Von der Bibelepik zum Briefsteller

Volker Meid gibt in „Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock“ einen kulturgeschichtlich abgerundeten Überblick über das Gattungsspektrum zwischen 1570 und 1740

Von Misia Sophia DomsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Misia Sophia Doms

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich als Studierender oder Lehrender mit dem 17. Jahrhundert befasst, dem sind die fundierten, verständlichen und umfassenden Arbeiten Volker Meids schon lange ein Begriff. Neben seiner einschlägigen Einführung in die Barocklyrik in der Reihe „Sammlung Metzler“ wäre hier beispielsweise das Barockkapitel aus der ebenfalls bei Metzler erschienenen „Deutschen Literaturgeschichte“ zu nennen, das aus der Feder dieses Autors stammt. Aber auch unter jenen angehenden und arrivierten Literaturwissenschaftlern, die sich bisher (noch) nicht mit dem Barock befasst haben, hat sich Meid als Autor etwa des „Sachwörterbuchs zur deutschen Literatur“ oder der „Metzler Literatur Chronik“ einen Namen gemacht. Mit seinem jüngsten literarhistorischen Band „Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock“ liefert der als freier Autor tätige Wissenschaftler nun den wohl umfassendsten Überblick über die deutschsprachige Literatur des langen 17. Jahrhunderts, übertrifft doch seine über 900 Seiten umfassende Literaturgeschichte des Barock selbst den entsprechenden Band aus der Reihe „Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur“ noch um rund 200 Seiten. In einer Zeit, in der die neueren literarhistorischen Überblicksdarstellungen das 17. Jahrhundert nur noch in äußerster Komprimierung darstellen und in der viele germanistische Curricula und Lektürelisten den Abschnitt „Barock“ immer weiter zusammenschmelzen, erscheint eine solche Publikation als ein überraschender, weil gewissermaßen antizyklischer Schritt, den es als ebenso mutig wie richtig zu würdigen gilt. Nur wer um die Vielseitigkeit der barocken Literatur weiß, nur wer von den unzähligen Gesichtern der barocken Kultur und Dichtung mehr kennt, als sich mit den Schlagwörtern „vanitas mundi“ und „carpe diem“ zusammenfassen lässt, ist gewappnet gegen allzu schnelle Vorurteile und gegen das aus ihnen folgende Desinteresse für barocke Literatur: Zu Georg Philipp Harsdörffers Exempelsammlung „Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mordgeschichte“, einer Fundgrube tragischer und bisweilen äußerst grausam-grausiger Erzählungen, zu Adam Olearius’ Beschreibungen seiner Reise von Lübeck über Russland nach Persien oder zu Christian Friedrich Hunolds „galant-frivolen“ spätbarocken Romanen kann nur greifen, wer sie zuvor kennen und sich für sie interessieren gelernt hat.

Wenn der Leser in Meids Literaturgeschichte mit all diesen Texten vertraut gemacht wird, so hängt dies vor allem damit zusammen, dass darin weit mehr als nur die bis heute kanonisierten Gedichte, Dramen und Romane des 17. Jahrhunderts vorgestellt werden. Zwar sind drei der insgesamt acht Großkapitel diesen drei Textgattungen gewidmet, doch behandeln schon sie nicht nur den engeren Kanon, sondern auch viele literarhistorisch marginalisierte Textsorten und Einzeltexte. Im Großkapitel zur Lyrik findet beispielsweise auch die von der Forschung noch immer vernachlässigte „Katholische Lieddichtung“ ihren Raum, im Abschnitt zum Drama sind die Untergattungen „Festspiel“ und „Oratorium“ vertreten und das Kapitel „Roman“ behandelt keineswegs nur den „Pikaroroman“ ausführlich, für den die Kenner der deutschen Literatur mit Grimmelshausens „Simplicissimus Teutsch“ ein bis heute viel gelesenes Beispiel anzugeben wissen, sondern widmet beispielsweise auch mehr als 30 Seiten den weit weniger bekannten Schäferromanen und -erzählungen. Außerdem werden die jeweils mehr als 150 Seiten langen Abschnitte zu Drama, Lyrik und Roman flankiert von zwei Kapiteln zu weniger bekannten, für die Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts aber nicht minder relevanten Textgattungen. So widmet sich der (kürzere) fünfte Abschnitt der „Epischen Versdichtung“, das heißt dem „Epos, Lehr- und Zeitgedicht“, und der Großabschnitt „Fiktionale und nichtfiktionale Prosa“ umfasst die Unterkapitel „Satire“, „Kleinere Erzählformen, Kompilationen“, „Dialogliteratur“, „Geistliche Prosa“, „Pansophische und mystische Strömungen“, „Hexenliteratur“, „Autobiographische Literaturformen“, „Reisebericht“ und „Anleitungsliteratur“.

