Trauerarbeit in Tönen und Texten

Anna Enquist verschränkt virtuos Beobachtungen zu Johann S. Bach und Erinnerungen an eine tote Tochter

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Versuche von Autoren, durch Anleihen bei Formen der Musik ihren Sprachkunstwerken eine neue, zwingende Gestalt zu geben, sind zahlreich. Ebenso häufig haben Schriftsteller von dem Romantiker Wilhelm H. Wackenroder bis zum Techno-Apostel Rainald Goetz die überwältigende Wirkungsmacht der Tonkunst (mehr oder weniger neidvoll) bewundert und gerühmt. Gelegentlich, so in Heinrich von Kleists Erzählung "Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik", gewinnt das Überwältigungspotential der Schwesternkunst auch dämonisch bedrohliche Ausmaße. Oft blieben die literarischen Formanleihen bei Fugen, Sonaten, Suiten oder Kanons allerdings oberflächliche, gewollt erscheinende Setzungen. Selten dürfte eine intermediale Bezugnahme auf ein Musikstück so überzeugend ausgefallen sein wie die strukturbildende Folie der Bach'schen "Goldberg Variationen" in Anna Enquists Roman "Kontrapunkt" - der in Deutschland erstaunlicherweise schon einige Wochen vor der Veröffentlichung des niederländischen Originaltexts die Buchläden erreichte.

Diese gelungene Verknüpfung familiärer Erinnerungsarbeit mit der Reflexion musikpraktischer wie musikphilosophischer Fragen und mit der Gestaltung des Erzählmaterials in der von Bach entliehenen Form einer Aria, die dreißigfach variiert wird und am Ende wiederkehrt, beruht auf der geschickten Anlage der Erzählung. Und letztlich wohl auch auf der autobiografischen Realdeckung des Narrativs. Die Protagonistin, von der in der dritten Person, doch oft auch im intimen Modus innerer Rede berichtet wird, ist eine ausgebildete Musikerin. Ein Viertel Jahrhundert nachdem sie Bachs "Goldberg Variationen" am Ende ihres Klavierstudiums erstmals einstudierte - damals mit ihren beiden kleinen Kindern auf dem Schoß - erarbeitet sie sich erneut dieses Meisterwerk des Kontrapunkts und der Variationskunst. Um der deprimierenden Trauer um ihre bei einem Verkehrsunfall gestorbene Tochter den Widerstand der Erinnerungen entgegenzusetzen und um den Erinnerungen Form zu geben.

Anna Enquist, die in Holland wie in Deutschland seit Mitte der 90er-Jahre als Lyrikerin hervortrat und als Romanautorin (mit Titeln wie "Das Meisterstück", 1995; und "Letzte Reise", 2005) überaus beliebt wurde, ist für diese glänzende Verdichtung von Musik- und Erinnerungsreflexionen vorbereitet wie niemand sonst. Die Autorin verfügt neben ihren sprachkünstlerischen Fähigkeiten nämlich über das doppelte Fachwissen einer ausgebildeten Pianistin und einer Psychotherapeutin. Diese Mehrfachkompetenzen finden ihren Niederschlag in den 32 Kapiteln dieses Romans. Ohne dass hier allzu ausladend psychologische Trauertheorien beziehungsweise musikhistorische Spekulationen ausgebreitet würden, erfährt der gefesselte Leser doch Aufschlussreiches über die Hintergründe und Vertracktheiten des Bach'schen Meisterwerks.

Der äußere Rahmen der Erzählung zeigt die trauernde Mutter, die sich Stück für Stück das spieltechnisch wie interpretatorisch überaus schwierige Variationenwerk aneignet. Dabei schweifen ihre Gedanken zu einzelnen Stationen des Lebens ihrer Tochter und vor allem: zur engen Beziehung von Mutter und Tochter. Die zwei bis vierstimmigen kontrapunktischen Klaviervariationen bieten eine naheliegende, und weitgehend einleuchtende Analogie zu der Kleinfamilie von Mutter, Vater, Tochter und Sohn: "Alle vierstimmigen Goldberg Variationen erinnerten sie an Ferien, an harmonische Ausflüge in der Geborgenheit des Quartetts. Hier, in dieser Variation hatte die Sopranpartie etwas Unbesiegbares an sich, so etwas wie die noch ganz unkomplizierte Entdeckungsfreude eines Kindes, das sich fast euphorisch in der Welt orientierte. [...] Unten in der Tiefe brummten die Stimmen der Eltern zufrieden mit." Die musikhermeneutische Beschreibungen der einzelnen Bach-Variationen, die mal schwungvoll, mal gelähmt traurig, mal klar geordnet und mal scheinbar chaotisch oder diffus wuselnd ablaufen, bieten viele Assoziationspunkte für die glücklichen oder problematischen Interaktionen zwischen Familienmitgliedern.

