Fährten lesen

Horst Gravenkamp wandelt auf Georg Christoph Lichtenbergs Spuren

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Horst Gravenkamp, den der Klappentext als ehemaligen „Leitenden Landesmedizinaldirektor“ mit „langjähriger klinischer“ und „pathologisch-anatomischer“ Erfahrung vorstellt, ist durch Aufsätze und Buchveröffentlichungen hervorgetreten, die naturwissenschaftliche und medizinische Kenntnisse geschickt mit literarischen Interessen verknüpfen: Auch dieser Band – „Beim näherem Hinsehen“ – mit hundert Seiten voller „Beobachtungen zu Georg Christoph Lichtenbergs Sudelbüchern“ zehrt von Gravenkamps ärztlichem Scharfblick und seiner Befähigung, Auffälligkeiten der Textgestalt als Symptome verborgener (oft biografischer) Zusammenhänge zu lesen.

Ein Lichtenberg-Wort – es firmiert als Devise – bringt diese Ambition treffend zum Ausdruck: „‚Daß die Menschen so offt falsche Urtheile fällen rührt gewiß nicht allein aus einem Mangel an Einsicht und Ideen her, sondern hauptsächlich davon, daß sie nicht jeden Punckt im Satz unter das Mikroskop bringen, und bedencken.‘“ Horst Gravenkamp: „Mit dieser Sudelbuchnotiz (F 864) meint Lichtenberg sicher nicht nur das einfache Verlesen. […] Er will uns sagen, daß die Aussage des Satzes ‚unter das Mikroskop‘ gebracht […] bedacht werden muß.“ Gravenkamp spricht ausdrücklich von „Spurensuche“, wenn es zu eruieren gilt, welche unbekannten Personen im akademischen Göttingen oder Deutschland des späten 18. Jahrhunderts mit diesem oder jenem Kürzel angesprochen sein könnten.

Was die Absicht betrifft, „jeden Punckt im Satz“ unter das Mikroskop zu legen, sind einige Schwierigkeiten zu gewärtigen: Die orthografischen Standards des 18. Jahrhunderts sind vergleichsweise lax, und Gravenkamp zeigt wenig Neigung, sie zu erkunden (was detaillierte editionsphilologische Erläuterungen nicht ausschließt). So tut er gut daran, sich auf biografische Lesarten und kulturgeschichtliche Digressionen zu verlegen, nicht so sehr „Punckten“ nachzuforschen als mysteriösen Unbekannten, Personen des wirklichen Lebens, die sich in großer Zahl, doch unter Camouflage, in Texten Lichtenbergs tummeln.

Nicht, dass Gravenkamp sterile theoretische Enthaltsamkeit übte. So werden Sigmund Freuds Lichtenberg-Reminiszenzen ausführlich gewürdigt. Aber im Mittelpunkt stehen „positivistisch“ Tatsachen der Biografie, die gleichwohl nicht spröde-methodisch abgeleitet und aufgelistet, sondern mit indianischer Freude am Fährtenlesen gesammelt, verknüpft und voller berechtigten Stolzes hergezeigt werden. Solche Weisen des Zugriffs können, wie Gravenkamp zeigt, sogar auf Lyrik Paul Celans mit Gewinn angewandt werden, die wenigstens in einem Fall – „Lichtenbergs Zwölf“ – auf diesen Bezug nimmt.

Der Ausdruck „positivistisch“ ist bei Gravenkamp entgegen heutigem Brauch durchaus positiv konnotiert. An den Schluss des Celan-Aufsatzes stellt er ein Lichtenberg-Wort: „Wer nich verständlick spreckt, mot lyden, dat het dann de Leser nicht verstaht, und düdet als he kann.“ Dies ist nicht auf Celans ‚hermetische‘ Dichtkunst gemünzt, sondern auf nicht-positivistische germanistische Theoriesprachen.

Zu den fesselndsten Abschnitten gehören Einlassungen zur „ungeschehenen Geschichte“ der Fotografie im 18. Jahrhundert: Lichtenberg war der Erfindung des Mediums, Jahrzehnte vor Joseph Nièpce und Louis Daguerre, ziemlich nahe gekommen. Nicht viel, doch Entscheidendes, fehlte. Horst Gravenkamp verbindet technikgeschichtliche Erläuterungen mit hellsichtigem Nachdenken über Gesetzmäßigkeiten von Kreativität. Dieses kann sich auf einschlägige Vorarbeiten Lichtenbergs stützen: „Wie viel Ideen schweben nicht zerstreut in meinem Kopf, wovon manches Paar, wenn sie zusammen kämen, die größte Entdeckung bewirken könnte“.

„Bei näherem Hinsehen“ ist das Werk eines literarisch dilettierenden Naturwissenschaftlers: angenehm kurz und ebenso klar, voller Liebe zum Gegenstand und Lust an detektivischer Tatsachen- und Textzergliederung. Ein Werk, das seines Gegenstands, Georg Christoph Lichtenbergs, nach Inhalt und Form würdig ist, und in manchem ähnlich. Darüber hinaus ist es zum Epitaph seines Autors, Horst Gravenkamps, geraten: „Anmerkung des Verlags: Der Autor verstarb im September 2010, kurz vor der Drucklegung dieses Bandes. An der Schlußredaktion war er nicht mehr beteiligt.“

Titelbild

Horst Gravenkamp: Bei näherem Hinsehen. Beobachtungen zu Georg Christoph Lichtenbergs Sudelbüchern.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
119 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783835307766

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