Zu den fünf Gattungskapiteln, die neben allgemein-kulturhistorischen auch poetologische Aspekte nicht vernachlässigen und in sich jeweils thematisch-chronologisch strukturiert sind, treten zwei Kapitel, die sich mit der Genese der barocken Literatur beziehungsweise mit ihrem allmählichen Übergang in die Literatur der Aufklärung befassen und damit die Zeiträume von 1570 bis etwa 1624 und von etwa 1680 bis 1740 ausleuchten. Eröffnet aber wird das Werk von einem Abschnitt, der unter dem Titel „Epoche“ zunächst Ähnliches leistet wie Michael Maurers exzellentes Einführungskapitel im Band „Die Literatur des 17. Jahrhunderts“ in „Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur“: Hier werden die politische und konfessionelle Situation sowie die militärischen Ereignisse des 17. Jahrhunderts skizziert. Zudem wird in diesem Abschnitt dem Überblick über die literarischen Werke ein Abriss des Sozialsystems „Literatur“ vorangestellt, der sich mit „Literaturlandschaften und städtischen Zentren“, mit den Sprachgesellschaften, dem Buchmarkt und dem Lesepublikum sowie der Zensur befasst und neben der schulisch-akademischen Vorbildung auch das Dichtungs- und Weltverständnis des barocken poeta doctus beleuchtet.

Abgerundet wird das geradezu enzyklopädische Werk von einem Register und einer Teilbibliografie, die „überwiegend selbständige Veröffentlichungen allgemeiner Sekundärliteratur aus den letzten Jahrzehnten“ umfasst. Wer nach „Werkausgaben und Literatur zu einzelnen Autoren“ sucht, wird auf den nur im Internet publizierten zweiten Teil des Literaturverzeichnisses verwiesen. Die getrennte Publikation beider Bibliografieteile ist zwar bedauerlich – ist es doch für den Leser etwas umständlich, seine bibliografischen Recherchen im Printmedium zu beginnen und dann online fortzusetzen, statt an einem Ort auf das vollständige Verzeichnis Zugriff zu haben –, doch kann man die Entscheidung, dem ohnehin schon voluminösen Band nicht noch einmal circa 100 Seiten hinzuzufügen, trotz allem verstehen.

Für die Gesamtbewertung dieser literarhistorischen Arbeit fällt dieses Detail zudem kaum ins Gewicht, liegt doch mit diesem Band insgesamt ein verständlich formulierter und wissenschaftlich solider Überblick über das gesamte Textspektrum der Barockliteratur vor, dessen Lektüre in jedem Fall gewinnbringend ist. Meids Werk ist zwar als eine völlige Neufassung des 1951 erstmals erschienenen Bandes V der „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart“ konzipiert, die von Richard Newald und Helmut de Boor begründet wurde, doch stellt es zugleich eine in sich abgerundete Publikation dar, die auch völlig unabhängig von den anderen Bänden Newalds und de Boors angeschafft und gelesen werden kann und mit den heute veralteten frühesten Teilen dieser Literaturgeschichte kaum etwas gemein hat. Mit 49 Euro ist der hervorragende Band auch für germanistische Institutsbibliotheken mit kleinem Anschaffungsetat und für Studierende bezahlbar, die sich etwa im Rahmen ihrer Abschlussarbeit oder der Vorbereitung auf ein mündliches Examen gründlich mit der Literatur des 17. Jahrhunderts auseinandersetzen wollen. Dies ist erfreulich, denn als künftige Wissenschaftler und Mitarbeiter von Kultur- und Bildungseinrichtungen können die mit der Barockliteratur vertrauten Studierenden eines Tages dazu beitragen, dass diese Literaturepoche, deren Forschungs-Landkarte noch zahlreiche weiße Flecken aufweist, nicht aus unserem kulturellen Gedächtnis verschwindet.

Titelbild

Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
984 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783406587573

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