Unheimlich, erklärt

Jutta Heinrich misstraut dem eigenen Sprachwerk

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine "unerklärliche Sinnesstumpfheit" plagt die Protagonistin von Jutta Heinrichs neuem Roman. Sie begibt sich deshalb auf jene "unheimliche Reise", die der Titel ankündigt. Ihre Flucht vor dem Alltag gelingt gründlicher als geplant: Einem plötzlichen Impuls folgend, verlässt sie in einer ihr unbekannten, namenlosen Stadt den Zug. Das Muster der unbeabsichtigten Ankunft verweist auf eine der Ebenen, auf denen Heinrich operiert: auf die Utopie. Schnell wird allerdings deutlich, dass es in diesem Utopia nicht zum besten steht: misstrauisch-unfreundliche Einwohner wirken wie aus einem Schauerroman entsprungen; ebenso wie rätselhafte Andeutungen und Warnungen, wie gewaltsame Vorgänge im Hotel, in dem die Heldin sich ein Quartier eher erkämpft als gemietet hat, und wie eine Polizei, die jegliche Anzeige als Denunziantentum zurückweist. All dies spornt die Heldin indessen nur zu immer gewagteren Nachforschungen über das Geheimnis der Stadt an.

Die Lage spitzt sich zu, als sie in einer nächtlichen Gasse Zeugin eines Mordes wird und später als Opfer einer Horde fellverkleideter Tiermenschen sich in einem Krankenhaus wiederfindet, das zumindest für sie eher als Gefängnis fungiert. Eindringlicher noch als zuvor fragt sie sich dort, ob nicht vielleicht sie es ist, die verrückt wurde. Ein erneuter Angriff der Tiermenschen rettet sie, denn im Tumult kann sie endlich fliehen. Das letzte Kapitel bietet, wahrscheinlich, die Lösung und markiert zugleich den politischen Gehalt, den das Buch haben mag. Ein Wissenschaftler referiert vor unwilligen Journalisten sein erfolgreiches Experiment: er erzeugt eine Kreuzung aus Mensch und Affe. Klar scheint, dass die Protagonistin unfreiwillige Zeugin der Experimente wurde. Von draußen stören die Tiermenschen und drohen die Veranstaltung zu stürmen.

Soweit der Verlauf; die Bewertung des Buchs hängt davon ab, auf welcher Ebene man es liest. Politisch ist der Roman schwach, denn die Auflösung wirkt angeklebt: über viele Kapitel hinweg ist eine bedrohliche Atmosphäre aufgebaut - als Bluff. Wenn am Ende alles erklärt ist, erweist sich die Wahrnehmungsproblematik, erweist sich auch jede Erwägung, wer denn verrückt sei, als Spielerei und also Ablenkung vom Ziel. Ebenfalls stört - und das ist nun unmittelbar politisch -, dass Heinrich alle Missstände der Welt explizit zusammenzubringen sucht: Nicht nur ist das Mordopfer ein gehasster Ausländer - auch die Frau, mit und in der experimentiert wird, stammt aus der Ukraine. Störend plakativ ist auch der Antifeminismus, den ausgerechnet der schurkische Polizist äußert, der von nichts etwas wissen will.

Nun gibt es frauenfeindliche Polizisten genug; und die Reproduktionsmedizin zielt auf die Kontrolle von Frauen und ihren Körpern. Die Kombination jedoch ist falsch: darin liegt politisch das Hauptproblem des Buchs. Was heute an Gentechniken entwickelt wird, gibt sich als Erfüllung individueller Wünsche - auch der Wünsche von Frauen. Die Forscher verfügen zudem über moderne Kliniken und Laboratorien, und zwar in Städten, die wie alle anderen auch und gerade nicht unheimlich wirken: Man geht an irgendeinem Krankenhaus vorbei und weiß nicht, was darin sich vollzieht. Diese Normalität zum gespenstisch-grausigen Schrecken aufzublasen verharmlost die trivialere Gefahr. Nebenbei: Heinrichs Wissenschaftler handwerkeln nächtens im obskuren Hotelzimmer, obwohl die Heldin sich später im durchaus gut gesicherten Krankenhaus eingesperrt findet. Das Pflichtbewusstsein, mit dem die Schurken Romanhandlung und Protagonistin vorantreiben, ist bemerkenswert - leider fehlt Rücksicht auf die innere Stimmigkeit der Warnutopie. Noch mehrere derartiger Inkonsequenzen ließen sich beklagen.

