Nach dem Kuß

Neue Gedichte von R. S. Thomas

Von Harald HartungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Harald Hartung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob der Bienek-Lyrik-Preis, den R. S. Thomas 1996 erhielt, den walisischen Dichter bei uns etwas bekannter gemacht hat? Zu wünschen wäre es ihm. Thomas, heute ein Mann von fünfundachtzig Jahren, hat als Autor von gut dreißig Gedichtbänden seinen Namen dem englischsprachigen Publikum eingeprägt, und niemand verwechselt ihn dort mehr mit seinem Landsmann, dem genialischen, früh gestorbenen Dylan Thomas.

Anders als dieser hat R. S. Thomas die lyrische Muse nicht als Bacchantin, sondern als strenge Erzieherin erlebt. Die erste heftige Liebe - meint er - verwandelt sich in den feierlichen Dienst an einer kalten Königin, und im Alter erkennt man: "Das Lächeln auf ihrem stolzen Antlitz gilt nicht dir."

Wer den spröden Charme von Thomas´ Gedichten zu schätzen weiß, wird diesem Pessimismus widersprechen. Er gehört aber zur biographischen Lektion des Autors. Ronald Stuart Thomas, in eine englischsprachige Familie hinein geboren, lernte das Walisische zu spät, um in dieser Sprache noch dichten zu können. Seine Mutter soll ihm mit aller Macht den geistlichen Beruf nahegelegt haben, und so ist Thomas von 1937 bis 1978 anglikanischer Priester gewesen. Das war für ihn kein bloßer Brotberuf. Religiöse Motive haben immer zu seiner Lyrik gehört. Doch seine Poesie hat dennoch nichts Affirmatives oder gar Frömmelndes. Der Gott seiner Verse ist vielmehr immer ein verborgener und bezweifelter Gott. Zwar wünscht sich der Dichter, daß Gott zu ihm und durch ihn spricht, aber wichtiger als die Erfüllung ist ihm das Warten. "The meaning is in the waiting", heißt es bei ihm an einer Stelle, "Der Sinn liegt im Warten."

Geduld wird auch dem Leser abverlangt. Thomas´ Gedichte benötigen zwar keine spezielle Dechiffrierkunst, aber das genaue Hinhören auf ihren lakonischen, unsentimentalen Ton. Sie leben vom Wissen, daß Wahrheit und Schönheit nicht zusammenkommen: "Eines erbat ich / vom Richter für Fragen / des Lebens: daß die Wahrheit sich der Schönheit / füge. Das wurde nicht gewährt."

Das sind Zeilen aus "Das helle Feld", einer ersten, im Jahre 1995 erschienenen deutschen Auswahl. Nun liegt, mit "Laubbaum Sprache", eine weitere knappe, wiederum zweisprachige Anthologie vor, und erneut darf man die Präzision der Übertragung und die Schönheit des Buches rühmen.

Wenigstens ein Gedicht, das ergreifendste des Bandes, möchte ich hervorheben. "Eine Ehe", nach dem Tod von Thomas´ Frau entstanden, handelt von dem kurzen Moment, der Leben und Tod verbindet. Der Liebende, der nach dem Kuß die Augen wieder aufschlägt, sieht die Falten der Frau und den Tod, der sie zum letzten Tanz bittet: "Und sie, die im Leben / alles getan hatte / mit der Grazie eines Vogels, öffnete jetzt den Schnabel, / um einen Seufzer / fallen zu lassen, nicht / schwerer als eine Feder."

Titelbild

Ronald S. Thomas: "Laubbaum Sprache". Ausgewählte Gedichte. Herausgegeben und übersetzt von Kevin Perryman.
Babel Verlag, Denklingen 1998.
84 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3931798127

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