Kunstgeschichte nach dem Ende der Kunstgeschichte?

Verena Krieger schreibt über "Kunstgeschichte und Gegenwartskunst"

Von Michael MayerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Mayer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Scheu historischer Forschung vor der eigenen Gegenwart ist zweifellos notorisch. Und sie liegt in der Natur der Sache: des Historikers Blick zurück ohne Zorn und Eifer richtet sich aufs Vergangene, das sich ihm in der Form des vollendeten Perfekts darstellt, abgeschlossen, total. Mag die Deutung, die er dem Quellenmaterial gibt, strittig sein, unstrittig bleibt - dass sein wissenschaftliches Ethos der Strenge, Objektivität und Nachprüfbarkeit der Resultate an einem Gegenstand hängt, der im Ganzen gegeben sein soll. Wer sich indes mit dem methodischen Rüstzeug geschichtswissenschaftlicher Forschung an die eigene Gegenwart heranwagt und zum "Zeitgeschichtler" wird, begibt sich auf gefährlich dünnes Eis. Denn die Dinge sind hier noch im Fluss, noch unvollendet. Urteile über sie sind stets mit dem Risiko behaftet, rasch ad absurdum geführt zu werden. Die Reserve des Forschers gegenüber Zeitgeist und Zeitgenossenschaft gründet wohl nicht zuletzt in der Furcht, sich coram publico zu blamieren.

Was für die historische Forschung im Allgemeinen, scheint im Besonderen auch für die Kunstgeschichte zu gelten. War noch der Ahnherr des Fachs, Giorgio Vasari, ganz der Aktualität gegenwärtiger Kunstproduktion verpflichtet, drückte dessen weitere Professionalisierung das Interesse an genuin zeitgenössischer Kunst zunehmend in den Hintergrund. Der Tunnelblick aufs längst Vergangene gehörte alsbald zur guten Etikette der Zunft. Ein Band namens "Kunstgeschichte und Gegenwartskunst" trägt somit These und Provokation schon im Titel, während sein Untertitel kühn auf Friedrich Nietzsches Sprengung jedweder Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit anspielt. Sein aggressives Plädoyer für ein aktives Vergessen, für Präsenz und Präsens, stieß nicht nur dem geschichtsversessenen 19. Jahrhundert übel auf. Ihrem Vorbehalt gegenüber jeglichem aktuellen Zeitbezug hielt die Kunstgeschichte noch bis tief in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts stur die Treue. Wer, wie etwa Max Imdahl, mit diesem Konsens zu brechen wagte, galt rasch als Sonderling, seine Kunstkritik aktueller Kunst als feuilletonistisch, sprich anrüchig.

Was - trügen die Zeichen nicht - sich aber in jüngster Zeit ändern soll: wenn schon nicht das "Ende der Kunstgeschichte" (Hans Belting), so wäre doch das Ende ihrer gegenwartsdiagnostischen Abstinenz festzustellen. Nach dem "iconic turn" und im Angesicht der Rasanz, mit der sich Bild- und Medienwissenschaften als akademische Konkurrenzunternehmen etablieren, konnte offensichtlich auch die Kunstgeschichte nicht länger bei ihrem "business as usual" verharren. Genau dies benennt den konzeptionellen Einsatzpunkt der Anthologie. Dass sich in der (zumal deutschen) Kunstgeschichte seit den 1990er-Jahren die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst durchgesetzt habe, wird dabei zwar konzediert. Doch fehle dem an sich begrüßenswerten Prozess bislang die begriffliche Substanz: "Welche theoretischen und methodologischen Herausforderungen daraus erwachsen", so Verena Krieger in ihrer Einleitung, "dass eine genuin historische Wissenschaft sich zeitgenössischen Phänomenen zuwendet und dass Kunsthistoriker/innen unmittelbar im aktuellen Kunstgeschehen gestaltend mitwirken, ist bislang nur vereinzelt thematisiert worden."

Kunstgeschichte nach dem Ende der Kunstgeschichte also? Ihre neuentdeckte Liebe zur künstlerischen Gegenwart als akademisches Aphrodisiakum, um eine Disziplin, die an ihrer selbstverschuldeten Antiquiertheit zu ersticken drohte, zu revitalisieren? Doch derlei Räsonnement auf eher außerakademische Beweggründe findet man in dem Band eher selten. Die stattdessen von der Herausgeberin anempfohlene "Historisierung der eigenen Gegenwart" setzt sich jedoch nicht nur behänd von der tagesaktuellen Kunstkritik ab, die prinzipiell aufgrund ihrer allzugroßen Nähe zum "Betriebssystem Kunst" als parteiisch gelten muss.

Vor allem aber stockt einem der Atem ob der erkenntniskritischen Nonchalance, mit der zeittheoretische Implikationen höchster Komplexität einem als Binsenweisheit angedreht werden sollen. Das Gewordene im Bestehenden zu erkennen, die Einsicht in die eigene Historizität zu kultivieren und sich von einem linearen Geschichtsverständnis zu verabschieden, klingt gut, sagt heutzutage aber wenig. Und die These, dass nichts Gegenwärtiges voraussetzungslos geschehe, ist selbst keineswegs voraussetzungslos. Sie unterschlägt alle nicht zuletzt von Friedrich Nietzsche ausgehenden Versuche, ein "Ereignis" zu denken, das unerwartet, plötzlich, eben absolut voraussetzungslos in die Zeit einbricht und die Gegenwart von der Vergangenheit abspaltet. Was beileibe nicht nur Walter Benjamins, nicht nur Martin Heideggers oder Jacques Derridas Lebensthema war und für die Funktionslogik künstlerischer, überhaupt kreativer Prozesse fundamental sein dürfte.

Restauriert sich also der alte historistische Dünkel gegen das Neue noch in der Gestalt einer sich methodenkritisch revidierenden Kunstgeschichte? Zum Glück ist der Sammelband schlicht besser als sein herausgeberisches Konzept und dem unvermeidlich pluralistischen Ansatz geschuldet, dass auch Kunstgeschichtler dezidiert zu Wort kommen - wie etwa Philip Ursprung, Sebastian Egenhofer oder Richard Hoppe-Sailer -, deren Skrupel vor dem glattgeschliffenen methodologischen Vokabular offensichtlich so groß sind, dass sie sich spürbar zu anderen Ufern aufgemacht haben. Weder finden sich bei ihnen die längst überkommenen Reflexe wider eine aus der Nahperspektive operierenden Kunstkritik, noch schrecken sie vor einer radikalen Zeitgenossenschaft oder dem Versuch zurück, Kunstwissenschaft endlich als eine Disziplin zu begreifen, die ihren Gegenstand kraft Analyse performativ hervorbringt. Wohin die Reise führt, weiss derzeit niemand. Auch nicht, ob Kunst und Kunsterfahrung letztlich nicht doch eine Begrifflichkeit einfordern, die statt Methodenfestigkeit und akademischer Korrektheit einen stets riskanten, stets provisorischen, stets singulären Zugang zum künstlerischen Entwurf zu öffnen vermag.


Titelbild

Verena Krieger (Hg.): Kunstgeschichte und Gegenwartskunst. Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft.
Böhlau Verlag, Köln 2008.
238 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783412202569

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