„Et in Arcadia ego…“

In „Aroma“ präsentiert Durs Grünbein die literarische Ausbeute seines einjährigen Romaufenthalts

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon lange bevor exotische, überseeische Reiseziele in Mode kamen, galt den Deutschen – wenigstens den intellektuell-kunstbeflissenen – „das Land, wo die Zitronen blühn“ als erklärtes Ziel einer, im Sinne Johann Wolfgang Goethes, „grenzenlosen Sehnsucht“. Dieser Sehnsucht folgte mit Durs Grünbein unlängst auch einer der wohl renommiertesten deutschsprachigen Gegenwartslyriker, der sich – zusammen mit seiner Familie – ein Jahr in der Villa Massimo in Rom aufhielt. In seinem als „römisches Zeichenbuch“ untertitelten Band „Aroma“ versammelt er Lyrik und Prosa, die seine ‚a Roma‘ gesammelten Eindrücke vom ‚Aroma‘ der ewigen Stadt einfangen sollen.

Ein „opus incertum“ sei der Band, so gemahnt eine eingangs vis-à-vis einer Winckelmann’schen Darstellung einer römischen Mauer präsentierte Fußnote die Leserschaft, ein Werk, das ebenso den „Eindruck einer unregelmäßigen Oberfläche“ hinterlasse, wie eben jene antiken Bruchsteinmauern. Konkret heißt dies: Das Buch besteht aus vier Teilen. Eröffnet wird es durch einen Zyklus von 53 Gedichten, eines für jede Woche des Romaufenthalts. Auf diese, wie der Klappentext erklärt, „langzeiligen […] in freiem, hexametrisch gewitterndem Versmaß“ verfassten Gedichte folgt eine Grünbein’sche Neuübersetzung der dritten Satire des Juvenal, nebst einer „Bruder Juvenal“ übertitelten Erläuterung. Daran schließen sich neun Prosatexte, als eigentliches „römisches Zeichenbuch“, sowie mit „Tänzerin in Tivoli“ eine Abteilung aus weiteren 23 Gedichten an. Den Abschluss des Bandes bildet das kurze Prosastück „Rom im Traum“.

Mag man als geneigter Leser beziehungsweise als geneigte Leserin zunächst auch noch der Frage nachhängen, was denn eigentlich „hexametrisch gewitternde Verse“ sein mögen, so präsentieren sich die entsprechenden Texte dem metrischen Laien primär als langzeilige Prosagedichte. Auffälliger als die Versform ist bei diesen Gedichten jedoch die Tatsache, dass Grünbein selbst in Momenten höchster lyrischer Begeisterung für seinen Gegenstand eine ungewöhnliche Distanz zwischen sich und der bedichteten Stadt erzeugt, indem das lyrische Ich meist nur als unpersönliches, letztlich auch wenig greifbares ‚lyrisches Man‘ in Erscheinung tritt: „Aufblühen wird man hier, auch als kraut sich gern überlassen / Dem wohligen Phototropismus. Der man im Norden war,/ Dieser Eisblock Identität, Psyches Schneemann ist bald zerronnen.“

Als „Zugereister aus dem Norden“ sieht sich Grünbein durchaus in der Nachfolge des Horaz, der „wie die meisten Dichter“ der „typische absichtslose Flaneur und Eindrückesammler“ gewesen sei. In diesem Sinne flaniert also auch Grünbein durch Rom und schildert seine – mal mehr, mal weniger – schildernswerten Eindrücke: Von römischen Baudenkmälern ist da die Rede, von der Hitze des Sommers und den Parks, aber auch – und dies ist in seiner unspezifischen Trivialität weitaus weniger überzeugend – von der Allgegenwart der Werbung oder auch vom Vogeldreck, den ein Starenschwarm hinterlässt: „Und nachher waren die Autos bekleckert. Pech für den, der dann weiß / Gesprenkelt dastand, vom falschen Schnee überrascht.“

Während die Gedichte der ersten Abteilung somit auch nicht vollends zu überzeugen vermögen, folgt mit Grünbeins Übertragung der dritten Satire Juvenals der wohl bemerkenswerteste Text des Bandes: Die Stadt- beziehungsweise Gesellschaftsschelte des antiken Autors wird in Grünbeins Version zu einem lyrischen Text von wunderbar fließendem Sprachduktus. Dass sich nur rund eine Seite – und noch dazu erst die letzte – der darauf folgenden ‚Erläuterungen‘ auch tatsächlich auf die Satire bezieht, erscheint im Vergleich dazu lediglich als charmante Caprice des Autors. Schlichtweg eine Antiklimax sind dann allerdings die folgenden „Prosabilder“: „Es war sein erster Abend in Rom, und er war allein ausgegangen in dieser Stadt, die ihm ganz unbekannt war und ihm, soweit er zurückdenken konnte, immer eine gehörige Ehrfurcht eingeflößt hatte. Nun saß er beim Nachtmahl und dachte über die Fahrt hierher nach. […] Zum Glück hatte ein Navigationsgerät ihm den Weg gezeigt. Solcher Komfort gehörte jetzt serienmäßig bei vielen Autos dazu. Eine Frauenstimme hatte ihm zuverlässig, wenn auch automatenhaft streng (Typ elektronische Pionierleiterin) über die Tangentiale direkt in sein zukünftiges Viertel gelotst.“

