Stunde der wahren Empfindung
Katrin Dorns Roman über das Mysterium unserer Sprachlosigkeit
Von Christina Langner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAusgesprochene Worte können selten so schmerzlich sein und zwei Menschen so sehr voneinander entfremden wie das Schweigen: Die nicht geäußerten Worte, die der eine sich vom anderen vergeblich erhofft.
Vera, die Protagonistin in Katrin Dorns Roman "Lügen und Schweigen", wird gequält von diesem Schmerz, den das Nichtgesagte, aber so sehr Erwartete auslösen kann. Seit sie denken kann, wartet sie auf Worte der Zuneigung und Liebe von Seiten ihres Vaters. Vergeblich. Das Schweigen, das ihr Elternhaus beherrscht, wird letztlich so stark, so durchdringend, dass Vera bald nicht mehr in der Lage ist, es zu überhören. Kaum erwachsen flüchtet sie sich aus der thüringischen Provinz nach Berlin, wo sie kurz nach dem Mauerfall Vincent, einen westdeutschen Psychologiestudenten, kennenlernt. Mit ihm teilt sie von nun an ihr Leben und seine Wohnung. Um sich an ihre reale Vergangenheit und vor allem an das Schweigen des Vaters nicht erinnern zu müssen, erzählt sie Vincent, ihre Eltern seien tot. Dies ist nur eine von vielen mal kleineren und mal größeren Schwindeleien, aus denen Vera im Laufe der Zeit ein kompliziert verzweigtes Lügengerüst konstruiert, das zu ihrer neuen imaginären Vergangenheit wird.
Erst als sie erfährt, dass ihr Vater im Sterben liegt, wird sie zur Auseinandersetzung mit der Realität und sich selbst gezwungen. Sie erinnert sich an den ständigen Kampf, den sie als Kind um die Zuneigung ihres Vaters geführt hat. Noch an seinem Sterbebett ringt Vera um die Liebe des Vaters. Doch hofft sie vergeblich auf die ersehnten Worte. Der Tod des Vaters hinterlässt wieder nur Schweigen.
Mit dem tiefen Wunsch, sich Vincent mitzuteilen, kehrt Vera nach Berlin zurück. Ihr Versuch, mit ihm zu reden und der Vorsatz, ihr Leben zu ändern, scheitern, kaum dass sie die Wohnung betreten hat. Statt es endlich zu wagen, ihre wirklichen Empfindungen und Gedanken auszusprechen, fügt Vera ihrer imaginären Vergangenheit neue Lügengeschichten an. Ihr erfundenes Vorleben erweckt schließlich Vincents berufliches Interesse an ihrem "Fall". Seinen Grundsatz, "Beziehung sei therapiefreie Zone", kann Vincent nicht länger aufrechterhalten - und er beginnt mit der psychologischen Analyse des befremdlichen Verhaltens seiner Freundin.
Es kommt zum Streit und zur vorläufigen Trennung. Vor der erdrückenden Einsamkeit flüchtet sich Vera in eine Affäre, doch die Erinnerung an ihren Vater bleibt allgegenwärtig. Schließlich ist es Vincents Vater, der ihr den Weg zu sich selbst weist. Vera entscheidet sich, sich nicht länger vor Auseinandersetzungen in Lügen zu flüchten, denn "wer wegläuft, weiß nur, wo er nicht sein will, aber nie, wohin er gehen soll."
Nach ihrem 1997 veröffentlichten Debüt "Der Hunger der Kellnerin" thematisiert Katrin Dorn (*1963) in ihrem zweiten Roman ein weit verbreitetes Problem unserer modernen Gesellschaft: Das Unvermögen, sich mitzuteilen und die eigenen Empfindungen in Worte zu fassen. Indem Dorn den Leser in das Innere ihrer Protagonistin blicken lässt, eröffnet sie ihm gleichzeitig auch psychologische Einblicke in das Wesen unserer Gesellschaft und liefert Begründungen für die häufige Flucht in das "Lügen und schweigen".
Wenn es darum geht, Gefühle zu zeigen, hüllen sich fast alle Charaktere in Dorns Roman in Schweigen. Und wenn ihnen die Sprachlosigkeit gar zu beschwerlich wird, so flüchten sie sich auf die rettende Insel der Lüge. Aus Angst vor zuviel Nähe, aus Angst vor der Konfrontation mit dem eigenen Ich verdrängen und verschweigen sie die Wahrheit und suchen die entstandene unerträgliche Stille mit erfundenen Geschichten zu durchbrechen.
Katrin Dorn schildert die Entwicklung ihrer Protagonistin überzeugend, lässt den Leser teilhaben an ihrer schmerzlichen Reise zurück in die Kindheit, in die Absurdität der Sprachlosigkeit unserer heutigen Zeit. "Schweigen ist kein Land. Nicht einmal ein Zuhause, obwohl man sich darin wohl fühlen kann".