Wer (nicht) arbeitet, muss fühlen

„Arm durch Arbeit“: Markus Breitscheidels Bericht über die Abzocke im Niedriglohnsektor

Von Esther MenhardRSS-Newsfeed neuer Artikel von Esther Menhard

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schenkt man den Berichten über Hartz-IV-Empfänger in den Medien Glauben, dann muss sich der Eindruck aufdrängen, es handele sich bei diesen um einen eingeschworenen Kreis von Menschen, die in vollem Bewusstsein die Gutmütigkeit der Gemeinschaft, in der sie leben, ausbeuten. In Talkshows des ZDF oder ARD wie auch der privaten Sender werden Menschen interviewt, die zum Teil über viele Jahre Sozialleistungen des Staates in Anspruch nehmen und „nicht arbeiten wollen“, wie der 53-Jährige Arno Dübel in der Sendung „Menschen bei Maischberger“ im Januar dieses Jahres lachend behauptete. Hartz-IV-Empfänger erscheinen in den Medien häufig als unqualifizierte Faulenzer, die andere dafür bemitleiden, dass die arbeiten gehen – anstatt sich auf Staatskosten ein schönes Leben zu machen.

Dass die Wirklichkeit ganz anders aussieht, zeigt der Bericht „Arm durch Arbeit“ von Markus Breitscheidel. Für eineinhalb Jahre lebte er von Hartz IV und dokumentierte seine Erfahrungen. Dabei wird vor allem eines deutlich: Ein schönes Leben kann man sich mithilfe des Hartz-IV-Satzes nicht machen. In Breitscheidels immer wieder eingestreuten Zwischenresümees kritisiert er vor allem dieses Bild des Hartz-IV-Empfängers, wie es die Medien zeichnen und wie es große Teile der Bevölkerung bereits übernommen haben.

Was einen Menschen erwartet, der Hartz IV beantragen will, sind mehr als nur Unannehmlichkeiten. Neben dem Ausfüllen eines undurchsichtigen, für Laien unüberschaubaren Antragsformulars wird von ihm erwartet, seinen Besitz und seine ganze Person dokumentarisch bloßzulegen. Er wird jegliche Ersparnisse offenlegen müssen. Zunächst muss er diese aufbrauchen, um überhaupt einen Anspruch auf Hartz IV erheben zu können. In zukünftigen finanziellen Notlagen verfügt er damit über keine weiteren finanziellen Ressourcen und ist folglich dazu gezwungen, sich gegebenenfalls zu verschulden. In diesem Moment setzt die Gefahr ein, aus einem Leben im sozialen Notstand nicht mehr ausbrechen zu können.

Einen Menschen, der Hartz IV beantragt, erwartet, vor allem wenn er auf sich allein gestellt ist, ein ständiges Rechnen im Supermarkt, das Jagen nach Sonderangeboten, möglicherweise der erzwungene Umzug in eine günstigere Wohnung. Hinzu kommt der Druck des Amtes, jeden Job annehmen zu müssen. Ansonsten müsste er mit einer Kürzung der finanziellen Unterstützung rechnen. Nicht zu vergessen ist der soziale Druck der Gesellschaft, vor allem aber der direkten Umwelt wie Nachbarn, Familie, Freunde. Die sind häufig der Meinung, dass derjenige, der Arbeit sucht, auch Arbeit findet oder um die Worte unseres Außenministers Guido Westerwelle wiederzugeben: Derjenige, der arbeitet, soll mehr haben, als der, der nicht arbeitet. Auch diese Formulierung trägt zu dem eklatant falschen Bild des Hartz-IV-Empfängers in der Öffentlichkeit bei, und zwar in für die Betroffenen unzumutbarer Weise. Mag es auch sein, dass es einige Menschen gibt, die wie Arno Dübel das verbreitete Klischee erfüllen. Statistiken wie auch der Bericht Breitscheidels machen deutlich, dass die Mehrheit der Hartz-IV-Empfänger sich ihre Situation nicht ausgesucht hat, Angst hat, in die Armut abzurutschen und sich eine Arbeitsstelle sehnlichst wünscht. Wer von diesen Umständen profitiert, sind vor allem Unternehmen, die Leiharbeiter einsetzen beziehungsweise vermitteln.