Heinrich jedenfalls entscheidet sich gegen das beängstigende Normale und für den Schauerroman. Explizit bezieht sie sich auf Mary Shelleys "Frankenstein". Das alte Genre vermag zwar die moderne Wissenschaft nicht zu fassen, ist jedoch für sich betrachtet gekonnt angewandt. Gerade in seinem Rahmen gelingen der Autorin beachtliche Schilderungen. Die besten Teile des Romans erfassen die Stimmungen der Stadt, den Wechsel der Beleuchtungen und jähe Umschläge vor allem zwischen Tag- und Nachtwelt. Sie sind im engeren Sinne nicht anschaulich. Isolierte Stilkritik könnte über weite Strecken einen anstrengenden Nominalstil beanstanden, und wo gereihte Adjektive Konkretes suggerieren, ergeben die Einzeleindrücke kein erfahrbares Ganzes. Doch gerade solange das scharf herausgemeißelte Detail auf eine Weise dominiert, die das Begreifen verhindert, wird eine Atmosphäre des Unheimlichen erzeugt.

Die Protagonistin, die ja zu Beginn den Verlust der Sinnenwelt beklagte und darum ringt, unmittelbare Wahrnehmung zurückzugewinnen, behält dabei ebenso den forschenden Blick wie ihre Gegner, die sie erst ganz am Ende identifiziert; in dieser Hinsicht ist gestaltet, wie Forschung und Ungreifbares in eins gehen. Fast ist man versucht, das Schlusskapitel als Rationalisierung des vorerst Unbekannten zu lesen. Der Stil, der Distanz zementiert, eröffnet paradox die Möglichkeit, dass die Erfahrbarkeit der Romanwelt die rationalisierende Erklärung, wenn auch nicht unbeschadet, übersteht.

Zum Spannungsverhältnis zwischen modernem, politischen Thema und dem Genre, das sich ihm zum Glück entzieht, tritt eine weitere Schicht, die schon erwähnt ist. Handelt es sich um eine Utopie, eine Warnutopie? Im Ganzen: Nein. Das Buch, das anfangs utopische Momente zitiert, um sie dann nicht durchzuführen, verweist auf einen der Gründe, weshalb Utopien heute fern scheinen. Noch die bedeutenden Dystopien des 20. Jahrhunderts: Orwells "1984", Huxleys "Brave New World", Samjatins "Wir" oder Boyes "Kallocain", bemühten wie die allerersten Muster der Gattung einen staatlichen Rahmen, der nun eben ins Bedrohliche gewendet war. Utopisches Denken, selbst in seiner Verkehrung, ist eben wesentlich Ordnungsdenken; und Ordnungsdenken kommt ohne Staat nur da aus, wo familiäre Überschaubarkeit die abstrakte Regelung kurzfristig zu ersetzen vermag, wie in Schnabels "Insel Felsenburg". Wo hingegen politisches Denken kein Kampf um staatliche Form mehr ist, sondern zur Konkurrenz verschiedener Varianten von Privatisierung verkommt, schrumpft die positive Utopie zur idealistisch-harmlosen Wunschwelt, die man nicht ernst zu nehmen braucht. Der Feind, den die Warnutopie braucht, verflüchtigt sich derweil in anonyme Struktur.

