auf internationale Reisebewegungen steht auch Jorge Edwards Roman "Faustino", der 1987 auf spanisch erschien. Der Wagenbach-Verlag hat dieses Buch nun in einer gelungenen Übersetzung von Sabine Giersberg auf deutsch vorgelegt.

Die späte Übersetzung ist bedauerlich. Wie eine unzeitig gestrandete Flaschenpost taucht dieses Buch nun im riesigen Korpus der auf deutsch lesbaren Faust-Dichtungen auf. Ob sich das halbwegs spannende politische Roadmovie aus der Zeit des Ost-West-Konflikts und der südamerikanischen Umstürze im Kanon der Faustversionen einen bedeutenden oder gar überzeitlichen Platz wird sichern können, darf bezweifelt werden. Denn die politische Lage, die Edwards Exilanten-Geschichte prägte, hat sich in Deutschland, wie in Südamerika doch deutlich gewandelt. Zudem fallen die begleitenden Motivkomplexe aus familiären Verwerfungen (mit der Exfrau) und Bindungen an die Tochter eher scherenschnittartig unterkomplex aus.

Das Buch spielt in den 1970er-Jahren, als der linke Jurist und Kulturjournalist Faustino nach dem Putsch gegen Allende Chile umgehend verlassen muss und über die israelische und dann italienische Botschaft ins Exil in die DDR weitergereicht wird. Im biederen realsozialistischen Exil in Ostberlin erhält der Emigrant in seiner überdurchschnittlich großen Wohnung mit Balkonen und subventioniertem Telefonanschluss per Telefon die Aufforderung, einen geheimnisvollen Südamerikaner in einem Café am Kudamm - also in der anderen Hälfte der eingemauerten Stadt - zu treffen. Der rätselhafte Verführer führt den staunenden Migranten aus der dritten und zweiten Welt durch die gigantische Parfümerie- und Wäscheabteilungen eines Großkaufhauses und schließlich in dessen überwältigende Lebensmittelabteilung im Obergeschoss, die als "Kathedrale der Leckerbissen" deutlich an den gastronomischen Überfluss im KaDeWe erinnert. So zeigt Faustinos Reiseleiter Apolinario, der neue Mephistopheles, dem politischen Flüchtling die Glitzerwelt des Kapitalismus, zu deren ersten und wiederkehrenden Erscheinungen Prostituierte gehören, die eine andere Sinnlichkeit zu Markte tragen als die liebesmüde Ost-Berliner Geliebte. Auch ein schönes, junges Mädchen stellt Apolinario dem von der Angebotswelt eingeschüchterten Sozialisten zur Verfügung.

In West-Berlin bittet der neue Mephisto den von den vielen Eindrücken überforderten Faustino, der sich in sein bescheidenes doch überschaubares Ost-Berliner Leben zurücksehnt, in einen Hubschrauber. Dieses Fluggerät bringt den Flüchtling freilich nicht in den anderen Teil der Mauerstadt zurück, sondern entführt ihn in einer fantastischen Volte zurück nach Südamerika. Dort wird er in die Villa eines exzentrischen Millionärs geführt, der gleichwohl die Sache der Revolutionäre unterstützt. Wie schon im Überfluss West-Berlins fühlt sich Faustino auch hier unwohl und möchte lieber fort. Mit Schrecken bemerkt er beim Überflug der Anden, dass ihn sein teuflischer Reiseleiter mit dem Hubschrauber nun nach Chile bringt. Hier drohen dem Emigranten Folter und Gefängnis. Doch ist er natürlich auch gerührt, die Heimat und schließlich auch die jahrelang nicht gesehene Tochter aus der geschiedenen Ehe mit seiner politisch konservativen Exfrau wiederzusehen.

Nach einem Besuch bei aufständischen Bauern in der Provinz endet der erste Teil (wie Goethes Übergang vom ersten zum zweiten Teil) mit einem ästhetisch überwältigenden Naturschauspiel, das sich beim Mondscheinflug darbietet. Der zweite Teil dieses Faustromans führt zuerst auf die chilenischen Güter deutscher Großgrundbesitzer. Der teuflische Apolinario möchte Faustino nun durch einen Vertrag an sich binden und aus ihm den perfekten Kandidaten für eine anstehende politische Wende machen. Dafür müsse dieser allerdings auf seine Vergangenheit verzichten und eine fiktive, neue und opportune Vergangenheit annehmen. Faustino will seine eigene Vergangenheit, und sei sie noch so mittelmäßig, aber keineswegs für eine andere Lebensgeschichte als guter Katholik und Freund der Streitkräfte aufgeben. Vor der Vertragsunterzeichnung, die ganz nach alter Schule mit abgezapftem Blut ausgeführt werden soll, flieht Faustino von Panik ergriffen - doch mit schlechtem Gewissen, weil er schon Geld von Apolinario angenommen und ausgegeben hat.

