Der bewegte Mann

Ein Sammelband zu Karl Philipp Moritz zeigt einmal mehr, dass der „Anton Reiser“-Autor und Begründer der Autonomieästhetik nur schwer zu fassen ist

Von Thomas StachelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Stachel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Benedikt Erenz nannte vor einigen Jahren in der „ZEIT“ „10 Gründe, Karl Philipp Moritz zu lesen“. Seine Aufzählung stellte den reiselustigen Schriftsteller und Theoretiker in so unterschiedliche Kontexte, dass man den Eindruck bekam, man habe es mit einem Zeitgenossen der verschiedensten Epochen zu tun: Erenz nannte ihn einen Aufklärer, Romantiker, Realisten, Mystiker, Idylliker, Katastrophiker, Entdecker, Pädagogen, Modernen und Klassiker.

Moritz’ Gedankenwelt auf eine griffige Formel zu bringen, ist in der Tat kaum möglich. Vor allem seine sprachphilosophischen Spekulationen sind oft durchzogen von „idiosyncratic guesswork“ und „erratic fantasies“, wie Rüdiger Campe im vorliegenden Band „Karl Philipp Moritz: Signaturen des Denkens“ schreibt: „Any claim of a development of thought and theoretical position is hopelessly complicated and fragile with Moritz.“

Von dem Versuch einer Generalbestimmung sieht der Band dann auch konsequent ab. Stattdessen widmen sich seine Beiträger einzelnen Aspekten und nehmen diese sehr genau unter die Lupe. Für den Laien ist er daher nur bedingt geeignet, denn terminologisch geht es gehörig zur Sache: „Codes“, „emergieren“, „System Psyche“, „functional differentiation“, „social subsystems“, „paratextuelle Deixis“ und „syntagmatische Strukturachsen“ sind nur einige der Begriffe, die es zu verorten und zu verstehen gilt.

Der Band, herausgegeben von dem amerikanischen Germanisten Anthony Krupp, geht zurück auf eine Moritz-Konferenz, die 2006 an der University of Chicago stattfand. Er versammelt siebzehn Aufsätze, von denen sieben in deutscher, die übrigen in englischer Sprache verfasst sind. Die Beitragenden sind Literaturwissenschaftler, die überwiegend in den USA und in Deutschland lehren, doch auch zwei Germanistinnen aus der Schweiz und aus Italien sind darunter. Einige von ihnen sind arrivierte Professoren mit internationalem Renommee, andere gehören zum amerikanischen wissenschaftlichen Nachwuchs.

Die Verschiedenheit der Profile sorgt dafür, dass der Band eine breite literaturwissenschaftliche Leistungsschau bietet, eine Art ‚Expo‘ zeitgenössischer Methoden, Theorien und Begriffe. Das Spektrum reicht dabei von den eher traditionellen biografischen, philologischen und ideengeschichtlichen Herangehensweisen bis zur Anwendung diverser Theorie-Modelle. Auch linguistisches Wissen, vor allem aus der Semiotik und Grammatik, wird verschiedentlich herangezogen. Was Moritz, dem „Genie der Grenzüberschreitung und Entgrenzung“ (Erenz), gefallen hätte: Beiträge, auf die keiner dieser Steckbriefe passt, die gibt es auch.

Trotz der Bandbreite der Perspektiven gibt es gewisse theoretische Ballungsräume. Niklas Luhmanns Systemtheorie ist recht prominent; auch Michel Foucault und Tzvetan Todorov sind wiederholt vertreten. Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass etliche der Autoren institutionell verknüpft sind, als ehemalige Schüler, Betreuer und Kollegen.

Jedem der Aufsätze ist ein kurzes englisches ‚abstract‘ vorangestellt, in welchem die Hauptthesen des jeweiligen Beitrages knapp zusammengefasst werden – eine willkommene Lektürehilfe und eine der vielen erfreulichen Qualitäten des Bandes. Man urteile jedoch selbst, welches Interesse eine These wie die folgende erzeugt. Im letzten Satz eines ,abstracts‘ heißt es: „Even though the immediate cause for these works was his obligation to the publisher, it is astonishing that these books are very characteristic of Moritz.“

Herausragend sind die Beiträge von Christiane Frey, Faye Stewart, Joel B. Lande, Chenxi Tang und Kelly Barry. Sie alle formulieren eine spannende Fragestellung und hangeln sich behende an ihr entlang. In Freys anspruchsvollem Beitrag kristallisiert sich auch eines der Leitmotive von Moritz’ Denken heraus, das ihn in vielen Kontexten zu beschäftigen scheint: die Frage nach dem Verhältnis von Teil und Ganzem, Individuellem und Allgemeinem. Frey widmet sich indes nicht den Äußerungen, in denen Moritz dieses Verhältnis selbst thematisch macht. Stattdessen weist sie es als unausgesprochenes Problem seiner eigenen Dichtung auf: als Spannungsverhältnis zwischen (individueller) psychologischer Fallgeschichte und (allgemeinem) psychologischem Roman.

Faye Stewart zeigt in ihrer sehr genauen Lektüre, wie im „Anton Reiser“ ein homoerotisches Begehren zum Ausdruck kommt. Stewart zufolge manifestiert sich diese „queer attraction“ jedoch nicht in positiven Gehalten, sondern vor allem in Figuren der Abwesenheit, der Aufhebung und des Mangels: im Tod, im Schweben und im Schweigen.

Joel B. Lande führt vor, dass Moritz den Bedeutungsmodus der Allegorie zurückweist, weil er die Erfahrung der Einheit auseinanderreißt. Es sei aus diesem Grund, dass er die griechische Götterwelt vor allegorischen Auslegungen in Schutz zu nehmen suche.

Chenxi Tang demonstriert zunächst, wie Moritz’ Ästhetik aus freimauerischen Prinzipien hervorgeht. In einem zweiten Schritt zeigt er dann, welche geschichtsphilosophischen Konsequenzen ein Kunstprogramm mit sich bringt, dessen Gewährsmann Baruch de Spinoza heißt.

Auch Kelly Barry, wie schon Christiane Frey, widmet sich der Beziehung von Erzählmodus und Wissensform. Ihr Interesse gilt jedoch nicht dem Verhältnis von Fallgeschichte und Roman, sondern dem von öffentlicher Predigt und privatem Sprechen. Was sie über den Status des ‚Ego‘ in den verschiedenen Redesituationen im „Andreas Hartknopf“ sagt, hat eine solche Reichweite, dass aus dem Aufsatz ein noch viel größeres Projekt hervorschimmert: Individualität und Anti-Individualität von Moritz bis Paul Celan.

Abschließend verdient Erwähnung, dass der Band zum ersten Mal alle Lehr- und Erziehungsbücher berücksichtigt, die Moritz für ein Kinderpublikum geschrieben hat. Es handelt sich dabei um Texte, die so selten aus dem Regal gezogen werden, dass sogar viele Germanisten sie kaum kennen. Selbst für Leser, die viel im 18. Jahrhundert unterwegs sind, gibt es hier also einiges zu entdecken.

Titelbild

Anthony Krupp (Hg.): Karl Philipp Moritz. Signaturen des Denkens.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2011.
314 Seiten, 63,00 EUR.
ISBN-13: 9789042032200

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