Nietzsches Gedankenwelt subtil erschlossen

Ursula Homann über Rüdiger Safranskis "Biographie seines Denkens"

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Ungeheure", das sich dem jungen Nietzsche zuerst aufdrängte, schreibt Rüdiger Safranski in seinem gleich nach Erscheinen vielfach gepriesenen Nietzsche-Buch sei das eigene Leben gewesen. Während seiner Schul- und Studienzeit zwischen 1858 und 1868 verfasste Nietzsche neun autobiographische Skizzen. Da er sein Leben als exemplarisch empfand, verband er häufig das Schreiben über sich selbst mit dem Gestus der Verkündigung. So sei ihm die eigene Person zum Schauplatz einer inneren Weltgeschichte geworden. Wer sie erforscht, wird mit ihm, so Safranski, zum "Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die 'Mensch' heisst". Doch habe sich der Philosoph nicht darauf beschränkt, Gedanken zu entwickeln, sondern zeigte auch, wie diese aus dem Leben entspringen und ins Leben zurückschlagen und ihn verändern. In seinen besten Augenblicken gelang ihm eine spielerische Leichtigkeit der Sprache und der Gedanken - eine Beschwingtheit, die auch unter Leiden und schwerer Gedankenfracht zu tanzen verstand.

Schon früh kreiste Nietzsches Denken um die Frage, wie sich das Weltbild verändern würde, wenn es keinen Gott, keine Unsterblichkeit, keinen Heiligen Geist und keine göttliche Inspiration mehr gäbe, wenn der Glaube von Jahrtausenden auf Einbildungen beruhte und wenn die Menschen über lange Zeit hindurch von einem Trugbild irre geleitet worden wären.

Safranski teilt die Entwicklung von Nietzsches Denken in drei Phasen ein. Die Erste sieht er gekennzeichnet durch seine Begegnung mit Richard Wagner und durch das Entstehen seines ersten Buches "Die Geburt der Tragödie". In dieser Zeit hatte Nietzsche in der Kultur das Zusammenspiel zweier polarer Grundmächte, des Dionysischen und des Apollinischen, entdeckt. Diese betrachtete er als metaphysische Lebensmächte und glaubte, mit ihrer Hilfe das Geheimnis der Kulturen, ihre Geschichte und Zukunft verstehen zu können. Angesichts der Tragik des von Leid, Tod und Grausamkeiten beherrschten Lebens behauptet er, dass das Dasein und die Welt nur als ästhetische Phänomene gerechtfertigt seien. Nietzsche spürt den Schleichwegen des Lebenswillens nach und erkennt, wie kulturell erfinderisch dieser ist. Um seine Geschöpfe im Leben festzuhalten, hüllt er sie in einen Wahn, in Illusionen. Die einen läßt er den Schönheitsschleier der Kunst wählen, die anderen in Religionen und Philosophien den metaphysischen Trost suchen. Das Leben bedarf einer schützenden Atmosphäre aus Nichtwissen, Illusion und Träumen, in die es sich einspinnt, um existieren zu können. Vor allem aber braucht es Musik, zum Beispiel die Musik Richard Wagners. Nietzsche selbst erhoffte sich von ihr die dionysische Wiedervereinigung in den Tiefenschichten des Gefühls. Aber Bayreuth erwies sich für den jungen Philosophen als herbe Enttäuschung. Nichts änderte sich. Die Zuschauer, auf die er gewartet hatte, blieben aus. Stattdessen machte sich bildungsbürgerliche Gesinnung breit, die das Ungeheure ins Behaglichkeit umdeutete und keineswegs die Wiederkehr des tragischen Weltgefühls einläutete, wie Nietzsche es sich gewünscht hatte.