Dem entspricht, gewollt oder ungewollt, Heinrichs Welt; zumindest darin ist sie realistisch. Ein umfassender Gesellschaftsentwurf fehlt in jeder Hinsicht. Das Neue entsteht aus privater Initiative, nur finanziert die Stadt die Experimente. Die Polizei sieht weg, bekämpft allenfalls die oppositionellen Tiermenschen. Scheinbar triumphiert das liberale Denken, und mit ihm das souveräne - männliche - Individuum, das Natur nicht nur durchschaut, sondern, als Schöpfer, neu entwirft. An diesem Punkt jedoch hat Heinrich faszinierende Ambivalenzen eingebaut: eine widersprüchliche Allianz von arrogantem Alltagsbewusstsein und rücksichtslosem Forscherdrang. Der normale Stadtbewohner hasst die Oppositionellen, die sich mit Tieren identifizieren: "Ekliges Pack", "Genschrott" sind aus seiner Sicht alle diejenigen, die nicht auf klare Abgrenzung zum Tier achten. Menschlich-männliche Hybris fabuliert von den "ewig Rückständigen", die sich immer noch einreden lassen, der Mensch stamme vom Tier ab. Gleichzeitig überschreiten die männlichen Forscher die Grenze zwischen Mensch und Tier. Auch sie wenden sich gegen die in ihrer Sicht erniedrigende Vorstellung, nichts als weiterentwickelte Tiere zu sein. Indem sie Mensch und Affe kreuzen, imaginieren sie sich selbst als Schöpfer, bleiben jedoch gerade darin an eine biologisierende Sichtweise gebunden.

Resultat ist, dass die Versuchsperson vertiert; die äußeren Anzeichen dieses Vorgangs müssen die Forscher im Verlauf des Experiments zurückdrängen. Wer die Natur sich unterwerfen will, unterwirft sich ihr. Darin ähneln sich nicht nur Alltagsmann und Genforscher. Selbst die Oppositionellen, die scheinbar solidarisch sich als Tier verkleiden und deren Wut so blind und ziellos ist, wie man es Tieren zuschreibt, bleiben der Tier-Mensch-Dichotomie verhaftet. Dass ihre Gegengewalt siegen könnte, ist am Ende angedeutet.

Eine Lösung wäre das nicht, denn diese Sieger ähneln denen, die sie vielleicht beseitigen. Real hätten sie keine Chance, denn ihr Feind ist ungreifbarer als in Jutta Heinrichs Romanwelt. So lässt das Buch den Leser ein wenig ratlos zurück - was nicht gegen Heinrich spricht. In der liberalen Gesellschaft verschwindet das Subjekt, und statt Schrecken ist Glück versprochen - jedem, der zahlen kann, fürs Experiment oder wofür auch immer. Wo personale Verantwortlichkeit fehlt, hat Literatur ein Problem. Das Ungenügen der alten Formen Utopie und Schauerroman eröffnet darauf den Blick und ist so privatisierendem Ausweichen überlegen.

Der Roman erschwert durch seine scheinbar eindeutige Auflösung auch diese Erkenntnis. Seine Stärke hingegen liegt im Sprachwerk, gerade weil es Normen widerspricht. Anhänger modisch-neorealistischer Anschaulichkeit werden mit diesem Buch kaum glücklich, ebenso die wenigen überlebenden Avantgardisten, denen die einsträngige Handlung kaum gefallen dürfte. Mit dem saftigen Detail zu locken, es gleich wieder zu entziehen: Das ist die sprachliche Entsprechung der Warenwelt, die an wenigen, doch wichtigen Stellen der Stadtbeschreibungen in ihrer Prägnanz sich entzieht und so eine Ahnung von entpersonalisierter Herrschaft vermittelt. Auf dieses Spiel sich einzulassen, macht klüger, bedeutet freudige Erfahrung, und vielleicht auf dieser Ebene: Utopie.

Titelbild

Jutta Heinrich: Unheimliche Reise.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1999.
208 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3434504273

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