Die stets von der Stimmung und Struktur einer der Goldberg-Variationen ausgehenden Muttererinnerungen umfassen episodisch das gesamte Leben der Tochter. Sie war, als der Fahrradunfall sie umbrachte, 27 Jahre alt geworden. Ihr Studium hatte sie gerade abgeschlossen. Sie befand sich noch auf der Suche nach dem richtigen Beruf und dem passenden Leben. Die Assoziationen reichen zurück bis in die Zeit der engsten Mutter-Tochter-Symbiose vor der Geburt und zur Geburt als erster einschneidender Trennungserfahrung. Der hinzutretende Bass unter den zwei Kanonstimmen der dritten Variation wird sodann mit dem die Mutter Tochter-Dyade ergänzenden Vater analogisiert. Das Überkreuzlaufen der Stimmen weckt rührende Erinnerungen an alte Kleider, die von der Mutter zur Tochter wechseln und später - nach dem Tod der Tochter - dann wieder, erinnerungsbeladen, von der Mutter getragen werden.

Vor dem Abgleiten in eine allzu sentimentalische Schönmalerei des Tochterlebens bewahren die Notate über die Krisen und Schwierigkeiten, die die Tochter - etwa beim Haushalten mit ihren Finanzen und ihrer Zeit - hatte. Sie fühlte sich im Chaos versinken und sprach mit ihrer Therapeutin über ihre so bedrohlich vollkommen wirkende Mutter, deren Vorbild ihr Leben unter Perfektionsdruck setzte. Die gelegentlich überfürsorglich symbiotische Mutter gesteht es sich auch ein, dass der Vater die Tochter gelassener und vertrauensvoller begleitete. Nicht erst angesichts des Todes der Tochter macht die Mutter schwer erträgliche Ohnmachtserfahrungen. Schon zuvor ereigneten sich Katastrophen im Umfeld der behüteten Tochter, denen auch die Mutter nur mit Hilflosigkeit begegnen konnte: der Amsterdamer Flugzeugabsturz im nahegelegenen Wohnviertel, der Motorradunfalltod eines Mitabiturienten, die schwere Krebserkrankung der Mutter einer Freundin. Der komplizierte Beinbruch der Tochter in Schweden und das schwere Augenleiden des alten Bachs werden in aufeinander folgenden Kapiteln erzählt und mit der sublimierten Schmerzverarbeitung Bachs in seinen elegischen Sätzen in Beziehung gesetzt.

Auch Bachs Sohn Bernhard, der zum Missvergnügen des Vaters nicht Musiker werden wollte, sondern die Rechte studierte, starb als Mitzwanziger. Für Enquist liegt in diesem schmerzlichen Kindsverlust eine der Motivationsquellen für die "Goldberg Variationen". Und für die Pianistin dient das Klavierüben erst als 'Betäubungsmittel' für die Trauerschmerzen und eröffnet dann gleichwohl heilsame Zugänge zu der eigenen Vergangenheit. Die strenge Form der Fugen erschien der Musikerin früher zu "kopfig und ausgetüftelt": "Jetzt ist die Fuge meine Rettung, dachte sie. Keine Form verlangt so viel Aufmerksamkeit. Keine appelliert so wenig an das direkte Empfinden. Eine Fuge ist selten bewegend oder schön."

