„Am Ufer der Wehmut blühen die Sterne“
Friederike Mayröcker: Dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif. Gedichte 2004 – 2009
Von Herbert Fuchs
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre legt der Suhrkamp Verlag einen Sammelband mit Gedichten der österreichischen Lyrikerin Friederike Mayröcker vor: 2004 einen Sammelband von gut 800 Seiten aller bis dahin von ihr veröffentlichten Gedichte, jetzt ein Buch, das über 300 Gedichte enthält, die nach 2004 entstanden sind, darunter die bereits publizierten „Scardanelli“-Poeme. Der Sammelband ist ein Geschenk des Verlags an eine bedeutende Schriftstellerin zu ihrem 85. Geburtstag, den Mayröcker im Dezember 2009 feierte. Längst gehört sie, wie es auch ihre Ehrungen und Auszeichnungen, darunter der Georg-Büchner-Preis (2001), zeigen, zu den großen deutschsprachigen Lyrikerinnen. Der vorliegende Sammelband ist erneut ein Beweis ihrer dichterischen Kraft auch im hohen Alter. Nichts an diesen Texten ist auch nur annähernd Mittelmaß oder gar banal und belanglos. Die Gedichte faszinieren durch den ganz eigenen Mayröcker’schen Ton, ein Gemisch aus konkreten Benennungen von Personen, Ereignissen und Dingen aus der unmittelbaren Umgebung, oft von Blumen, Bäumen und Vögeln, und einem sprunghaften, assoziativen Stil, der verschiedene Bereiche des Lebens und Alltags und verschiedene Zeitebenen wie selbstverständlich miteinander verknüpft. Gegenwart und Vergangenheit, kleine und größere Erlebnisse der Jetztzeit mit Erinnerungen an die Kindheit und vor allem und immer wieder an Ernst Jandl. „Dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif“ wird so zu einem Spiegelbild des Innenlebens eines poetischen Ich, voller Melancholie und Trauer, Einsamkeit und Altersschwermut, aber auch voller Lebenskraft und Lebensfreude.
Die über 300 Gedichte dieses Bandes werden vor allem durch das Motiv der Erinnerung zusammengehalten. „Damals“ ist ein Wort, das in den Texten auffällig häufig vorkommt. Zwischen und neben die Bilder des Lebens im Jetzt schieben sich Bilder der „Kindheit in D.“, der Mutter und des Freundes und Geliebten Ernst Jandl, dem zahlreiche Texte gewidmet sind, der mit vollem Namen oder mit dem Kürzel EJ in den Gedichten präsent ist und der sich auch hinter dem „du“ und „wir“ vieler Texte verbirgt. Friederike Mayröcker war – die biografischen Hintergründe sind bekannt – von 1954 bis 2000, Jandls Todesjahr, mit dem Dichter eng befreundet. Dass dessen Tod sie in eine tiefe Lebenskrise gestürzt hat, wurde von ihr schon in „Requiem für Ernst Jandl“ (2001) literarisch thematisiert.
Die Auseinandersetzung mit der Sehnsucht nach dem Freund („Nur dieses / noch 1 x dieses sich an der Hand fassend beim Überqueren / der Strasze nur dieses noch 1 x“), mit der Einsamkeit („ich war ohne ihn schon sehr verloren“) und der Selbstentfremdung („die unbekannte Gestalt meiner selbst“) spielt auch in den jetzt vorgelegten Gedichten eine zentrale Rolle. Die Gedanken an Ernst Jandl durchziehen den gesamten Band und zeichnen – auch wenn es immer wieder nur Erinnerungssplitter sind – nach und nach das Bild einer intensiven und anrührenden Liebe zwischen Mayröcker und ihrem Dichterfreund und Lebenspartner.
