Alte Meister
Neue Gedichtbände von Walter Kempowski und Hans Magnus Enzensberger
Von Stefan Höppner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs waren Männer und Frauen des Geburtsjahrgangs 1929, die das Kulturleben der alten Bundesrepublik prägten. So formulierte es „Generation Golf“-Autor Florian Illies vor einigen Monaten sinngemäß in der „Zeit“. Auch wenn Illies, Jahrgang 1971, naturgemäß nur einen geringen Teil davon bewusst verfolgen konnte, hat er in der Sache doch Recht. Jetzt, da die alten Geistesgrößen in die Jahre kommen, lichten sich die Reihen. Jürgen Habermas konnte vor kurzem noch seinen 80. Geburtstag feiern. Andere, wie Peter Rühmkorf oder Ralf Dahrendorf, sind unlängst gestorben. Das Jubiläumsjahr ist natürlich auch Zeit, Bilanz zu ziehen – oder weiter Bücher zu schreiben. Fast gleichzeitig sind in diesem Frühjahr neue Gedichtbände zweier der von Illies gefeierten Autoren erschienen. Auf der einen Seite das schmale Bändchen „Langmut“ des 2007 verstorbenen Walter Kempowski, auf der anderen Seite das vergleichsweise opulent ausgestattete „Rebus“ von Hans Magnus Enzensberger, der deo volente am 11. November seinen runden Geburtstag begehen wird.
Zwei Autoren, die tatsächlich die literarische Landschaft der letzten Jahrzehnte geprägt haben, die aber unterschiedlicher kaum sein könnten: Hier der lange unterschätze und als trivial gescholtene Romancier, der in seinen vielbändigen Zyklen „Deutsche Chronik“ (1971-1984) und „Das Echolot“ (1993-2005) das Ineinander von Geschichte und persönlichem Erleben dokumentierte. Dort der virtuose, quecksilbrige Lyriker und Essayist, der mit Projekten wie dem „Kursbuch“ und der „Anderen Bibliothek“ Maßstäbe setzte und mit seinen ständig wechselnden Standpunkten dem Mainstream oft um genau jene halbe Drehung voraus war, die es brauchte, um die medialen Debatten zu dominieren. Während Enzensberger unbestritten zu den großen deutschsprachigen Lyrikern zählt, seit 1957 „die verteidigung der wölfe“ erschien, ist Kempowskis „Langmut“ ein Debüt, sein erster und nun auch letzter Gedichtband, der nach testamentarischer Verfügung zum 80. Geburtstag des Autors im April 2009 erscheinen sollte.
Kempowskis „Langmut“, in den letzten Lebensjahren des Autors entstanden, thematisiert die acht Jahre, die Kempowski zu DDR-Zeiten als Häftling im „Gelben Elend“ von Bautzen fristen musste. Er wurde festgenommen, weil er den Amerikanern Dokumente über die Demontage der elterlichen Reederei durch die sowjetischen Besatzer übergeben hatte. Obwohl Kempowski „nur“ ein Drittel der 25jährigen Strafe absetzen musste, bildete diese Zeit im Gefängnis einen Kern, um den sein späteres Werk immer wieder kreiste, am publikumswirksamsten in zwei Bänden der „Deutschen Chronik“, „Uns gehts ja noch gold“ und „Ein Kapitel für sich“, die zudem publikumswirksam für das ZDF verfilmt worden waren. Vielleicht noch überzeugender gelang die Beschreibung dieser Erfahrung aber in Kempowskis Debüt „Im Block“, das über eine Reihe von Jahren aus einem surrealen, an Franz Kafkas Texte erinnernden Manuskript schließlich zu der kargen, manchmal ironisch gefärbten Fassung mutierte, die 1969 erschien – und im Schatten von 1968 wie im Kontext der neuen Ostpolitik der Regierung Brandt sang- und klanglos unterging.
