Sintflut

Margaret Atwood, die Autorin von „Oryx und Crake“, legt in „Das Jahr der Flut“ nach

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Science Fiction handelt spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs öfter mal vom day after. Siedelte sie ihre Geschichten in den 1960er- und 1970er-Jahren gerne nach dem Atomkrieg an, so vollzog sich in den folgenden Jahrzehnten langsam eine Wandlung hin zu Umwelt- und in jüngster Zeit Klimakatastrophen. Doch gab es auch immer wieder Ausnahmen. So etwa „The Handmaid’s Tale“ (1985) von Margarete Atwood; eine Dystopie, die in einer theokratischen Männertyrannei auf einem Teilgebiet der heutigen USA spielt.

Knapp zwanzig Jahre später legte die kanadische Autorin mit „Oryx and Crake“ (2003) dann aber doch eine post doomsday novel vor, die zugleich eine pre doomsday story war. Ihr jüngstes Werk „The Year of the Flood“ (2009), dessen deutsche Übersetzung unter dem Titel „Das Jahr der Flut“ fast gleichzeitig mit dem Original erschien, ist nicht nur ebenfalls eine post beziehungsweise pre doomsday story, sondern handelt zudem wiederum in der Welt von „Oryx und Crake“. Den beiden männlichen Protagonisten des ersten Romans Crake und vor allem Jimmy gönnt die Autorin sogar einige längere Auftritte. Im Zentrum stehen diesmal jedoch nicht der Zahlen- und der Wortmensch und mit ihnen die von beiden geliebte Männerfantasie Oryx, sondern die „Gottesgärtner“, eine von zahlreichen oft religiös inspirierten Öko-Gruppen, die alle, wenn auch auf je verschiedene Weise, so doch gleichermaßen engstirnig und verbohrt wirken – ungefähr so wie die marxistischen K-Gruppen während der 1970er-Jahre.

Erzählt wird die Geschichte im Wesentlichen aus der Sicht zweier dieser „Gottesgärtner“, von denen eine sogar als Ich-Erzählerin auftritt. Genauer gesagt sind es zwei Gottesgärtnerinnen: Toby und Ren, zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Hinzu treten Predigten von Adam 1, dem ersten unter den Gleichen der vom Fußvolk der GottesgärtnerInnen hochangesehen Adams und Evas.

Wie bereits in „Oryx und Crake“ wechseln sich Kapitel, die im Jahr der Menschheitsvernichtung spielen, mit Rückblenden in die vorangegangenen Jahrzehnte ab. Die letzten Abschnitte sind jedoch ganz den Tagen und Wochen nach der Katastrophe gewidmet.

So wie Crake den Untergang der Menschheit ins Werk setzte, um Platz für eine perfekte, von ihm gentechnisch geschaffene humanoide Spezies zu schaffen, sehnen die GottesgärtnerInnen die „Flut“ herbei. Eine zweite, diesmal allerdings „wasserlose“ Sintflut, die sie als einzige überleben werden, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen, die im Einklang mit der Natur lebt. Die Welt, die Crake und die GottesgärtnerInnen auf je ihre Weise überwinden wollen, steht unter dem Diktat von in Nobelvierteln abgeschotteten Konzernen wie HelthWyzer und der ehemaligen bewaffneten Sicherheitsorganisation CorpSeCorps. Die Masse der Menschheit lebt hingegen in Slums, dem sogenannten Plebsland. Hier fristen auch die GottesgärtnerInnen ihr Dasein. Auf den Dächern einiger Hochhäuser haben sie ihren „Felsen Eden“ eingerichtet. Dort pflanzen die (fast) strikten VegetarierInnen Obst und Gemüse an. Aber auch den Verzehr von Fleisch schließt die Sekte in Zeiten der Not nicht aus. Nur habe man sich bei den geschätzten Mitgeschöpfen zu entschuldigen, weil sie ja schließlich auch eine Seele besitzen. Außerdem müsse man bereit sein, selbst in den Kreislauf des Fressens und Gefressenwerdens einzutreten. Vergewaltigungen finden hingegen selbst die GottesgärtnerInnen nicht weiter schlimm. Denn schließlich sei es ja „eigentlich nicht böse“ gemeint, wenn bei einem Mann mal „der alte Australopithecus durchbricht“. Verpönt ist den Gläubigen allerdings die Schrift, weil man auf alles, was man irgendwann einmal schriftlich festgehalten hat, festgenagelt und noch Jahre später dafür zur Rechenschaft gezogen werden kann. Zudem gilt Papier überhaupt als „sündig“, da es aus „dem Fleisch der Bäume gemacht wurde“. Dafür aber steht das Auswendiglernen gereimter ‚Weisheiten‘ umso höher im Kurs.

Ob wirklich jemand aus der Gemeinde an den ganzen Unsinn glaubt, ist zweifelhaft. Die Figuren, in deren Innenleben die Autorin blicken lässt, haben jedenfalls alle ihre handfesten Zweifel oder sind überhaupt nur aus rein pragmatischen Gründen bei der Sekte. Und später zeigt sich, dass Adam 1 seiner Gemeinde in den Predigten auch schon mal ganz bewusst Lügen auftischt. So wundert es nicht, dass die Redewendung „als wenn“ bei den GottesgärtnerInnen besonders beliebt ist. Denn es geht nicht einfach nur darum, so zu leben, als wenn man glaube, sondern so zu tun, als wenn man dem Glauben gemäß lebe.

