Vom Scheitern eines spannenden Unterfangens

Über Alexander Kluges Kapital-Variationen in seinem Film "Nachrichten aus der ideologischen Antike"

Von David SalomonRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Salomon

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon vor geraumer Zeit konnte man in beinahe allen Feuilletons über Alexander Kluges Plan lesen, das Marx'sche Kapital zu verfilmen. Schon vor Kluge gab es Ideen zur Übersetzung des Marx'schen Hauptwerks in künstlerische Darstellung. Zuletzt brachte die Theatergruppe des Rimini-Protokolls biografische Zugänge zum "Kapital" auf die Bühne. Von Kluge unbeachtet (vielleicht unentdeckt) blieben die Pläne Bertolt Brechts und Erich Engels "Das Kapital" als Clownerie oder Zeichentrickfilm zu realisieren. Dafür rekurriert er auf Sergej Eisensteins ebenfalls im Planungsstadium stecken gebliebenes Vorhaben, ausgehend vom Kapital und inspiriert durch James Joyce' Roman "Ulysses", Struktur und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft in freien Assoziationsketten zu erzählen: Alles sollte an einem (Feier)Abend spielen, in einer proletarischen Küche. Dass Eisensteins Plan so nur schwer realisierbar sein dürfte, sollte man Kluge nicht vorwerfen. Der Anspruch, den Film zu machen, den Eisenstein nicht realisieren konnte, wäre wohl auch zu hoch gesteckt. Kluge versucht dies auch nicht. Zu erwarten war ein eigenständiges Projekt, ein Versuch, sich dem Kapital mit filmischen Mitteln zu nähern, die "Kritik der politischen Ökonomie" ins Ästhetische zu übersetzen.

Tatsächlich verspricht der Titel Spannendes: "Nachrichten aus der Ideologischen Antike. Marx - Eisenstein - Das Kapital". Wer hier befürchtete, der Begriff "Antike" solle zum "alten Eisen" erklären, wurde durch einen Blick ins beiliegende Erläuterungsheft eines besseren belehrt: "Jede Gegenwart (weil sie praktisch ist) braucht eine Theorie. Geeignet sind dafür Bezugspunkte, die außerhalb des gegenwärtigen Geschehens liegen. [...] Es ist deshalb ein Vorzug, daß Eisenstein, das Jahr 1929, in dem er vermutlich seine Dreharbeiten durchgeführt hätte, sowie das Werk von Karl Marx (und die Beispiele, die er vor sich sah als er schrieb) für uns so fern sind wie eine Antike. Sie rücken nicht zu uns ins Sumpfgelände hin, sondern zu Aristoteles, Ovid und anderem sicheren Boden, über den die Menschheit verfügt." Dies scheint eine zeitgenössisch praktikable Fassung des Begriffs "Klassik": einer Klassik freilich, die im Kunstwerk reflektiert werden soll und daher radikal Neues fordert. Das Aktuelle herauszuschälen, die Erklärungskraft des "Klassischen" für das zu prüfen, was den Zeitgenossen umgibt, den Zusammenhang von Ökonomie und Politik in einer Kritik des (krisenhaften) Kapitalismus der Gegenwart greifbar zu machen (und all dies mit künstlerischen Mitteln) wäre ein ambitioniertes Projekt, das experimentelle Wege erfordert. Folgerichtig fragt Kluge im Beiheft auch: "Was heißt radikale Erneuerung des Films?" Mit Eisenstein antwortet er: "Schrift und auf Typik gerichtete Bilder ergeben 'emotionale Konvolute'. Die Montage davon dient weniger der Beobachtung als vielmehr der gedanklichen und dramaturgischen Steigerung. Diese Methode (und zugleich alle andere Methoden) traditioneller Melodramen (also jener Filmkunst, der Eisenstein selbst nicht folgt) will er beim Kapital-Projekt hinter sich lassen! Keine lineare Erzählung!"

Drei DVDs füllt Kluges Film. Der Titel "Marx und Eisenstein im gleichen Haus" (DVD 1) verspricht eine doppelte Annäherung: Die Annäherung des großen russischen Revolutionsregisseurs an den großen Theoretiker des postutopischen Sozialismus einerseits, die Annäherung der heutigen Zuschauer an beide andererseits. "Alle Dinge sind verzauberte Menschen" (DVD 2) wirkt wie eine etwas unglückliche Paraphrase der von Marx im ersten Band des "Kapitals" als "Fetischcharakter der Ware" analysierten Problematik. "Paradoxe der Tauschgesellschaft" (DVD 3) scheint den Blick auf Widersprüche im (Gegenwarts-)Kapitalismus zu lenken und die Brücke ins Politische zu schlagen. Das alles klingt zunächst vielversprechend.

