Wieder ein Meisterwerk?
Walter Benjamins Briefanthologie „Deutsche Menschen“ wird kritisch ediert – und Rüdiger Görner stellt eine Sammlung mit deutschsprachigen Briefen aus vier Jahrhunderten vor
Von Jochen Strobel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Stanforder Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht hat in der Dezemberausgabe 2008 von „Literaturen“ provokant dazu aufgefordert, die „belanglosen Teile“ von Walter Benjamins Werk endlich „beiseite“ zu schieben. Einem der jüngsten Klassiker soll damit zuteil werden, was seine Vorgänger längst erdulden mussten, nämlich die kritische Revision eines Kanons, der im Fall Benjamins seit kurzem erst Geltung besitzt. Unbestritten bietet sich ein solch ketzerisches Unterfangen bei den erklärtermaßen wegweisenden und aktuellen Texten Benjamins vom Trauerspiel-Buch bis zum Kunstwerk-Aufsatz nicht an – doch wie steht es um die marginaleren Arbeiten, die auch in der weitverzweigten Benjamin-Forschung der letzten Jahrzehnte wenig Aufmerksamkeit fanden?
Für eine Probe aufs Exempel eher schon geeignet scheint der kürzlich erschienene zweite Band der Kritischen Benjamin-Gesamtausgabe. Er widmet sich auf über 500 Seiten einer selten gelesenen Briefanthologie, die als Buch unter dem Titel „Deutsche Menschen“ erstmals 1936 in einem Luzerner Verlag erschien. Der Herausgeber trat unter dem Pseudonym Detlef Holz auf. Dabei scheint klar zu sein, dass es sich um eine Gelegenheitsarbeit handelte, kein „Hauptwerk“. Erst 2008 wandte sich die Benjamin-Forschung in einem ersten, von Barbara Hahn und Erdmut Wizisla herausgegebenen Sammelband dem Buch und seinem, wie es dort im Vorwort heißt, „merkwürdige[n] Schicksal“ zu.
Grundlage des nur 100 Seiten umfassenden Lesetexts ist der um 1930 nicht gerade singuläre Versuch, auf dem Wege der Anthologie so etwas wie einen brieflichen Kanon zu entwerfen, der die, so Benjamin, „starre Unerschütterlichkeit“ des klassischen Werkkanons nicht in Frage stellen, aber ergänzen konnte. Der Brief als Lebenszeugnis und Gebrauchstextsorte galt allenfalls am Rande als literaturwürdig. Anthologien wie „Die Meister des deutschen Briefs“ oder „Romantikerbriefe“ (von Friedrich Gundolf herausgegeben) bestätigen allerdings den klassisch-romantischen Lesekanon der Deutschen, indem sie vor allem auf Briefe der hoch geschätzten Autoren rekurrieren.
Das tut Benjamin nur zum Teil, denn in seiner Auswahl ist fast immer einer der Briefpartner – oft ist es der Schreiber selbst – ein Unbekannter, ein Namenloser aus dem deutschen Bürgertum. Um eine Ehrenrettung dieses Bürgertums, dessen Glanzzeit hier mit den Eckdaten 1783 und 1883 bezeichnet wird, ist es Benjamin offenbar zu tun. Briefschreiber ‚aus der zweiten Reihe‘ sind Johann Heinrich Kant (der seinem Bruder Immanuel schreibt) oder Bertram, Freund des Kunstsammlers und -historikers Sulpiz Boisserée. Doch sind auch gute Bekannte aus der Literaturgeschichte unter den Schreibern: Johann Gottfried Seume und Johann Heinrich Voss, Annette von Droste-Hülshoff und Joseph Görres, Jacob und Wilhelm Grimm, Georg Büchner und Gottfried Keller. Auf die eine oder andere Weise kreisen etliche Briefe um das Gravitationszentrum Johann Wolfgang von Goethe. Gelehrte wie David Friedrich Strauss und Franz Overbeck (mit einem Schreiben an seinen Freund Friedrich Nietzsche) sind ebenfalls vertreten – im geistigen Klima der Gründerzeit waren sie allesamt Exoten.
