Aus erster Hand
Die Zeitschrift "neue deutsche literatur"
Von Frank Müller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Zeitschrift "neue deutsche literatur" (ndl) ist die einzige überregionale Literaturzeitschrift, die ausschließlich Beiträge deutscher, respektive deutschsprachiger Autoren veröffentlicht. Im Unterschied zu ausgewiesenen Kulturzeitschriften, die sich auf die kritische Reflexion gesellschaftlich-kultureller Prozesse konzentrieren, widmet sie sich fast ausschließlich der Belletristik. Die ndl erscheint in handlichem DIN A 5-Format. Sie präsentiert Beiträge renommierter, weithin bekannter Autoren (im aktuellen Heft ein Gespräch mit Günter Grass über Wolfgang Koeppen und ein Artikel Franzobels), bietet aber auch jüngeren und weniger gelesenen Autoren eine Plattform. Autoren, die inzwischen mit Romanen debütierten, waren zuvor mit kürzeren Texten in der ndl vertreten, z. B. Ralf Bönt, Georg Klein, Marcus Braun, Katrin Dorn, Christian Duda, Martin Jankowski, Marcus Jensen, Norbert Niemann, David Wagner oder Ulrike Draesner. Insbesondere denjenigen, die sich professionell mit Literatur befassen, dürfte sich die ndl als verlässlicher Seismograph der literarischen Großwetterlage erweisen.
In der Rubrik "ndl-extra" versammelt die Zeitschrift Abdrucke der (Jahr für Jahr anlässlich der Leipziger Messe abgehaltenen) Kolloquiums-Beiträge der Deutschen Literaturkonferenz, ergänzt durch Artikel wie "Unvereint - vereint. Literarisches Leben in Deutschland" oder einen Abriß der Geschichte des DDR-PEN. Dabei verschließt sich die ndl keineswegs der kulturellen Veränderung hergebrachter Textformen. Im vorliegenden Heft untersucht Roberto Simanowski die Möglichkeiten der Internet-Literatur ("Chaos und Vergnügen"), wobei er darunter nicht einfach Texte versteht, die ihren Existenzort aus Gründen der besonderen Distributionsform vom Buch in den Computer verlagert haben ('falsche' digitale Literatur), sondern solche, die entweder kollaborativ verfasst sind (Schreibprojekte), interaktiv entstehen und rezipiert werden (Rollenspiele, MUDs und MOODs), sich als Hyperfiction die Wahlmöglichkeiten multilinear strukturierter Texte erschließen oder sich mit Bild-, Ton- und Videoelementen verbinden (multimediale Texte). Damit für den vernetzten Leser nachvollziehbar wird, wovon der Autor spricht, bestehen die Anmerkungen fast ausnahmslos aus Web-Adressen.
So viel Modernität ist um so erstaunlicher, wenn man auf die wechselvolle Geschichte der Zeitschrift zurück blickt. Im Jahre 1953 begründet, war die ndl bis 1990 die Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der DDR. Unter den ersten Chefredakteuren waren die Erzähler und Romanciers Willi Bredel und F. C. Weiskopf. Das Hauptaugenmerk der ndl galt der DDR-Literatur, ohne dass jedoch die im Westen entstandene Literatur ausgeschlossen wurde, insofern sie mit der marxistischen Lehre vereinbar war. Während der Deutsche Schriftstellerverband mit der Fixierung der deutschen Zweistaatlichkeit 1973 in "Schriftstellerverband der DDR" umbenannt wurde, blieb die Zeitschrift (nicht zuletzt dank der Hilfe Anna Seghers') vor einem Namenswechsel verschont. In der DDR bewegte sich die Auflage der ndl zwischen 8.000 und 10.000 Exemplaren, Ende 1989 erreichte sie gar 11.500 Exemplare. Aufgrund der Papierkontingentierung unterlag die Zeitschrift einer Abonnentensperre und konnte trotz nachweisbaren Bedarfs die Auflage nicht weiter erhöhen. Mit der Selbstauflösung des Schriftstellerverbandes der DDR Ende 1990 ging die ndl (ab Januar 1991) in die Trägerschaft des Aufbau-Verlages über, von dem sie bereits seit 1956 technisch betreut wurde.
Gleichwohl darf es nicht verwundern, dass ein Stück dieser Tradition bis in den heutigen Leserkreis hineinwirkt. So war das erfolgreichste Heft der letzten Jahre das Heft 2/98, das in Zusammenarbeit mit den Berliner Festspielen unter dem Titel "Die Einen über die Anderen" jene Reden veröffentlichte, die deutsche Schriftsteller Ost über deutsche Schriftsteller West (und umgekehrt) an der Berliner Schaubühne gehalten hatten. Diese Reibungskonflikte sind spannungsvoller und spannender nachzulesen als ein berührungsloses Nebeneinander, wobei der Ost-West-Konflikt nur als eine Facette der prinzipiellen ästhetischen und geistigen Differenzen begriffen wird. "Was die enormen, nach wie vor spürbaren Spannungen zwischen östlichem Selbstbewußtsein und westlichem Imperialismus betrifft", lobte Joachim Kaiser im Bayrischen Rundfunk, "so gibt es keine deutsche Zeitschrift, welche diese Spannungen so fesselnd, offen, originell und überraschend zu reflektieren vermag".
Positiv zu vermerken ist auch die mittlerweile im Programm der ndl verankerte, über die verlegerische Abschöpfung des Vorhandenen hinausgehende Förderungsabsicht. Der von Verlag und Redaktion 1998 erstmalig ausgeschriebene und mit 20.000 DM dotierte "neue deutsche Literaturpreis" verfolgt das Ansinnen, gezielt eine Erzählliteratur zu kultivieren, und zwar nicht im Sinne einer publikumswirksamen Beschränkung auf das 'Durchgeschriebene', sondern im Sinne einer auf Mehrfachkodierung, Herstellung von Komplexität, stilistischer Notwendigkeit und Genauigkeit in der Sprache beruhenden Lesbarkeit.