Was sich dann jedoch zähe neun Stunden über den Bildschirm wälzt, ist weder klassisch-antik, noch gegenwärtig-experimentell, sondern schlichtweg langweilig. Da der Versuch, Eisenstein beim Hinter-sich-lassen linearer Erzählungen zu folgen, schwierig ist, verzichtet Kluge gleich ganz darauf, zu erzählen. Zugleich wirkt alles zufällig zusammengestückelt. Kluges Film ist das ermüdende Dokument des Scheiterns eines spannenden Projekts geworden: Interviews und Schriftkollagen, Rezitationen und Dokumentareinlagen plätschern zusammenhangslos vorüber und versetzen den Zuschauer in einen dämmrigen Halbschlaf. Nur hin und wieder wird man aus ihm geweckt: Etwa wenn Dietmar Dath, neben Oskar Negt der einzige Marxist der zu Wort kommt, das Hammer und Sichel-Symbol neu interpretiert. Für Dath steht die Sichel für den unmittelbaren Stoffwechsel mit der Natur, der Hammer jedoch für die Bearbeitung der Arbeitsgegenstände. Das Interview mit Dietmar Dath ist fraglos der Höhepunkt des Films. Die fünfundvierzig Minuten, die es dauert, entschädigen für Vieles. Tiefpunkt hingegen ist das Gespräch mit Peter Sloterdjik, der einmal mehr die Entzauberung der Welt beklagt und im Fetischismus der Ware jenes "Geheimnis" bewundert, das Marx eigentlich gelüftet hat.

In der Anlage interessant, doch leider genau dann zu Ende, wenn es spannend zu werden verspricht, ist ein Kurzfilm Tom Tykwers, der die zweite DVD einleitet. Hier wird die Kamera genutzt, das Interesse auf das Gewöhnliche zu lenken. Eine beliebige Berliner Straßenszene wird gewissermaßen seziert, indem zahlreiche - für gewöhnlich unbeachtete - Details ins Bild geholt werden. Eine Kommentarstimme erzählt die in ihnen sedimentierte Geschichte: Straßenschilder, Kohlenschächte und Hausnummern werden als historisch gewordene Artefakte vorgestellt, die ihr "Geheimnis" nur dem forschenden Blick derjenigen preisgeben, die Fragen an sie richten. Indem jedoch auch Tykwer nicht über kapitalistische Produktionsverhältnisse spricht, kommt er ebensowenig zum Marx'schen Fetischbegriff wie Sloterdijk. Indem "Dinge als verzauberte Menschen" verdunkelt, nicht Waren als unfreiwillig mit "theologischen Mucken" versehene "triviale Dinge" entlarvt werden, wird dem Marx'schen Kapital gerade jener kritische Stachel gezogen, der es eigentlich ausmacht.

Dieser Entsorgung des Marx'schen Kritikbegriffs entspricht sowohl die auffallende Vermeidungsstrategie des Gesamtprojekts, an irgendeiner Stelle explizit politisch zu werden, als auch die Auswahl der Interviewpartner. Sieht man von Dath, Negt und wenigen anderen ab, scheint die Zusammenstellung wie ein Who is Who alles dessen, was im Feuilleton gerade in Mode ist. Warum etwa ausgerechnet Durs Grünbein sich über die Brecht'sche Versifizierung des Kommunistischen Manifests verbreitet, bleibt ein gänzlich ungeklärtes Mirakel. (Eher gelohnt hätte es sich, Manfred Wekwerth zu fragen, der erst kürzlich eben dieses Brechtwerk in einer neuen Vertonung auf die Bühne brachte.) Auffallend ist auch, dass kein einziger marxistischer Ökonom befragt wird. Dabei hätte etwa Thomas Kuczinsky nicht nur Licht ins "Kapital" bringen, sondern auch aus dem Nähkästchen der eingangs erwähnten Dramatisierung desselben durch "Rimini-Protokoll" plaudern können, in der er mitwirkt.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Einige Stellen sind durchaus anregend. Insbesondere das Gespräch mit Dath kann man sich immer wieder anschauen. Im Ganzen ist Kluges Kapitalfilm jedoch eine Qual, der man sich nur dann unterziehen sollte, wenn es gar nicht anders geht.


Titelbild

Alexander Kluge: Nachrichten aus der ideologischen Antike. Eisensteins "Kapital".
3 DVDs mit einem Essay von Alexander Kluge.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
29,90 EUR.
ISBN-13: 9783518135013

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