Die Erzählung berichtet von Recherchen zur Struktur des Werks, seiner genetischen Verortung in Bachs Leben und zu den heutigen Hilfsmitteln bei seiner Einstudierung. Bach schrieb die Variationen, nach dem Tod seines Sohns Bernhard für seinen Lieblingssohn Wilhelm Friedemann. Für die Erzählerin bietet das Studium der "Goldberg Variationen" den Ausgangspunkt für gehaltvolle Überlegungen zu Körperlichkeit, Virtuosität und Techniken des Klavierspielens. Und zu den psychischen oder gar metaphysischen Dimensionen der Musik: "Musik lehrt einen eigentümliche Dinge über die Zeit". "Musik erfüllte so sehr, dass Uhren aufhörten zu ticken. Und doch gab kein anderes Medium das Verstreichen der Zeit so präzise an." "Und Musik verwies auf ihr eigenes Verstummen, denn in jedem Beginn wurde ein Ende angekündigt. So schmerzlich der angekündigte Schluss war, man verlangte nach der Entfaltung der Harmonien, ja sogar nach dem verfluchten Schluss. Ein Rätsel."

Das Musizieren erweist sich als eine Traumabewältigung, die von der Erzählerin auch neurologisch expliziert wird. Die Wiederholungen der Musik sollen die durch eine Lebenskatastrophe zerrissene Verbindung zwischen den Hirnhälften langsam wieder herstellen. So wird das neuerliche Erarbeiten der Variationen am Ende als wirksame Erinnerungsarbeit und Trauma-Verarbeitung bilanziert und zudem als Genese des vorliegenden Erzähltexts und seiner Poetik offenbart: "Das Einprägen der Noten und das Entwirren der Melodien hatten ihr lädiertes Hirn in Beschlag genommen. Im Takt der Musik hatte sie jeden Tag für eine Weile unbefangen atmen können. Durch die Hintertür hatte ihr Bach Zugang zu ihrem Gedächtnis verschafft: Jede Variation hatte Erinnerungen an das Kind wachgerufen, die sie in ihr Heft notiert hatte. Argwöhnisch, denn Erinnerungen waren Lügen. Zurückhaltend, denn sie haßte Gefühlsduselei."

Doch braucht die trauernde Mutter noch Jahre, um Veränderungen im Stadtbild oder andere Indizien für das Weiterlaufen der Zeit und das Ersetzen von Altem nicht als treulosen Verrat an der verstorbenen Tochter und ihrer Zeit zu empfinden. Die Vergänglichkeit der Dinge, die sich in den Möbelpackern konkretisiert, die die Reste des Tochterinventars eines Tages aus dem Haus tragen, treiben die trauernde Mutter von der Musik schließlich zur Sprache und zum Schreiben des Textes. Denn Musik alleine verfüge "weder über die denotativen Möglichkeiten noch über die narrative Struktur", um den dringlichen Mutterwunsch zu erfüllen, ihr Kind zu beschreiben, um es solcherart zu bewahren: "Die Worte waren ein Netz zum Einfangen der Tochter. Durch die Maschen schlüpfte jedoch so gut wie alles, was wirklich wichtig zu sein schien, hindurch, und der Frau blieb nur ein kläglicher, magerer Rest. Was am Flügel glänzte, schlug sich am Schreibtisch als matte, triviale Mitteilung nieder."

Gleichwohl waren für die Musikerin auch diese dürren Reste immer noch besser zu ertragen, als "das wortlose Elend" des Verlusts. Und aus Sicht des Lesers dieser alles andere als kläglichen literarischen Rhapsodie über Musik und familiäre Erinnerungsepisoden wirkt diese klug komponierte Erzählung keineswegs mager; sondern so weise wie wohltemperiert. Die Erzählstimme begreift ihr Schreiben als Wiederholung des Kinderlebens, wobei die Lebenstragödie in der Schrift in eine bittere Farce umgewandelt werde. Wenn die Erzählerin auf diese Weise selbstkritisch auf die Grenzen und Unvollkommenheiten ihrer Trauerarbeit in den Medien der Musik und der Schrift verweist, so trägt auch diese Reflexion aus Sicht des Lesers nur zur Gelungenheit dieses ergreifenden Kurzromans bei.

"Kontrapunkt" ist als gleichermaßen subjektive wie gelehrte Familien- und Musikerzählung ein geschliffenes Kunstwerk, das seinem musikalischen Pendant, den Bach'schen "Goldberg Variationen", an motivischer Finde- und Assoziationskunst, an emotionalem Gehalt und an formaler Fassungskraft kaum nachsteht. Höheres Lob ist - zumindest aus der Feder eines Verehrers der Bach'schen Klaviermusik - kaum denkbar.


Titelbild

Anna Enquist: Kontrapunkt. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Luchterhand Literaturverlag, München 2008.
217 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872827

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