Insofern Kempowski noch einmal zu jenem Komplex zurückkehrt, bedeuten die 76 kurzen Gedichte in „Langmut“ nicht nur einen Schritt auf ein neues Gebiet. Sie bilden mit „Im Block“ auch eine Klammer um das vielbändige Werk des Autors. Die einzelnen Verse bestehen aus wenigen Worten, kaum einer der Texte ist länger als sieben, acht Zeilen. Das lyrische Ich befindet sich offenbar allein in einer Zelle, in der die Zeit still gestellt ist und die immergleichen Motive wiederkehren: Stäbe, Gitter, Brot, Fenster, Stille, Isolation. Die Flucht aus der begrenzten Welt ist nur in der Vorstellung möglich, oder in der ebenso trostlosen Metapher: „Sie sinkt hinab, die eiserne Kugel, / Schwarz ist die See, grün“. Der Ton bleibt zumeist betont lakonisch, was die Nüchternheit des lyrischen Ichs betont und ihren Anspruch auf Authentizität untermauert. Und tatsächlich überzeugen die Verse als Zyklus immer dann, wenn sie bei diesem Ton bleiben. Fragwürdig werden sie, wenn sich Anklänge von Benn („Blumen – gab es denn Anemonen?“) und Rilke einmischen: „Die Stalaktiten deiner Tage, / in deine Stille sind sie eingestimmt: / Ihr Glockenton ist dir verschwiegen / bis er in Tropfen ungehört verrinnt“. Gehört das zu den Versen im „Rilke-Ton“, die der Autor nach eigenem Bekunden bereits in Bautzen konzipierte? Kempowski gehört auch posthum nicht zu den großen Lyrikern seiner Generation, aber in „Langmut“ wird eine Dringlichkeit spürbar, die von solchem Kunsthandwerk empfindlich gestört wird. Das sind zwar keine „Sonette an Orpheus“, kommt ihnen aber bisweilen seltsam nahe, selbst wenn hier niemand die Orange tanzt. Dient die Ästhetisierung als Mittel, dem eintönigen Häftlingsalltag zu entkommen? Oder war eine solche Brechung vielleicht gar die Absicht eines Autors, der unser allzu billiges Mitleiden beim Lesen torpedieren wollte?
Bei Enzensberger müsste man von vornherein auf solche Volten gefasst sein. Schließlich gilt er als einer der verspieltesten und erfindungsreichsten Dichter des letzten Halbjahrhunderts. Seine Lyrik zeichnete sich schon immer durch kleine Boshaftigkeiten, Doppeldeutigkeiten und Falltüren aus. Da macht auch der neue Band „Rebus“ keine Ausnahme und erklärt seine Mehrdeutigkeit gleich im Klappentext: „‚De rebus quae geruntur’ umschrieben es die alten Lateiner in ihrer präzisen Sprache […]: ‚Es handelt von dem, was eben geschieht‘. Aber ein solches Rebus wäre nicht es selbst, wäre es eindeutig. ‚Dire en rébus‘ definiert ein französisches Wörterbuch des 19. Jahrhunderts die Anwendung von Wortspiel und Wortwitz.“
Wieder einmal gibt Enzensberger den poeta doctus, der sowohl auf das Aktuelle wie das Spielerische seiner Gedichte hinweist. Viele der Gedichte sind aber weder sonderlich doppeldeutig noch so offenkundig gegenwartsbezogen, wie der Vorspann erwarten lässt. Um als einfacher Soundtrack gegen „die Politiker“ und „die Ackermänner“ unserer Zeit herhalten zu können, sind Enzensbergers Verse dann doch zu ironisch und zu gebrochen.
Im Ganzen ist „Rebus“ eine Wundertüte mit vielen Höhepunkten: da ist „Der Maler der Jahreszeiten“ mit seinen sinnlichen Detailbetrachtungen, da sind „Probleme“, die Wittgensteins „Tractatus“ auf den Arm nehmen, da ist das wunderbare Toilettengedicht „Wo sich Pilatus die Hände wusch“. Diesem Einfallsreichtum steht ein Grundton von Alter, Melancholie und Verfall entgegen. Es geht nicht zuletzt um die Erinnerungen eines lyrischen Ich, und nicht umsonst sind es die Archäologen, „Eifernde […] gegen die Entropie“, denen Enzensberger in „Fodi Veni Vidi“ ein Denkmal setzt. Nur manchmal wirken einzelne Texte etwas schal, wenn die sprichwörtliche „alte Dame mit dem Krückstock“ mit ihren „kornblumenblauen Augen“ und dem „entzückende[n] Lächeln“ auftaucht, als wäre sie einem Konstantin Wecker-Lied entsprungen; oder wenn die Pointe eines Gedichtes sich gelegentlich mit allzu viel Getöse nähert.
Aber auch solche kleinen Enttäuschungen gehören bei einer Wundertüte dazu. Und mit der abschließenden „Coda“ formuliert Enzensberger nicht nur ein trotziges Bekenntnis, sondern lässt auch noch einmal die zentralen Themen und Motive des Bandes anklingen: „Du mit deiner Rhetorik, sagt ihr, / na gut, wie ihr wollt. Haha, / vielleicht habt ihr Recht. Bißchen mehr Melos, / fließende Übergänge, wie wär’s damit? […] Meine Brüche, / mein Stottern, das sind Gaben des Himmels! […] Eiserne Gutmütigkeit! Aber trotzdem, / ich bleibe dabei, vorläufig wenigstens, / mache weiter, sogar wider Willen, / obwohl Alles Mögliche unmöglich ist, / und ich lache sogar noch, über euch / und über mich, denn wer sich beklagt, / wehe ihm, der ist schon verloren.“
Ein besonders gelungenes Rebus ist übrigens das Titelbild mit seinen schaumigen Schlieren in Blau, Rosa und Violett. Es sieht aus wie aus einer psychedelischen Lightshow der späten 60er, stammt aber aus einem völlig anderen, zu den Gedichten passenden Kontext. Welcher es ist, wird hier natürlich nicht verraten.
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