Sie machen „dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif“ zu einem einzigartigen Erinnerungsbuch. Schon im zweiten Gedicht des Bandes, entstanden am 16. 7. 04, stehen die Verse: „auf linker Wange 1 Schatten von Träne ja und du fehlst / mir sehr.“ Und in einem Gedicht fast ganz hinten in der Sammlung, geschrieben am 15. 2. 09, kann man lesen: „damals in Salzburg wollten wir Abschied nehmen in 1 Stunden- / hotel, wollte ihn fragen nach diesem und jenem aber er gibt / keine Antwort fast neun Jahre dasz er aufgehört hat zu sprechen.“
Dass er „keine Antwort“ gibt, „aufgehört hat zu sprechen“, zwingt die Schreiberin zu diesem unablässigen Strom von Erinnerungen an Sätze, Worte, kleine Gesten von „IHM“, – so im Druck herausgehoben taucht der Freund oft in den Zeilen auf. Er lebt in diesen Erinnerungen und sie kann die Erinnerungen, indem sie sie „versprachlicht“, „bestehen“ und aushalten. Ohne die Gedanken an das einstige glückliche Leben – neben Ernst Jandl tauchen auch immer wieder ihre „Kindheit in D.“ und ihre Mutter auf – wäre ihre Gegenwart leer, im wahren Sinn des Wortes „weltlos“. Die Welt erfährt die Schreiberin ausschnittweise, stückhaft nur, zusammenhanglos, beim kurzen Gang zum Konsum-Geschäft beispielsweise oder über Telefongespräche mit Freundinnen und Bekannten, aus Büchern etwa von Jacques Derrida, den sie immer wieder zitiert. Das Jetztzeit-Leben der Ich-Sprecherin spielt sich nicht draußen ab, sondern drinnen. Der Blick aus dem Fenster ist in weit über hundert Gedichten die Verbindung zur Welt. Das Fenster, ähnlich oft in den Texten erwähnt wie das Wort „damals“, trennt das kleine Hier vom Dort, das Leben drinnen vom Leben draußen, macht deutlich, dass die Schreiberin sich eingeschlossen hat in dem, was ihr vom Leben geblieben ist, in dem Raum, den sie noch überschaut und bewältigt. Das „Jetzt-Leben“ ist ein indirektes Leben, ein Leben des Beobachtens, ein Leben, das über Bilder, Fotografien und Bücher Kontakte mit den anderen herstellt und mit ihnen eine Art „indirektes“ Gespräch führt. Das „direkte“ Leben ist im „damals“ angesiedelt, in der Erinnerung. Im Schreiben lebt es wieder und wieder auf und bewirkt, da es „nur“ Erinnerung ist, zu der „Tränen“ und „weinen“ gehören, eine melancholische Grundhaltung in vielen Gedichten. „Diese Melancholie ist die Grundstimmung, die ich brauche, um zu arbeiten“, sagte sie in einem Interview. „Ohne Melancholie kann ich nicht schreiben.“ Und in dem Gedicht „Melancholia“ vom 24. 2. 06 heißt es: „[…] suche nach Halt um weiter- / leben zu können bald alles verweht das trübe Licht im / Fenster […]“.
Gucklochartig – das Bild des alternden Friedrich Hölderlin in seinem Turm im „Scardanelli“-Zyklus drängt sich auf – wird die Welt draußen vor dem Fenster wahrgenommen und in Sprache gebannt. Aber welche Fülle an Welt entsteht da noch immer, trotz der Begrenztheit des Sehens und Wahrnehmens. Es ist eine Welt der kleinen Dinge und Ereignisse: Menschen gehen vorüber, Geräusche werden registriert, vor allem wird die Natur draußen in einer zuweilen geradezu hymnischen Benennung von Blumen und in einer schwelgerischen Fülle von Blumenbildern lebendig. Darin und in den vor dem Auge des Lesers entstehenden Landschaften aus Winter-, Frühlings-, Sommer- und Herbstjahreszeiten erhalten die Gedichte etwas Lebendiges, Kraftvolles und zutiefst Lebensbejahendes. Aus den Naturbeschreibungen, die in ihrem aufzählenden Nominalstil magisch-beschwörend klingen, und dem Blickwinkel aus einem Innen heraus, das ein Innen im wörtlichen Sinn des Abgeschlossenseins in einem Zimmer, aber auch ein Innen der Dichterseele ist, zu dem Seufzen, Klagen und desillusionierende Gedanken über das Alter und über das Leben überhaupt gehören, entsteht eine faszinierende lyrische Welt. Dazu gehören auch die Musik von Callas, Fischer- Dieskau, Mozart oder Bach, Anrufe von Freunden und Freundinnen, kursiv gesetzte Zitate aus Büchern, Jandl-Gedichten und eigenen Texten sowie bekannte und unbekannte Namen und Namenskürzel. Die Spannung zwischen den vielfältigen Ebenen und Bereichen in den Gedichten und der Einblick, den die Texte in das Innere der Schreiberin zulassen, machen den besonderen Reiz des Buches aus.