Benjamins Überblick über das bürgerliche Jahrhundert vom Idealismus bis zur Reichsgründung ist alternativ, insofern er dialogisch ist und ohne Leitbilder auskommt – nicht zufällig steht der Adressat Nietzsche am Schluss. Nur bedingt kommen große Männer zu Wort, keine Sternstunden der Menschheit stehen auf der Agenda. Und doch ist es die Geschichte eines anderen, vielleicht eines „geheimen“ Deutschlands, die Benjamin erzählt – wenn er dieser Vorstellung Stefan Georges auch äußerst kritisch gegenüberstand.
Der ideologisierenden Einkleidung wird man heute nicht mehr mit ungeteilter Zustimmung begegnen können: dem Herausgeber selbst geht es, seiner programmatischen Einleitung nach zu urteilen, um „unbeugsame Prosaisten“ à la Gotthold Ephraim Lessing und Georg Christoph Lichtenberg, die angeblich den „preussischen Geist reiner und menschlicher aus[prägten] als das fredericianische Militär“. Um einen antiklassischen und doch bürgerlichen Werten wie „Haltung“, „Bescheidenheit“ oder „Familie“ verpflichteten Gegenkanon ist es dem Herausgeber also zu tun, um eine alte „Sachlichkeit, die mit keiner neuen den Vergleich zu meiden hat“. Stilgeschichtlich scheint also eine Verbindungslinie zur Kunst um 1930 zu bestehen. Der Alltag der ersten Leser ist stets mitzudenken: Der von dem romantischen Physiker Johann Wilhelm Ritter empfohlene „amor fati“ war auch in der Zeit der Notverordnungen 1931/32 angezeigt.
Die in besonderem Maß Empathie verheißende Textsorte Brief scheint dazu angetan zu sein, bürgerliche Lebenswelten des 19. Jahrhunderts auferstehen zu lassen, deren sprachliche Form teils auf „spontane[n] Meisterleistungen“ beruhte. Das heißt nicht, das Erzeugnisse einer epistolaren Genieästhetik vorgeführt werden. Benjamins biografische, gern auch wertende Einleitungen unterstützen die Durchhalteappelle, die von den Briefen selbst ausgehen. Das Elend des exilierten deutschen Intellektuellen steht schon mit Georg Forster auf dem Programm der Anthologie, die hochproblematischen Arbeits- und Lebensbedingungen der deutschen Dichter und Denker waren dem Leser des 20. Jahrhunderts wohl kaum zuvor so deutlich und zugleich unspektakulär vor Augen gerückt worden. Die Ahnenreihe der lange Zeit verkannten deutschen Autoren ist mit Friedrich Hölderlin, Heinrich von Kleist und Georg Büchner vertreten.
Dabei geht die umfangreiche Neuedition, ähnlich wie die bisherigen Forschungsbeiträge zu „Deutsche Menschen“, tendenziell teleologisch vor, stellt die Buchausgabe und den Emigranten Benjamin in den Mittelpunkt. Die Erstdrucke der zunächst 26 Briefe in der „Frankfurter Zeitung“ 1931/32 werden textkritisch vermerkt – allerdings auf der Basis von Ausschnitten, die im Walter-Benjamin-Archiv aufbewahrt werden. In welchen Kotexten die Briefe in den Jahren der Wirtschaftskrise standen und gelesen wurden, bleibt unerwähnt. Die Dominanz Goethes in der Sammlung könnte zumindest mit dem Goethejahr 1932 begründet werden. Die Suche nach einem ‚wahren‘ Deutschland war vor 1933, zu Lebzeiten Georges also, genauso aktuell wie nach 1933.
Die immens gründliche Edition Momme Brodersens – auf 100 Seiten Text folgen 440 Seiten Paralipomena und Kommentar – lässt kaum mehr eine Frage offen: alle Textzeugen werden genannt, beschrieben, analysiert – die Entstehungsgeschichte und die Wirkungsgeschichte zu Lebzeiten Benjamins werden wohl vollständig dokumentiert. Der Stellenkommentar versucht Sachbezüge bis hin zu Anspielungen transparent zu machen. Benjamins manchmal recht ausgiebige Bearbeitungen – so muss man sein Vorgehen wohl bezeichnen – der Quellentexte werden ebenfalls nachgewiesen.
