Kritik der generativen Vernunft - Ludger Lütkehaus philosophiert über das Geboren-Werden

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Ein vermutlich auf Platon zurückgehender Topos besagt, zu philosophieren heiße zu sterben lernen. Ein insofern naheliegender Gedanke, als man gemeinhin wenig Gelegenheit hat, das Geboren-Werden zu lernen. Dennoch liegt nun unter dem Titel "Natalität" eine - weitere - "Philosophie der Geburt" vor. Ludger Lütkehaus schließt mit ihr an sein opus magnum an, die wohl umfangreichste Untersuchung von "Nichts", "um zwischen nataler Euphorie und letaler Depression andere Wege zu eröffnen." Denn die generativen Medizintechnologie und die "heiklen ethischen Fragen", die mit ihr einhergehen, erforderten eine "Kritik der generativen Vernunft". Diese zu leisten sei nicht etwa nur "eine neue Aufgabe" der Philosophie, sondern "das philosophische Gebot der Stunde" überhaupt.

Nachdem der Autor in seinem neuen Werk zunächst über die "schwere Geburt der Geburtsphilosophie" und die "philosophische Geburtshilfe" räsoniert, wendet er sich im umfangreichsten Abschnitt ausführlich "Hannah Arendts Philosophie der Natalität" zu. Nicht nur, weil sie es war, die die Philosophie begründet hat, "die den Paradigmenwechsel von der bisher dominierenden Thanatologie zur 'Natalogie' vollzieht", sondern mehr noch "weil sie das Thema am präzisesten und konsequentesten entfaltet hat, aber auch, weil sie die anziehendste Stimme der Geburtsphilosophie ist". Lütkehaus' eigenes Denken ist allerdings eher von den "Gegenstimmen" geprägt.

Im Zentrum seines Essays stehen Probleme, die sich für eine Philosophie der Geburt im Spannungsfeld zwischen der gedankenlosen Rede vom "Geschenk des Lebens" und des vom dionysischen Mundschenk Silen an Cioran und andere Eingeweihte vererbten Wissens um den "Nachteil, geboren zu sein" ergeben. Das vermeintliche Geschenk, geboren zu werden, wird von Lütkehaus mit Immanuel Kant als "Diktat der Geburt" nachgewiesen.

Die Biotechnologie mindert dem Autor zufolge keineswegs den Diktatcharakter des Geboren-Werdens. Die "vollendete Determination des generativen Produkts" werde durch die Anthropotechnik vielmehr "potenziert" und somit zum "weitestgehende[n] Diktat, das die zu Produzenten mutierten Schöpfer je über ihre Produkte verhängt haben."

Dennoch befiehlt der Imperativ, den Lütkehaus den "Schöpfern jeder Provenienz für ihr Verhältnis zu den Geborenen" zuletzt mit auf den Weg gibt: "Handle so, als ob das Leben ein Geschenk, die Welt ein Licht sein könnte".

R.L.

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Titelbild

Ludger Lütkehaus: Natalität. Philosophie der Geburt.
Die graue Edition, Reutlingen 2007.
126 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783906336473

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