Im Stil des Enthüllungsjournalismus eines Günter Wallraff entdeckt Breitscheidel die Bedingungen, unter denen diese Leiharbeiter arbeiten müssen. Er berichtet aus den Unternehmen Opel und Bayer-Schering sowie von seinen Erfahrungen als Erntehelfer. Menschen, die sich als Leiharbeiter vermitteln lassen, bekommen nach Breitscheidel nie konkrete Auskünfte über die Art ihrer zukünftigen Tätigkeit. Sie wissen nie genau Bescheid, wann, an welchen Tagen und über welche Zeitspanne sie über einen Job verfügen. Sie müssen stets abrufbereit sein. Sie haben nie darüber Kenntnis, ob am Ende des Monats das Gehalt ausreicht, um von Hartz IV wegzukommen. Wie Breitscheidel berichtet, ist es tatsächlich häufig der Fall, dass beim Amt Anträge auf zusätzliche finanzielle Unterstützung gestellt werden müssen, weil das Gehalt eben nicht ausreicht. Obwohl die Leiharbeit häufig so viele Stunden umfasst wie jede feste Arbeit, reicht das Gehalt am Ende des Monats trotzdem in den meisten Fällen nicht aus, um die Existenz zu sichern, weil es zu niedrig ist. So verdient Breitscheidel beispielsweise als Erntehelfer 2,50 Euro in der Stunde, muss sich aber ein Auto halten, um überhaupt zu seiner Arbeitsstelle zu gelangen.

Die Befristung der Stellen im Leiharbeitssektor bedeutet zudem, dass keine Möglichkeit zur Bildung eines Betriebsrats oder einer derartigen Organisation besteht, die die Interessen der Arbeiter vertritt. Das liegt zusätzlich daran, dass die Kollegen nie dieselben sind und sich daher soziale Kontakte nicht vertiefen oder gar nicht erst entwickeln können. Von den Festangestellten werden die Leiharbeiter in der Regel als „Feinde“ betrachtet, dank denen die Löhne gedrückt werden. Die Unternehmen profitieren davon, dass Menschen arbeiten wollen beziehungsweise sie vom Amt dazu gedrängt werden, ihnen oftmals aber nur Leiharbeit als Option bleibt. Diese Arbeit wird schlechter bezahlt. Zudem werden Anfahrtskosten zum Arbeitsplatz nicht übernommen und Urlaubs- sowie Weihnachtsgeld entfallen vollkommen. Daneben ist für Unternehmen vor allem die Flexibilität der Arbeiter attraktiv, die zu jeder Uhrzeit kontaktiert und an eine Stelle kommandiert werden können. Für die Betroffenen bedeutet aber gerade dies eine neben den Sorgen um die eigene Existenz zusätzliche psychische Belastung. Auf diese Vorteile haben Unternehmen bereits reagiert, indem sie Festangestellte durch Leiharbeiter ersetzten.

Hin und wieder erzählt Breitscheidel etwas zu weitschweifig. Das tut der Tatsache aber keinen Abbruch, dass der Bericht informativ, nachvollziehbar aufgebaut und leserfreundlich ist. Er ist ein wichtiger Bericht und sollte dazu dienen, mit den negativen Vorurteilen aufzuräumen. Schließlich bleibt festzuhalten, dass Breitscheidel in angemessener Weise betont, wie sehr Hartz IV und die Reformierung des Arbeitsmarktes im Sinn der Leiharbeit, als deren größter Initiator Wolfgang Clement gelten kann, wesentlich die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland auseinanderklaffen lassen und den Interessen einer kleinen Minderheit entsprechen. Dabei lässt er dem Leser ausreichend Raum, die gegebenen Informationen selbstständig zu beurteilen.

Titelbild

Markus Breitscheidel: Arm durch Arbeit. Ein Undercover-Bericht.
Ullstein Taschenbuchverlag, Berlin 2010.
218 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783548373126

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