Die heilige Emma von den Schlachthöfen

Emma Goldmans Autobiografie liegt in einer überarbeiteten Neuausgabe vor

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als im Jahre 1919 in den USA die Hysterie gegen politisch unerwünschte Immigranten nach der russischen Revolution eskalierte, brandmarkte der spätere Begründer des FBI J. Edgar Hoover Emma Goldman und Alexander Berkman als „die zweifelsohne gefährlichsten Anarchisten“ in den USA. Um fünf Uhr am Morgen des 21. Dezember 1919 war er im Hafen von New York persönlich vor Ort, als Goldman und andere „Ausländer“ an Bord der Buford nach Russland deportiert wurden, um sich von einem erfolgreichen Abtransport der „unerwünschten Elemente“ zu überzeugen.

Goldman gehörte zu den herausragenden Akteurinnen des klassischen Anarchismus, der in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt hatte und zum Schreckgespenst in der amerikanischen Öffentlichkeit wurde, ehe er mit der Niederlage der Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg 1939 endete. Nahezu symbolischen Charakter hatte Goldmans tragisches Ende im Jahre 1940: Gezeichnet von einem Schlaganfall, konnte sie, die sich zeit ihres Lebens in erster Linie über das Sprechen definiert hatte, kein Wort mehr herausbringen, und als sie wenig später starb, hatte sie die Macht der Sprache nicht wiedergewinnen können. Ihr Tod versinnbildlichte für viele den Niedergang des Anarchismus, der in der modernen industriellen Welt (wo angesichts der massenhaften Menschenvernichtung der individuelle Akt der Revolte bedeutungslos geworden zu sein schien) seine Existenzberechtigung nicht mehr nachweisen konnte.

Mit dem Revival des Anarchismus in den 1960er-Jahren tauchte aber auch Emma Goldman aus dem historischen Orkus wieder auf – nicht zuletzt als Ikone des radikalen Feminismus. Das Interesse an Goldman wuchs, und Biografen wie Richard Drinnon, Candace Falk oder Alice Wexler beleuchteten eine historische Figur, die in ihrer Komplexität nicht einfach zu greifen war. Die bürgerliche Öffentlichkeit stigmatisierte sie als Verrückte oder geistig-moralisch Perverse, als Hohepriesterin terroristischer Gewalt, während sie im Kreise der radikalen Linken als anarchistische Jeanne d’Arc verehrt wurde, die sich auf den Schlachthöfen des Kapitalismus und Despotismus der Entrechteten und Geknechteten im Stile einer Heiligen ohne Rücksicht auf eigene Verluste annahm. Doch selbst unter Anarchisten besaß sie einen kontroversen Ruf, da sie als eine der Ersten das Thema Homosexualität öffentlich ansprach und den Feminismus nicht dem „Klassenkrieg“ unterwerfen wollte.

Vor allem scheute sie sich nicht, für ihre Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen, was zwischen 1893 und 1921 des Öfteren geschah. Mit „ihrer emotionalen Rhetorik, ihrem enormen Mut und ihrem selbstlosen Eintreten für unpopuläre Anliegen“ gehöre Goldman, schrieb der kanadische Literaturkritiker George Woodcock 1962 in seiner Geschichte des klassischen Anarchismus, tatsächlich in einen größeren Rahmen, als jenen, den ihr die anarchistische Bewegung zu geben vermochte. Mit dieser Einschätzung folgte Woodcock letztlich dem Bild, das Goldman von sich selbst in ihrer Autobiografie „Living My Life“ gezeichnet hatte, die erstmals in deutscher Übersetzung 1978 im Karin Kramer Verlag erschien und nun in einer überarbeiteten Fassung aus dem Hause der Edition Nautilus vorliegt.

Als ihre Memoiren (die vom Verlag Alfred A. Knopf als eine Dokumentation der Niederlage beworben wurde) im Jahre 1931 erschienen, war Goldman zunächst deprimiert, weil die Verkaufszahlen nicht zuletzt wegen der Weltwirtschaftskrise gering blieben. Doch auf lange Sicht schuf sie mit diesem Werk die Grundlage für ihr Bild in der Geschichte, das in Grundzügen von ihren Biografen übernommen wurde. Mit ihrer Autobiografie schrieb Goldman das große amerikanische weibliche Epos über die anarchistische Odyssee einer russischen Immigrantin, die in den USA zur „gefährlichsten Frau“ des Landes aufstieg, ehe sie 1919 aus ihrem neuen Heimatland deportiert wurde. Obwohl sie anfänglich begeistert über die revolutionären Umwälzungen war, verlor sie schnell ihre Illusionen angesichts der bolschewistischen Machtpraxis und verließ das „Mutterland des Sozialismus“ 1921, um in den letzten Jahren als „Staatenlose“ durch Europa und Kanada zu wandern.

