Krieg und Frieden

Auch 150 Jahre nach der Geburt des letzten deutschen Kaisers gehen die Meinungen der Biografen über das „persönliches Regiment“ Wilhelm II. weit auseinander

Von Jörg von BilavskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Bilavsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

War er treibende Kraft oder ein Getriebener? War er ein Fantast oder ein Realist? War er Friedenskaiser oder war er Kriegshetzer? Die Urteile der Historiker über den letzten deutschen Kaiser tendieren jeweils zu einer der beiden extremen Positionen. Zwischen diesen Polen bewegt sich der noch junge Cambridge-Professor Christopher Clark mit seiner schon vor acht Jahren veröffentlichten Biografie über Wilhelm II. Damals beachteten höchstens seine Landsleute und in Deutschland vorwiegend Fachkollegen die analytisch wie stilistisch brillante Charakterstudie. Nicht zuletzt wegen des großen Erfolgs seines „Preußen“-Bestsellers im letzten und des 150. Geburtstag des berühmt-berüchtigten Hohenzollers in diesem Jahr liegt sie jetzt aktualisiert und in deutscher Fassung vor.

Dem britischen Historiker gelingt es nämlich mit seiner abwägenden Argumentation, „Verunglimpfung und Verständnis wieder in die richtige Balance“ zu bringen. Weil er Wilhelms schwierige Persönlichkeit im Rahmen des komplexen Machtgefüges des kaiserlichen Deutschlands deutet. Und ihn weder wie Wilhelm-Experte John Röhl zu einem „Vorboten Hitlers“ abstempelt noch ihn als „Herrn der Mitte“ aufwertet, wie es der Kultursoziologe Nicolaus Sombart getan hat. Wilhelm tritt uns in seinem Buch vielmehr als unberechenbarer und wankelmütiger Charakter entgegen, dessen größtes Manko darin bestand, kein klares politisches Programm formulieren und durchsetzen zu können. Ihm mangelte es, wie Clark zu Recht betont, „an der intellektuellen Distanz und synoptischen Vision, die einen Politiker dazu befähigen, disparate Dinge miteinander in Einklang zu bringen, gemeinsame Themen zu erkennen, die Implikationen zu analysieren und vernünftige Schlussfolgerungen zu ziehen.“

Wilhelms eigentliche politische Triebfeder war die „Lust an der Machtausübung“ und sein unstillbarer Wunsch, als politischer Vermittler und Versöhner, quasi als nationaler Übervater zu agieren. Doch sein Handlungsspielraum wurde von den anderen Akteuren auf dem politischen Schachbrett und der Verfassung massiv beschränkt und beeinflusst. Insbesondere von den verschiedenen Reichskanzlern, den immer forscher auftretenden Parteien und den Einflüsterungen seiner engsten Berater. Angesichts dieses ebenso dynamischen wie komplexen Machtsystems und seines mangelhaften politischen Instinkts konnte vom so oft zitierten „persönlichen Regiment“ in Wirklichkeit nur selten die Rede sein. Ohne Zweifel hat Wilhelm mit der Absetzung des bis 1890 fast allein regierenden Bismarck seinen absoluten Herrschaftsanspruch deutlich gemacht. Doch in der politischen Praxis zeigte sich sehr schnell, dass er nicht in der Lage war, den sozialen Frieden zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Aristokratie herzustellen, die konfessionelle Kluft zwischen Protestanten und Katholiken im Reich zu überbrücken oder seinen Traum von Schulen zu verwirklichen, die „nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer“.

Trotz der Ernennung ihm genehmer Minister und Beamter stieß Wilhelm mit seinen heftig umstrittenen Gesetzesinitiativen, etwa zur Finanz- oder Militärreform, immer wieder auf die Gegenwehr des Reichstages, der während seiner Regentschaft zunehmend an Einfluss und Macht gewann. Genauso wie die wechselnden Reichskanzler, die wie Bülow oder Bethmann Hollweg seine konfliktträchtigen Vorstöße geschickt unterliefen, sabotierten und am Schluss sogar neutralisierten. Nicht zuletzt aufgrund dieser enttäuschenden Erfahrungen mit der widerspenstigen Exekutive mischte sich der wenig ausdauernde Kaiser nach der Jahrhundertwende immer seltener in die Innenpolitik ein und konzentrierte sich verstärkt auf die vermeintlich prestigeträchtige, aber keineswegs konfliktärmere Außenpolitik.

Obgleich Wilhelms direkter Draht zu den europäischen Adelshäusern, sein Recht zur Ernennung von Botschaftern und seine Position als Oberbefehlshaber der Streitkräfte ihm außenpolitisch großes Gewicht gaben, attestiert Clark ihm nur einen geringen Einfluss auf die entgültigen diplomatischen Entscheidungen. „Die Initiative für die Ausarbeitung einer politischen Linie und die Planung ihrer Umsetzung blieb beim Auswärtigen Amt“, resümiert Clark. Mit seinen schädlichen Äußerungen, wie etwa in der Daily Telegraph-Affäre, oder seinem taktlosen Auftreten gegenüber ausländischen Monarchen hat er zwar das Klima des Misstrauens zwischen den Staaten angeheizt, aber nicht den außenpolitischen Kurs des Kaiserreichs bestimmt. Dass sich Russland, Großbritannien und Frankreich zunehmend von Deutschland distanzierten, hatte viele Gründe. Einer davon war sicher die unberechenbare Diplomatie des Kaisers und seine konfrontative Flottenpolitik. Aber schwerer wiegt für Clark die außenpolitische Konfusion, die nach dem Zusammenbruch des Bismarckschen Bündnissystems entstanden ist und von den nachfolgenden Reichskanzler nicht mehr beherrscht wurde.

Auch Wilhelms Schuld an der Julikrise 1914 und am Ausbruch des Ersten Weltkriegs relativiert er weitaus stärker als die meisten anderen Interpreten. Anhand zahlreicher Quellen entkräftet er überzeugend die weitverbreitete These von Wilhelm als maßgeblichem „Kriegshetzer“. Noch bis kurz vor der Mobilmachung am 1. August 1914 hoffte der sich stets als „Friedenskaiser“ gebende Monarch, den Konflikt zwischen Serbien und Österreich-Ungarn diplomatisch oder zumindest mit einem lokal begrenzten Krieg lösen zu können. Allen vorherigen Drohgebärden gegenüber den Serben und dem fatalen „Blankoscheck“ für die K.u.K.-Monarchie zum Trotz. Wilhelms Schuld bestand vor allem darin, den Friedenskurs gegenüber seinen kriegsbereiten Militärs nicht konsequent genug vertreten zu haben und Ludendorff wie Hindenburg im Krieg schalten und walten ließ, ohne dass er sie kraft seines Amtes zügelte und die Friedensbemühungen der Exekutive stärkte.

Angesichts der Ausdauer und Akribie, mit der Clark die extremen Forschungsmeinungen über Wilhelm II. argumentativ durchlöchert, könnte man meinen, er wolle die „Herrschaft des letzten deutschen Kaiser“ am Ende doch noch rehabilitieren oder zu dessen Gunsten relativieren. Aber genau das macht er nicht, weil er alle Thesen vorurteilsfrei gegeneinander abwägt und dann alternative Ansichten und Anmerkungen präsentiert. Selten ist ein Biograf einer so umstrittenen Persönlichkeit und so komplexen Epoche so gerecht geworden wie Christopher Clark.

Titelbild

Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers.
Übersetzt aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008.
414 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783421043580

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