Viele Gedichte beginnen unvermittelt, wie mitten im Satz oder in einem Gedanken oder sprachlichen Bild, und bewegen sich sprunghaft, ohne Übergänge, scheinbar ungeplant und ungeordnet, von Gedanken zu Gedanken oder von Bild zu Bild „galoppierend“, wie es in einem der Texte heißt. Die „offenen“ Reihungen – assoziative Bilderketten – sind der sprachliche Ausdruck dieser wie zufällig entstehenden, in Wirklichkeit genau kalkulierten Verknüpfungen verschiedener Zeitebenen und Räume, die sich aneinander reiben, sich aber auch zu einem komplexen sprachlichen Gebilde zusammenfügen. Ein Beispiel dafür, wie aus dem Verschiedenen eine spannungsvolle poetische Wirklichkeit aus Profanem und Träumerischem, aus Jetztzeit und „damals“, aus Hier und Dort entsteht, ist das Gedicht, das am „7. 9. 04 5 Uhr früh“ entstand: „in unserer Gasse / der Fleischerladen zugesperrt (in Rente), Dank- / zettelchen im Fenster: an die treue / Kundschaft, und halbe Kälber an den Haken hängend, mit / Plastikhäubchen beim Tranchieren, die Frau / vollbusig und verblühte Schönheit. Vorm Supermarkt / der angeleinte Köter, winselnd. In Nässjö aggressiver / Schwan am Ufer, uns schrecklich angestarrt, schwedischer / Sommer kalt und mit Dauerregen aus den niedern Wolken. Sie schreibt, / bin an der Ostsee: Kappeln/Schlei, die See 1 Wellblechdach so sanft / gewellt gerillt – und warte auf das Rauschen / in den Ohren, lege die Callas Platte auf, Partie im Tannenwald“.
Die innere Bewegung aus Bildern und Assoziationen wird ausgelöst durch ein banales Ereignis, ein Schild im Fleischerladen. Erinnerungen an einen gemeinsamen Aufenthalt in der schwedischen Stadt Nässjö verknüpfen sich – offensichtlich – mit einem Kartengruß aus dem Ostseeort Kappeln. Die Ausweitung des Raums und der Zeit gibt dem „Fleischerladen“ in seiner groben Alltäglichkeit eine groteske Bedeutung. Gebrochen werden die Bilder und Assoziationen durch die Perspektive in den beiden Schlusszeilen, nach dem Gedankenstrich: Alles in dem Gedicht ist der Blick von jemandem, der aus seiner ganz eigenen Welt heraus das Leben draußen zu (be)greifen versucht.
Die Gedichte beeindrucken durch eine bildhafte, rhythmisch vielfältige und rätselhafte Sprache. Der Titel des Bandes, der auch die Überschrift eines Gedichts auf den letzten Seiten des Buches ist, macht in seiner „dunklen“ Sperrigkeit und provozierenden Bildhaftigkeit neugierig. „Ich nehme an, ich habe ihn geträumt“, sagt Mayröcker selbst dazu und weicht damit jeder genaueren Festlegung aus. Vielleicht sind die Gedichte Glücksboten wie jene Feder, die der Bauernbursche aus dem Greif-Märchen dem Riesenvogel unter Lebensgefahr ausreißt und so am Ende eine Königstochter zur Frau gewinnt. Sprachgebilde, die dem Leben mit seiner Traurigkeit und seiner Einsamkeit abgerungen werden müssen, die dann allerdings so viel poetische Kraft ausstrahlen, dass sie, trotz der „Küsse: Winterküsse die kalt auf den Lippen geliebter Gesänge“, zur „Metapher für 1 Liebe“ werden können.
Die Sprach- und Bildmächtigkeit der Gedichte verwandelt deren unterschwellige Melancholie in faszinierend poetische Textgebilde, die aus der Einsamkeit wegen des Tods des Geliebten etwa einen Text der erinnerten Liebe und fortdauernden Nähe zum Geliebten machen, voller Lebensfreude und Liebesglück: „ […] diese / welke Rose rote Rose im Glas über den Rand des Glases sich / neigend beugend im Trinkglas am Fenster alternde Rose im Glas / immer noch duftend, das schwalbende / Gewölk wie ich weine, deine Lagunen Herzen du hattest / zahlreiche Herzen und einmal schriebst du an den unteren / Rand eines Gedichtes das du mir gewidmet hattest, dein / ist mein ganzes Herz, […]“.