Zwar scheint es sich bei den GottesgärtnerInnen um einen eigentlich recht harmlosen „Haufen herziger, aber wahnhafter Exzentriker“ zu handeln, wie Toby lange Zeit meint, doch pflegen sie bei allem religiösen Getue durchaus ihre Beziehungen zu dem mächtigsten aller Konzerne und zu der Sicherheitsorganisation, die zur größten Verbrecherbande mutiert ist.

Toby ist eine insgesamt recht integere, vor allem aber robuste Person und darf als die eigentliche Identifikationsfigur des Buches gelten. Eine abgebrochene Studentin, die sich, so gut es eben geht, durch das miese Leben vor und nach der Katastrophe schlägt. Sie versucht sich mit verschiedenen Jobs über Wasser zu halten, etwa bei ,GeheimBurger‘, dessen beliebte Produkte mutmaßlich aus streunenden Katzen, Mäusen und im täglichen Straßenkrieg ermordeten Menschen bestehen. Später gewähren ihr die GottesgärtnerInnen Schutz vor Blanco, ihrem jahrelangen Vergewaltiger und Peiniger.

Nun steht Toby zwar in gewisser Weise im Mittelpunkt des Interesses und des Romans, lebendiger aber wird den Lesenden Ren vor Augen gestellt. Als sie noch ein kleines Kind war, flüchtete ihre privilegierte, mit einem gleichgültigen Forscher verheiratete Mutter aus dem HelthWyzer-Komplex und brannte mit einem Arbeiter, dem etwas undurchsichtigen Zeb, durch. Gemeinsam landen die drei vorübergehend bei der Sekte. Ren sind die immer lächelnden GottesgärtnerInnen mit ihrem „wahnsinnige Interesse am Weltuntergang, an ihren Feinden und an Gott“ nie ganz geheuer. Später kehrt sie mit ihrer Mutter in den Konzernkomplex zurück und noch später bestreitet sie ihren Lebensunterhalt als Prostituierte. Anders als bei der Öko-Sekte fühlt sie sich bei Mordis, ihrem Zuhälter, „wahnsinnig geborgen“, denn er „hat Anstand“ und gibt ihr allenfalls mal einen „freundlichen Klaps auf den Po“. „‚Meine Mädchen rührt keiner an‘, sagte er immer. Das war für ihn Ehrensache. Außerdem war er gegen Verschwendung: Wir seien doch sein Kapital, sagte er immer.“ Man kann diese Ren leicht für nicht sonderlich sympathisch halten, bis Toby gegen Ende des Buches bemerkt, sie sei einfach zu „unschuldig“ für diese Welt. Erst da erkennt man, dass es wohl genau dies ist, was diese Figur auszeichnet, und man möchte Abbitte bei ihr leisten.

Während ihrer Zeit bei den GottesgärtnerInnen gabelt Ren auf einem ihrer Abstecher vom „Felsen Eden“ in das unsichere Plebsland Amanda auf, eine toughe, desillusionierte Straßengöre. Wie kämpferisch die „Plebsratte“, deren Name wohl nicht zufällig der martialischen Armada ähnelt, denkt, zeigt ihr Credo, dass Kapitulieren „Zeitverschwendung“ sei. Und wie nahe sie damit dem Gedankengut der „Gottesgärtner“ steht, macht auf den unmittelbar anschließenden Seiten eine von Adams Predigten deutlich, in denen er seinen Schäfchen den natürlich gereimten Sinnspruch „Hoffen und wagen ist besser als verzagen!“ nahe bringt.

All das ist nicht selten bitterböse, abgrundtief schwarz und mit grimmigem Humor erzählt. Etwa, wenn der von Zeb bei den GottesgärtnerInnen durchgeführte „Gewaltminimierungs-Unterricht“ darüber belehrt, „dass Gewalt vor allem der eigenen Person gegenüber minimiert werden müsse.“

Toby, Ren und Amanda überleben Crakes Menschheitsvernichtungsprogramm. Und wie sich herausstellen wird, eine ganze Menge anderer Leute ebenfalls. „Warum sind so viele von ihnen noch am Leben?“, wundert sich eine der Figuren – und denjenigen unter den Lesenden, die „Oryx und Crake“ kennen, geht es nicht anders. Doch vielleicht braucht die Autorin ihr Personal einfach auch noch nach der ‚Auslöschung der Menschheit‘. Und zu guter Letzt „geht alles wieder von vorne los“. Das vermutet zumindest einer der Überlebenden. Doch wer weiß.

Jedenfalls ist der vorliegende Roman ebenso wie bereits „Oryx und Crake“ eine Absage an Utopien. Ist es dort die Hoffnung darauf, mittels Gentechnik den perfekten Menschen zu schaffen, so ist es hier die auf religiöse und grüne Heilslehren. Dies bestätigt den bereits durch die Lektüre von „Oryx und Crake“ gewonnen Eindruck, dass es der Autorin um Utopiekritik schlechthin geht. Ohne dass allerdings hier wie dort die bestehenden (fiktiven und zukünftigen) gesellschaftlichen Realitäten beschönigt oder auch nur gerechtfertigt würden.

Angemerkt sei noch, dass der vorliegende Roman nicht wie „Oryx und Crake“ von Barbara Lüdemann, sondern von Monika Schmalz übersetzt wurde, was zu einigen sprachlichen Abweichungen führt.

Titelbild

Margaret Atwood: Das Jahr der Flut. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Monika Schmalz.
Berlin Verlag, Berlin 2009.
480 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827008848

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