Gewiss: der wissenschaftlich interessierte Benjamin-Leser wird sich keiner Offenbarung ausgesetzt sehen, aber eine Wieder- oder auch Neuentdeckung machen können. Als Akt einer Ehrenrettung der bürgerlichen Briefkultur des 19. Jahrhunderts und zugleich genuiner Teil von Benjamins Werk darf der Text einige Aufmerksamkeit für sich beanspruchen.
Auf Benjamins Anthologie (die er verkürzend als „Selbstporträt Benjamins im Exil“ liest) nimmt auch Rüdiger Görner in der Einleitung zu seiner Sammlung Bezug, die dem kühnen Vorsatz entspringt, einen „annähernd repräsentativen Querschnitt der deutschsprachigen Briefkultur“ zu bieten, und das auf gut 300 Seiten. Gert Mattenklotts, Heinz und Hannelore Schlaffers Sammlung mit dem ebenfalls repräsentativen Titel „Deutsche Briefe“ aus dem Jahr 1988 bringt es immerhin auf gut 700 Seiten. Wenn der Klappentext von einem „Hausbuch“ spricht, dann zeugt dies von Optimismus, scheint der Verlag doch auch im 21. Jahrhundert, 80 Jahre nach Benjamin, an so etwas wie einen Briefkanon zu denken.
Wiederum kommen vorwiegend Schriftsteller mit ihren Privatbriefen und den gängigen Themen Freundschaft und Familie, Liebe, Wissenschaft, Politik, Reisen und Kunst zu Wort. Es schließen sich aber auch Hans Werner Henze, Dietrich Bonhoeffer, Otto von Bismarck, Ludwig van Beethoven, Martin Luther oder Willibald Pirckheimer an.
Görner interessiert der sprachlich und gedanklich anspruchsvolle, ästhetisierte, aber „authentische“ Brief. Dabei pflegt die Anthologie (wie auch die Benjamins) die Kleinteiligkeit, das Besondere in der Alltäglichkeit im Gegensatz zur Monumentalität der Gedächtnisorte, zu denen auch die Briefausgaben ‚bedeutender‘ Schreiber gehören. Größe im Kleinsten zu zeigen – das gelingt Benjamin gerade, weil er sich in der Quantität bescheidet und keine repräsentative Sammlung verspricht.
In Görners Band sind neben Neuentdeckungen (wie etwa Exempeln aus der vor kurzem erst edierten Korrespondenz Hans Werner Henzes und Ingeborg Bachmanns) auch geradezu klassische Briefschreiber vertreten, so etwa mehrfach Kleist, Hölderlin an Casimir Ulrich Boehlendorff, Franz Kafka an Felice Bauer, Goethes letzter Brief an Wilhelm von Humboldt. Walther Rathenau, Georg Simmel oder Klaus Mann steuern Unerwartetes bei. Erfreulich gut abgedeckt ist die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, der man kaum mehr eine Fortführung der elaborierten Briefkultur von einst zugetraut hätte. Günter Grass und Uwe Johnson, Paul Celan, Wolfgang Hildesheimer und Karl Jaspers kommen zu Wort.
Damit wäre der Band eigentlich sehr empfehlenswert, ließe er nicht formal zu wünschen übrig. Die viel beschworene Urwüchsigkeit der Textsorte Brief sollte nicht, wie hier geschehen, durch sprachliche Normierungen eingeebnet werden. Die faktisch praktizierten Kriterien für die Herstellung der Textgestalt werden noch nicht einmal erwähnt. Die benutzten Quellen werden teils nur flüchtig angegeben, zusätzlich trüben zahlreiche Druckfehler den Leseeindruck. Was für Walter Benjamin offenbar noch selbstverständlich war, nämlich in die Brieftexte einzugreifen, sollte sich heute endgültig verbieten. Briefe sind, ganz im Sinn Benjamins, „Dinge“ – wenn wir diese schon nicht anfassen können, dann sollte den Leser wenigstens die Textgestalt verstören, von seinen Lesegewohnheiten ein wenig abbringen.
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