Bezeichnenderweise beginnt Goldmans Autobiografie mit ihrer Ankunft in New York, nicht mit ihrer Kindheit in Russland oder ihrer Emigration in die USA. In New York gelang es ihr, sich vom engstirnigen russisch-jüdischen Immigrantenmilieu zu emanzipieren und über den Anarchismus hinaus eine universale Utopie zu entwickeln, mit der sie ein breites Publikum in den USA auf ihren ausgedehnten Vortragsreisen quer durch das Land ansprach. Wie Christine Stansell in ihrer originellen Studie der amerikanischen Moderne („American Moderns: Bohemian New York and the Creation of a New Century“, 2010) schrieb, erfand sich Goldman als Anarchistin, Frau, Feministin und Liebhaberin neu. Sie verband die Immigrantenvergangenheit mit der neuen Identität als amerikanische, Englisch sprechende Radikale, welche die eng umzirkelte Welt der Immigranten in ihren sprachlichen und kulturellen „Ghettos“ hinter sich ließ und zu einer „nationalen Figur“ in der Konfrontation zwischen Arbeitern und Kapital, aber auch zwischen Frauen und Männern wurde. Häufig trat ihr ein brutaler Mob entgegen, der von den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen in die Bahnen der Gewalt geführt wurde, was einem xenophoben und antisemitischen Klima in den USA jener Zeit geschuldet war.

Aber auch Goldman war nicht frei von Widersprüchen und Fragwürdigkeiten. Ihr Verhältnis zum Terrorismus, wie er sich im Attentat ihres lebenslangen Gefährten Alexander Berkman auf den Industriemagnaten Henry Clay Frick während des Stahlarbeiterstreiks in Homestead (Pennsylvania) 1892 oder im Anschlag des selbsternannten Anarchisten Leon Czolgosz auf US-Präsident William McKinley 1901 ausdrückte, blieb fragwürdig, und ihrer Position zwischen individualistischen und kollektivistischen oder kommunistischen Richtungen des Anarchismus haftete stets etwas Diffuses oder Unentschlossenes an. Ihr anarchistisches Engagement artikulierte sich eher in der Hingabe an den „Geist der Revolte“ im täglichen Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung, denn in der elaborierten Exploration einer politischen oder philosophischen Theorie des Anarchismus, wie sie Berkman in seinem Buch „What is Communist Anarchism“ (1929) ausführte.

Auch hinsichtlich ihres Feminismus blieb einiges widersprüchlich. Während sie in der Öffentlichkeit als Frauenrechtlerin für die vorbehaltlose Emanzipation der Frau eintrat, schwelgte sie in den Briefen an ihren langjährigen Liebhaber Ben Reitman in der Beschwörung wilder Lust und erging sich in erotischer Rhapsodie. Als Anarchistin propagierte sie einen radikalen Egalitarismus, hatte aber andererseits starke Vorbehalte gegenüber der sich herausbildenden „Massenkultur“ und begriff sich als Teil einer „demokratischen kulturellen Elite“, die einem traditionellen Kulturverständnis verhaftet blieb. Diese Widersprüchlichkeit blendete Goldman in ihren Memoiren verständlicherweise aus. Stattdessen präsentierte sie sich als selbstgewisse Frau, die allenthalben schnell und unerbittlich den Stab über andere aus dem radikalen Milieu brach. Selbstzweifel artikulierte sie nicht, und immer schon wähnte sie auf der richtigen Seite der Geschichte, ohne je zu hinterfragen, warum der Anarchismus – obgleich er nach Goldmans Auffassung alle Antworten nach dem richtigen Leben parat zu haben schien – nie in der historischen Praxis reüssierte. „Sie war sehr hartgesotten und zu sehr fest überzeugt von allem, was sie zu sagen hatte“, kritisierte der Verleger Albert Boni. Einwände von außen kanzelte sie rechthaberisch ab.

Die Komplexität und Widersprüchlichkeit findet in Ilija Trojanows Vorwort keinerlei Erwähnung. Stattdessen führt er Goldman als rebellische Wiedergängerin von Theodore Dreisers Romanfigur Carrie Meeber aus „Sister Carrie“ vor und ignoriert vollkommen den aktuellen Geschichtsbezug von Immigration, Gewalt, Xenophobie und Verzerrung der gesellschaftlichen Wahrnehmung durch eine von Vorurteilen und Herrschaftsinteressen bestimmte Medienrealität. Dass ein Vorwort zu einer historischen Autobiografie mehr als nur einen uninspirierten Vorspann leisten kann, bewies John William Wards Einleitung zur New-York-Review-Ausgabe von Berkmans „Prison Memoirs of an Anarchist“: Darin beleuchtete der Autor nicht allein die Entwicklung Berkmans in seiner Gefängniszeit, nachdem er nach seinem Attentat zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden war, sondern stellte den Gewaltakt in den aktuellen historischen Kontext des „American way of violence“. Leider ist Trojanow an der Aktualität gänzlich desinteressiert, sodass er Goldman nur in einem künstlichen, museal abgeschlossenen Raum ohne jegliche Verbindung zur Gegenwart auftreten lassen kann.

Trotz allem ist diese Neuausgabe – nicht zuletzt wegen ihrer aufwändigen und gelungenen Aufmachung (inklusive Zeittafel und Register) – ein überaus begrüßens- und lobenswertes Unterfangen, das ein beeindruckendes Werk wieder einem größeren Publikum zugänglich macht.

Titelbild

Emma Goldman: Gelebtes Leben. Autobiografie.
Überarbeitet von Tina Petersen. Mit einem Vorwort von Ilija Trojanow.
Übersetzt aus dem Englischen von Marlen Breitinger, Renate Orywa, Sabine Vetter.
Edition Nautilus, Hamburg 2010.
927 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783894017316

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