Die furchtbare Stille des Boléro

Der neue Roman des Nobelpreisträgers JMG Le Clézio

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Boléro ist eine Prophezeiung. Er erzählt eine Geschichte von Zorn und Hunger. Und wenn er in einem Auflodern von Gewalt endet, ist die darauf folgende Stille für die betäubten Überlebenden furchtbar“, schreibt Jean Marie Gustave Le Clézio, Nobelpreisträger des Jahres 2008, im Epilog seines neuen Romans „Lied vom Hunger“. Hier ist nicht nur das existenzielle Hungergefühl gemeint, das der Autor als Kind selbst erlebt und das er im Vorwort beschrieben hat, sondern auch der Hunger im Sinne einer Sehnsucht – nämlich nach einem Neuanfang in einer friedlichen Welt.

Nach den erzählerischen Porträts seines Großvaters in „Der Goldsucher“ und seines Vaters in „Der Afrikaner“ widmet sich Le Clézio nun dem Lebensweg seiner Mutter, die zweifelsfrei für die Figur des Einzelkindes Ethel Brun Pate stand. Die semi-fiktive Protagonistin wächst im Paris der 1930er-Jahre in einer aus Mauritius stammenden Familie auf. Ethels Vater Alexandre, ein gutgläubiger Aufschneider, der nach außen vorgibt, große Geschäfte abzuwickeln, hat seine Familie in den finanziellen Ruin getrieben und sogar Ethels Erbe in den Sand gesetzt. Ihr Großonkel Samuel Suliman, der einst als Mediziner im Kongo tätig war, hatte ihr ein kleines Vermögen zukommen lassen.

Le Clézio zeichnet Ethels Familie und deren großen Freundeskreis in nüchterner Sprache als einen bunten Haufen opportunistischer, kleinbürgerlicher Spießer mit ausgeprägter Affinität zur Hochstapelei. In der Pariser Rue du Contentin kommen sie an jedem ersten Sonntag im Monat zusammen und schwadronieren über Gott und die Welt. Antisemitismus und Antikommunismus sind in diesem Kreis im wahrsten Sinne des Wortes salonfähig. Es werden Klagen darüber angestimmt, dass „Neger und Ausländer Frankreich überschwemmen und Notre-Dame bald in eine Synagoge oder Moschee verwandeln“. Fanatismus und Dummheit vermengen sich hier zu einem gefährlichen geistigen Gemisch: „Zum Glück ist Hitler dabei, Deutschland von den Bolschewiken zu säubern“.

Die heranwachsende Ethel, das oft einsame Einzelkind, sucht bei zwei Personen eine vertrauensvolle Nähe und eine Art geistigen Unterschlupf – bei seiner Freundin Xenia, einer raffinierten russischen Fürstentochter, und beim Engländer Laurent Feld. Sie sind Verbündete und Geschwisterersatz in Personalunion. Doch auch bei der Beschreibung dieser Beziehungen belässt es Le Clézio bei der Außenansicht und dringt nicht ins Seelenleben seiner Figuren ein.

Ethel Brun flüchtet als Zwanzigjährige vor den Nazis und landet in Nizza (dort wurde Nobelpreisträger Le Clézio im April 1940 geboren). Die herrliche Landschaft an der französischen Riviera setzt Le Clézio als Kontrast zum barbarischen Alltag ein: „Ab und zu drang das Echo von Festnahmen zu ihnen. Aus dem Hôtel Excelsior in der Nähe des Bahnhofs, wo die Gefangenen der Deutschen verhört, geschlagen und halb ertränkt wurden.“ Ethel überlebt all das Elend und die Schikanen, hat sich zwischen Résistance und Kollaboration einen eigenen Weg gebahnt, heiratet nach Kriegsende und übersiedelt nach Kanada.

Der erzählerische Kreis dieses Romans, der im letzten Jahr in Frankreich über 350.000 mal verkauft wurde und monatelang die Bestsellerlisten anführte, schließt sich keineswegs zufällig mit Ravels „Boléro“, denn Le Clézios Mutter wohnte als junges Mädchen im Jahr 1928 in Paris der Uraufführung bei. „Lied vom Hunger“ ist eine große, bewegende Familiengeschichte, die vor einem authentischen Hintergrund in Szene gesetzt wurde, aber auch ein ganz persönliches Buch, wie der letzte Satz vermuten lässt: „Ich habe diese Geschichte im Gedenken an eine junge Frau geschrieben, die ungewollt mit zwanzig Jahren eine Heldin war.“

Titelbild

Jean-Marie Gustave Le Clézio: Lied vom Hunger. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Uli Wittmann.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009.
240 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783462041361

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