Hässlich sind immer die Anderen

Zu Margrit Schribers Roman „Die hässlichste Frau der Welt“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die beiden Hauptfiguren in dem Roman von Margit Schriber könnten gegensätzlicher kaum sein. Der Roman spielt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Unterhaltungsindustrie steckt in den Anfängen und eine der Attraktionen, die die Jahrmärkte und die Unterhaltungsetablissements Europas, sind so genannte „Freakshows“. Eine der Attraktionen ist die von ihrem Impresario Lent zur Schau gestellte „Affenfrau“, mit richtigem Namen Julia Pastrana. Sie leidet an körperlicher Überbehaarung (Hypertrichose). Um die Inszenierung der „Show“ für das Publikum attraktiver zu gestalten, ganz im Sinne eines modernen Medienbewusstseins, das die wachsenden Bedürfnisse des Publikums antizipiert, engagiert der Impresario eine junge und schöne Tänzerin. Sie wird später in der Show als Burlesque-Tänzerin auftreten und erhöht den Reiz des „Hässlichen“ durch die Zurschaustellung der makellosen Schönheit.

Schriber greift auf einen authentischen „Fall“ zurück und abstrahiert die historischen Fakten zu einem allgemeinen Model für das „Fremde“ in der westeuropäischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Dabei verliert sie nicht die Figuren aus dem Auge. Schriber lässt den Leser die gemeinsamen intimen Momente der „Affenfrau“ und ihrer „Tänzerin“ Rosie la Belle miterleben, die sich in der Isolation ihrer „Kunst“ zusammenfinden. Beide stehen in dem Spannungsfeld zwischen dem Interesse der Medien – dem Impresario Lent –, der Gier des Publikums nach Attraktionen und der Selbstbehauptung des Fremden in einer ihm feindlichen Welt. Dass diese „Welt“ im 19. Jahrhundert zwischen Rassismus, Aufklärung, Mythos und Sensationsgier zerrissen wird, macht Schriber sehr deutlich: „Zeitungen schreiben über Julias spanischen Tanz: ‚Die Pastrana tanzt Flamenco mit einem gewissen Talent.‘ Ein Redaktor vergleicht die Darbietung mit derjenigen der berühmten Lola Montez. Leider habe der Impressario seinem Monster keine englische Folklore beigebracht. Zufall oder Absicht?“

Das „Fremde“, ob es nun die „Affenfrau“ oder der „schwarze Mann“ ist, steht außerhalb der Gesellschaft, wird wie in einem Reagenzglas betrachtet und untersucht. „Es gibt Lehrmeinungen, Auslegungen, Streitgespräche. Das eherne Gefüge der Welt ist aus dem Gleichgewicht. Das Herumzeigen einer Kreatur wie Julia legt diese Risse frei. Der Fall spaltet Freundschaften, Fachgremien, Eheleute, Kirchgemeinden. Er wird für religiöse und rassistische Propaganda genutzt.“ Und auch dieses wissenschaftliche Interesse wird von dem Impresario kommerziell ausgebeutet. Das Interesse der „Medien“ geht bis an die Grenze der Geschmacklosigkeit: „Hat die Lents Brandzeichen im Fell? Bringt er Julia zum Weinen? Richtige Tränen? Kriecht die Affenfrau nachts unter die Decke ihres Impresarios? Treiben sie es miteinander? Kettet er sie im Bett an? Lutscht sie an seiner Banane? Sind die zwei etwa gar verheiratet?“ Auch dies scheint keine Erfindung des 21. Jahrhunderts zu sein. In diesem Sinne ist Schriber ein Paradigma für das 21. Jahrhunderts gelungen: „Lents Affenfrau ist die Verkörperung der Rätsel der Zeit.“

Die Rahmenhandlung spielt in einem kleinen Bergdorf in den Alpen, der Heimat von Rosie la Belle, die sie mit einer Gruppe von Auswanderern verlassen hatte. Zu Beginn des Romans kehrt sie, mittlerweile in fortgeschrittenem Alter, in ihr Dorf zurück und wird im Armenhaus untergebracht. Dort, vom Armenvogt motiviert, verfasst sie ihre Erinnerungen. Letztendlich ist es denn auch der Armenvogt, der auf der Metaebene die Ereignisse kommentiert: „Ich, der Armenvogt dieses Orts, weiß nicht, was Rosie war. Ich weiß aus Erfahrung mit meinen Schützlingen, dass schwierige Zeiten zur Vernunft zwingen.“ Ebendiese Vernunft scheint allerdings nur abstrakt zu existieren, ist ein Destillat des Erzählers. Dessen intime Nähe und gleichzeitige erzählerische Distanz ermöglichen den Blick auf das Paradigma, in dem die Kreaturen zwar leiden, aber anschaulich für alle als Lehrbeispiel dienen. Dabei sind es die sprachlich präzisen Formulierungen, die die Handlung vorantreiben und gleichzeitig die Analyse des Geschehens begünstigen. Letztendlich wird der Leser in eine Situation gebracht, wo er, wie die Besucher der „Freakshows“ des 19. Jahrhunderts, auf das ihm präsentierte Objekt herabsieht. Diese beschämende Erfahrung macht zuerst der Erzähler, der Armenvogt, den die Erinnerungen von Rosie aus seiner Lethargie erlösen: „Mein Leben ist eine Kette aus Belanglosigkeiten. Ich habe das bisher hingenommen. Ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht, sondern bin durch die Zeit getrabt, ohne nach Perlen zu suchen, die am Weg eines jeden Menschen liegen. Nun, da ich Rosies Memoiren kenne, bedaure ich jeden sinnlos verschwendeten Tag.“ Ebendieses sei dem heutigen Leser gewünscht – das Buch kann es leisten.

Titelbild

Margrit Schriber: Die hässlichste Frau der Welt. Roman.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2009.
190 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004461

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