Die Erzählung wechselt - ohne dass recht klar wird, warum - gelegentlich vom Hauptmodus der Ich-Erzählung Faustinos in eine anonyme, auktoriale Erzählperspektive. Diese berichtet etwa von den Grabenkämpfen und Animositäten innerhalb der Widerstandsgruppen, die ein politisches Fest mit Dichterlesung und Musik organisieren wollen. Auch in den Kreisen des politischen Untergrunds Chiles führt ihm Apolinario neuerlich eine schöne junge Margerita zu. Und erneut ist (in Umkehrung des alten Rollenmodells eines eher unbedarften Gretchens) die junge Frau erotisch sehr viel versierter und zupackender als der schüchterne und unbedarfte Galan.

Nach dieser Flucht folgt nun die Begegnung mit der lange nicht gesehenen eigenen Tochter. Diese arbeitet, rebellisch gegen die bürgerliche Mutter, im Widerstand und hilft mit ihren Freunden und Kontakten, den bedrohten Vater nach Verhängung des Ausnahmezustands außer Landes zu bringen. Das letzte Viertel des Buches erzählt von den Ängsten und Schwierigkeiten, unter angespannten Verhältnissen mit falschen Papieren ins sichere Berliner Exil zurückzukehren. Am Ende wird das zuvor erzählte Geschehen ins Fantastische und 'nur' Geträumte verschoben. Denn gemäß seinen Eintragungen im Pass war Faustino nur einen Tag außerhalb Ost-Berlins - doch kehrte er (paradoxerweise) erst nach zwei Wochen Reise zurück. Am Schluss kollabiert der erschöpfte Faustino und wird Ärzten und Psychologen übergeben. Er kann nichts daran ändern, dass man ihm seine 'reale' Reise nicht glaubt und alles für einen Traum hält. Ihm ist zudem als selbstkritischem Intellektuellen bewusst, dass er im Realsozialismus ein privilegierter Flüchtling ist, dem man unterstellt, er trinke und fantasiere zu viel.

Dieser neue, späte Faust ist in jeder Hinsicht ein schwacher, von außen gesteuerter Mann. Der alte Streber präsentiert sich hier erschöpft und überfordert. Er ähnelt aufgrund seines nahezu inexistenten eigenen Begehrens eher einem zögernden Bartleby oder Hamlet als den neuzeitlichen Täter-Prototypen Don Juan oder Faust. Edwards spätmoderner Faust, dessen Name ihn ja schon zum Fäustchen verkleinert, ist kaum mehr der strebsame Grenzüberschreiter, sondern ein skeptisch und verletzlich gewordener (Ex-)Sozialist. Der zaghaft engagierte Kulturjournalist hat den alten Faust abgelöst, der alle Fächer studierte und immer noch genauer wissen wollte, was die Welt im Innersten zusammenhält, der zudem unersättlich alle Lüste und Lasten, alle menschenmöglichen Erfahrungen selbst durchleben wollte und der als Politikberater, Militär und Ingenieur in den Lauf der Geschichte schuldhaft eingriff.

Dieser Faust will weder wirklich zurück in die alte, unwirtliche Heimat, noch fühlt er sich im Land des Exils wohl. Darin trifft Edwards wohl die Stimmung vieler politischer Migranten. Ob die ins traumhafte changierende Erzählung von Erfahrungen der Emigration und Fantasien der Remigration durch die intertextuelle Folie des Faust-Stoffes wirklich schlüssiger wird, darf bezweifelt werden. Als Milieu- und Befindlichkeitsstudie Chiles unter Augusto Pinochets Militärdiktatur und der damaligen Widerstandskreise taugt der Roman, der teils witzige, teils gekünstelt wirkende fantastische Schnitte setzt, wohl auch nur sehr eingeschränkt. Zu beliebig assoziierend, zu verspielt und burlesk wirkt diese Politsatire. Dabei mutiert dieser Faust, dem zum tragischen Helden die Handlungskraft fehlt, leider auch nicht zu einem komisch rezipierbaren Pikaro, der sich mit Raffinesse durchschlägt. Zudem bleibt an der Seite dieses letztlich sündenfreien schuldlosen Fäustchens auch sein zynischer Verführer und Reiseleiter Apolinario weitaus blasser als etwa Goethes Mephisto.


Titelbild

Jorge Edwards: Faustino. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Sabine Giersberg.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008.
187 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132178

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