Der Schriftsteller in der Konfrontation mit seinem Werk

Max Frischs New Yorker Poetikvorlesungen

Von Céline LetaweRSS-Newsfeed neuer Artikel von Céline Letawe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1981 feierte Max Frisch seinen siebzigsten Geburtstag. Die ersten sechs Bände der "Gesammelten Werke" waren bereits ein paar Jahre zuvor veröffentlicht worden und das Max Frisch-Archiv wurde gerade an der ETH Zürich eingerichtet. Damals wohnte der Schweizer Schriftsteller in New York und hielt am City College of New York, dem ältesten Teil der City University of New York, zwei Poetikvorlesungen, mit denen er eine Auseinandersetzung mit seinem Lebenswerk beabsichtigte. "Der Schriftsteller, im Gegensatz zu den meisten andern Menschen, kann sich nicht entfliehen: er hat seinen Steckbrief selber verfasst" - Max Frisch baute Texte, die diesen literarischen "Steckbrief" konstituieren, in seine Vorlesungen ein und reflektierte sie im Hinblick auf zwei wichtige Fragen: Warum schreibt der Schriftsteller? Und: Hat die Literatur eine gesellschaftliche Funktion? Diese zwei Poetikvorlesungen wurden 1985 und 1989 in der 1972 von Mark Jay Mirsky, Donald Barthelme, Max und Marianne Frisch begründeten Zeitschrift "Fiction" in englischer Sprache gedruckt. Sie werden jetzt, siebenundzwanzig Jahre nachdem sie gehalten wurden, zum ersten Mal in deutscher Sprache veröffentlicht.

In der ersten Vorlesung, "The writer's journey: From impulse to imagination", befasst sich Frisch mit der Frage, warum er Schriftsteller geworden ist. Er nennt mehrere Impulse, die ihn zum Schreiben bewegt haben: den Nachahmungstrieb und Spieltrieb am Anfang, den Versuch, die Vergänglichkeit aufzuhalten oder "die Dämonen zu bannen", das Schreiben als Therapie, und schließlich das Bedürfnis nach Kommunikation. Schreiben, das heißt für Frisch hier Geschichtenschreiben; Erfindung ist für ihn bekanntlich die einzige Möglichkeit, um eine Erfahrung zu vermitteln. Das weiß schon Stiller, der im gleichnamigen Roman (1954) sein wirkliches Leben erzählen soll und schreibt: "Ich habe keine Sprache für meine Wirklichkeit"; das weiß später auch das "Buch-Ich" in "Mein Name sei Gantenbein" (1964), das unter dem Stich-Wort "Ich stelle mir vor" Geschichten wie Kleider anprobiert. Dass der Schreibende sich dadurch aber nur entblößt, dessen ist sich Frisch bewusst. In seinen Vorlesungen zitiert er auch eine Passage aus seiner autobiografischen Erzählung "Montauk", in der er 1975 feststellt: "Ich habe mich selbst nie beschrieben. Ich habe mich nur verraten", und versucht, direkt autobiografisch zu schreiben, "ohne irgend etwas dabei zu erfinden". In der Konfrontation mit den eigenen Texten werden so die Konstanten, aber auch die Variationen deutlich, deren gleichzeitiges Vorhandensein Frischs Werk kennzeichnet (dafür hatte Frisch selbst nach der Lektüre der "Stich-Worte", der 1975 von Uwe Johnson zusammengetragenen Sammlung von Auszügen aus seinem Werk, das Bild der Spirale verwendet).

Die Feststellung, er schreibe nicht aus Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, sondern im Grunde genommen für sich selbst, bringt Frisch in der zweiten Vorlesung zu der Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Literatur ("The writer and his partners / The function of literature in society"). Was vermag Literatur? Frisch fängt an, einen Katalog der Fälle aufzustellen, in denen Literatur eine direkt-politische Wirkung gehabt hat, hört aber schnell wieder auf, um zu beteuern, er glaube nicht an eine solche Wirkung. Seiner Meinung nach vermag Literatur mehr, wenn sie nicht direkt-politisch sei. Dafür verwendet er am Ende seiner Vorlesungen das deutsche Wort "Poesie" und liefert ein zweiseitiges Manifest zur Poesie, das er in Anlehnung an das Gemälde "Schwarzes Quadrat" nennt - ein schwarzes Quadrat auf weißem Hintergrund, mit dem Malewitsch, einer der Hauptvertreter der Russischen Avantgarde, 1915 versucht hat, "die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien". Als Einleitung zu seinem Manifest erzählt Frisch eine vielsagende Anekdote: Einige Tage zuvor habe ihm ein Botschafter von seinem Besuch in der Eremitage zu Leningrad berichtet. Als er dort gefragt habe, ob er das "Schwarze Quadrat" sehen dürfe, habe man ihm geantwortet, das Bild liege im Keller. Auf die Bemerkung des Botschafters: "Sie brauchen Malewitsch nicht im Keller zu verstecken, das Volk würde ihn gar nicht ansehen!" habe die Funktionärin geantwortet: "das Volk könnte nicht verstehen, wozu dieses Schwarze Quadrat, aber es würde sehen, dass es noch etwas anderes gibt als die Gesellschaft und den Staat". Die gesellschaftliche Funktion der Literatur bestand für den Schweizer Schriftsteller darin, "(implizite) die Utopie [zu liefern], dass Menschsein anders sein könnte". In der Diskussion, die im Anschluss an die Vorlesungen mit sechs amerikanischen Schriftstellern geführt wurde und in der Zusammenfassung von Mark Jay Mirsky erfreulicherweise im Band wiedergegeben wird, wurde Frisch gebeten, seinen Utopie-Begriff zu definieren. Er blieb sehr vage: Utopie sei die Sehnsucht nach etwas, das der Mensch noch nie erlebt habe, das er aber haben möchte. Und auf die sehr pragmatische Frage, wie man das schaffen werde, gab er eine für viele Anwesende resigniert klingende Antwort: "Wir werden es nicht schaffen. Die Sehnsucht gibt die Richtung für das an, was wir tun". Diese Diskussion zwischen dem Schweizer und seinen amerikanischen Kollegen ist einer der vielen Höhepunkte des spannenden Bandes.


Titelbild

Max Frisch: Schwarzes Quadrat. Zwei Poetikvorlesungen.
Herausgegeben von Daniel de Vin.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
94 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419991

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