Die Gedichte Friederike Mayröckers geben auch immer wieder Auskunft über ihr dichterisches Selbstverständnis und den lyrischen Schaffensprozess, der dadurch, dass am Ende jedes Gedichts die Entstehungsdaten angegeben werden, den Eindruck von großer Spontaneität erweckt. Im Gedicht „für CF am frühen Morgen“ (15. 1. 05) heißt es: „ist das 1 Gedicht, sagt CF, ja / das ist 1 Gedicht: indem ich sage das ist / 1 Gedicht ist es 1 Gedicht. Meine / Ärztin sagt, essen Sie 1 Gedicht, ich / weisz nicht wie man es kocht, sage ich. Wenn Antoni / Tàpies sagt, diese weisze Form ist 1 Sessel, erkenne / ich in dieser weiszen Form einen Sessel, ins / Zentrum gerückt. Indem ich von einem Urinoir sage, das / ist 1 Kunstwerk, sagt Marcel Duchamp, ist / es 1 Kunstwerk. Indem ich sage, die / weiszen Schäfchen am Himmel, sind es die / weiszen Schäfchen am Himmel“.
Die Lyrikerin besteht auf der magischen Kraft ihrer Sprache; sie selbst wird zur „Sprachzauberin“ mit höchster dichterischer Autorität, reiht sich ein in die Gruppe von Künstlern, deren Kriterium für Kunst, wie sie behaupten, in ihnen selbst liegt: Ihr Werk ist, inspiriert von ihnen, immer Kunst. Das Schreiben ist für Mayröcker, wie sie in einem Gespräch mit der „Zeit“ erläutert, ein „total anderer Zustand, es ist fast, wie wenn ich eine Droge nehmen würde. […] Es ist ein magischer Zustand. Ich rede nicht gerne darüber. Ich empfinde es beinahe als Verrat, darüber zu sprechen. Es ist auch für mich ein Geheimnis.“
Die Schlusszeilen ihres Gedichts ähneln in ihrer herausfordernden Bestimmtheit einem frühen Tagebucheintrag Franz Kafkas vom 19. Februar 1911: „Die besondere Art meiner Inspiration […] ist die, daß ich alles kann, nicht nur auf eine bestimmte Arbeit hin. Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe z. B. Er schaute aus dem Fenster so ist er schon vollkommen.“ So wie sich Kafka als „vollkommener“ Dichter sieht, sieht sich die Lyrikerin als eine Schöpferin von Sprachbildern, deren Wahrheit durch nichts als den dichterischen Text selbst konstituiert wird und darin vollständig zum Ausdruck kommt. Nicht die Frage, was sie „bedeuten“, ist die angemessene Haltung den Mayröcker’schen Versen gegenüber, sondern allein, was sie im Kontext des Gedichts „sind“ und welche Bilder und Vorstellungen sie evozieren. Von daher sind das ganz Private der Gedichte, das scheinbar Hermetische und Rätselhafte, die zahlreichen Namen zum Beispiel, die Kürzel, die kursiven Sätze, die Zitate, die unvermittelten Anfänge und scheinbar nicht zu Ende gebrachten Schlüsse, die Wortspiele und innertextlichen Verweise Teile eines lyrischen Schreibprozesses, die gewollt sind und auch nicht ohne weiteres bis in ihre Einzelheiten aufgelöst werden sollten. Das Un(aus)deutbare, das Geheimnisvoll-Besondere und die faszinierende Fremdheit der Verse sind ein Teil der lyrischen Welt Mayröckers.
„[…] die Welt so kalt der Himmel bitter klar / es klirrt der Morgen und es weint die Nacht ich bin allein find mich / nicht mehr zurecht“. Diese desillusionierende Sicht auf Leben und Welt ist aber nicht das letzte Wort in diesem Lyrikband. Neben der Lebensangst steht die Lebensbejahung. Das Schöne und der Schrecken sind in den Gedichten präsent. Sie werden in eine lyrische Sprache übersetzt, die anschaulich und bilderreich ist, genau und provozierend direkt, auch rätselhaft zuweilen, die Neugier erweckt und die Phantasie anregt. Die Texte werden zu Bebilderungen eines hochbetagten Lebens, das beides kennt, die Trauer und die Lebensfreude, den Schmerz und das Glück. So lauten denn auch die Schlusszeilen des Buches: „nur nicht enden möge diese Seligkeit dieses Lebens nur nicht enden ich / habe ja erst angefangen zu schauen zu sprechen zu schreiben zu weinen / und hinter den Jalousien das mich scheuchende Licht des Morgens, oh / sprieszendes Blut und Blüte des Leibes, ,Privatisierung der Litera- / tur‘ (JD), Wahnwitz der Heiligkeit dieses Lebens das ich ans Herz / (drücke), das mir so teuer – wahrlich dieser mich umarmende Hori- / zont Gabe meiner Bekenntnisse während wehende Veilchen“.
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