„[R]ömische Erinnerungsorte“ seien es, so der Klappentext diskurssicher, die Grünbein hier in ‚geschriebenen Zeichnungen‘ eingefangen habe, doch was der flanierende Dichter in dieser Abteilung präsentiert, sind Alltäglichkeiten, um nicht zu sagen Banalitäten, aus denen der verunsicherte Leser sicherlich zunächst noch versuchen wird, einen tieferen Sinn herauszulesen – kann es doch kaum sein, dass sich ein Lyriker vom Format Grünbeins ernsthaft über die Stimme seines Navigationsgeräts mockiert, freilich nicht, ohne die Leserschaft zuvor über die gängigen Standards der Ausstattung von Kraftfahrzeugen belehrt zu haben.

Doch auch nach längerem Überlegen wird man zu dem Schluss kommen müssen, dass diese Prosastücke wohl keine verborgenen komplexen Bedeutungspotentiale besitzen. Stattdessen schildert Grünbein bald im Parlandoton, bald mit dozierender Oberlehrerstimme, das, was sich zum großen Teil in jeden Baedeker ebenfalls nachlesen ließe – nicht jedoch, ohne stirnrunzelnd auf jene herabzublicken, die eine vergleichbare Attitüde an den Tag legen: „Der Führer windet sich bei der Frage nach den annonae, den jährlichen Getreidespenden. Eine alte Dame aus der Gruppe der Studiosus-Reisenden hat das Zauberwort aufgebracht. Die Gier der Alten auf alles Antike, er kennt sie, auch ihre fast schon perverse Belesenheit. Die heimliche Verwandtschaft von faltiger Haut und porösen geschichtsträchtigen Steinen.“ Selbst vor noch so abgegriffenen Klischees schreckt der Dichter dabei nicht zurück: „[E]s rührte da in seiner Puppenstubentasse der Friseur, dem die Frauen fremd waren und der doch das weibliche Haar verstand wie nur Mutters Liebster. Zu seinen Gaben gehörte es, daß er jeden Song, den das Radio spielte, augenblicks erkannte und zum Staunen seiner dicklichen Friseurmitarbeiterinnen als Musikologe auseinandernahm.“

Ergeht sich Grünbein in seinen Prosabildern (zu) häufig in Gemeinplätzen, wie man sie wahrscheinlich auch von weitaus weniger fähigen Autoren erwarten könnte, so folgt jedoch mit „Tänzerin in Tivoli“ eine Abteilung von Gedichten, in denen viele der versammelten Texte genau das bieten, was man sich als Leser schon von den vorausgegangenen erhofft haben mag: Eine subjektive und ungewöhnliche Sichtweise, die dem Alltäglich-Banalen immer wieder überraschende Facetten abzugewinnen vermag. So etwa in „Pegasus in Italien“, in dem das geflügelte Pferd der klassischen Mythologie zum heliumgefüllten Pferdeluftballon wird („Erstaunlich: sein dummer Gesichtsausdruck.“), der sich bei einem Windstoß der Hand seines kindlichen Besitzers entwindet: „Es ist der Vater, der heimlich in Tränen zerfließt. / Die Mutter verspricht: Kind, was immer du willst. / Ein Kilo Zuckerwatte? Eiscreme? Pistazien? / Einen gelben Kanarienvogel bitte, mit Käfig. // Das Pony derweil kreist um die Spitze des Doms. / Die Glocken läuten. Der Sommer verendet. / Es wird kleiner und kleiner, schon ist es high. / Niemand weiß, was aus fliegenden Ponys wird.“

„Aroma“ erweist sich somit als Band mit literarischen Stärken, aber durchaus auch mit Schwächen. Dabei macht jedoch allein schon die Übertragung der Satire Juvenals die Lektüre nicht nur für überzeugte Grünbein-Aficionados lohnenswert. Ob der Dichter mit seinem „römischen Zeichenbuch“ allerdings der deutschen Italienliteratur ein bleibendes Kapitel hat hinzufügen können, bleibt fraglich.

Titelbild

Durs Grünbein: Aroma. Ein römisches Zeichenbuch.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
184 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421673

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