Nach der Abkehr von Wagner - und damit beginnt die zweite Phase - hält er Ausschau nach einer Optik des Lebens, die jede Trostbedürftigkeit überwindet und beginnt um 1876 mit dem Buch "Menschliches, Allzumenschliches". Jetzt verzichtet Nietzsche darauf, sich in einen ästhetischen Mythos hineinzuträumen, und geht mit dem bewussten Festhalten an durchschauten Illusionen scharf ins Gericht. Er verteidigt den Willen zum Wissen gegen absichtsvolle Selbstverzauberung, Remythisierung und religiöses Pathos. Er erprobt, schreibt Safranski, eine Zeitlang "den kalten Blick", der die trügerische Oberfläche der Dinge durchdringt und ihre verborgenen Gründe freilegt. Religion und Moral werden auf ihre triebhaften Motive hin durchleuchtet. Das Schreckliche erkennen und diese Erkenntnis aushalten, heißt nun die Devise. Diese verschreibt sich Nietzsche als Medizin gegen ein tragödiensüchtiges Bewusstsein. Später kommt er zu der Einsicht: Es gibt nur Interpretationen, aber keinen Urtext. Mit dem forcierten Willen zur Nüchternheit und zum Unglauben verordnet er sich eine Ernüchterungskur und macht doch gleichzeitig einen Kompromissvorschlag, indem er für eine Art Zweikammersystem der Kultur plädiert, eine Hirnkammer für die Wissenschaft und eine andere für die Nichtwissenschaft, sozusagen als Hilfsmittel gegen die doppelte Gefahr des entfesselten Vitalismus einerseits und der nihilistischen Erstarrung andererseits. "Mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt wer den", heißt es bei Nietzsche. Die Idee des Zweikammersystems blitzt in seinem Werk immer wieder auf und verschwindet dann - zum Nachteil seiner Philosophie. Hätte er an der Idee festgehalten, vermutet Safranski, dann hätte er sich vielleicht einige Tollheiten seiner Visionen der großen Politik und des gattungspolitischen Willens zur Macht erspart.

In der nächsten Phase entwickelt der Philosoph seine Wiederkunftslehre mit der Aufforderung, man solle sein Schicksal lieben - amor fati - und jeden Augenblick so leben, dass er einem ohne Schrecken wiederkehren könnte. In diese Schaffensperiode gehören neben dem "Zarathustra " auch "Morgenröthe" und "Die Fröhliche Wissenshaft". Die erste Lehre, die Nietzsche seinen Zarathustra verkünden lässt, ist die Lehre vom Übermenschen. Dieser repräsentiert zwar einen höheren biologischen Typus, ist aber zugleich auch ein Ideal für jeden, der Macht über sich selbst gewinnen will. Immer wieder fordert Nietzsche, "aus sich eine ganze Person" zu machen, Regisseur seiner Lebensimpulse zu werden. Der ominöse Wille zur Macht ist bei ihm auf einen Kammerton gestimmt. In der letzten Phase seines Schaffens sucht Nietzsche nach einer Antwort auf den Tod Gottes und schmiedet Pläne für eine "Partei des Lebens". Man solle auf die große Vernunft des Leibes hören, mahnt er, denn das Leben will gelebt, nicht nur bedacht sein. Die letzten Werke entstehen nun in schneller Folge: "Der Fall Wagner", "Götzendämmerung", "Der Antichrist" und "Ecce homo", als ahnte der Philosoph das nahende Ende voraus.

Safranski unternimmt schließlich noch einen Streifzug durch die Nietzsche-Rezeption von den Anfängen bis zu Foucault und zieht eine Bilanz seines Wirkens. So knapp wie dieser bleiben die Ausführungen zu Nietzsches Leben. Freundschaften, Begegnungen mit anderen Menschen, historische Fakten werden nur erwähnt, wo es unbedingt geboten schien. Viele Trivialitäten und Details, mit denen andere Autor ihre Nietzsche-Biographien füllen, blieben auf diese Weise ausgespart. Um so intensiver lässt uns der Autor an Nietzsches Denken teilhaben - und das ist aufregend und abenteuerlich genug und mitunter auch irritierend. Mit viel Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen hat Safranski die Gedanken Nietzsches nach-gedacht, im Sinne des Wortes von 'nachgehen' und 'nochmals denken'. Manchmal allerdings fragt man sich: Wo hört Nietzsches Philosophie auf, wo fangen Safranskis Interpretation und sein eigenes Denken an? Vor allem aber vermittelt Safranski in dem facettenreichen und glänzend geschriebenen Buch die Einsicht, dass man mit diesem Philosophen, der von sich einst behauptet hat, er sei Dynamit und philosophiere mit dem Hammer, nie fertig werden kann.

Schönheitsfehler des Buches seien nicht verschwiegen. Befremdlich wirkt zum Beispiel die These, dass die Musik das Zentrum von Nietzsches Philosophie gewesen sein soll und Nietzsche eine durch seine christliche Erziehung bedingte Demutsstarre sein Leben lang beibehalten habe, so dass er sich zur Lebensbejahung selbst überreden musste. Wichtige Themen werden nur kurz gestreift: Etwa Nietzsches Beziehung zum Judentum und seine mögliche Vorläuferschaft zum Dritten Reich. Auch seine Attacken auf das Christentum und seine Auseinandersetzung mit der christlichen Religion hätte man sich etwas ausführlicher gewünscht. Dennoch ist Safranskis Nietzsche-Buch von den vielen Büchern, die zum hundertsten Todestag des Philosophen bisher erschienen sind, zweifellos eines der besten und erstaunlichsten.


Titelbild

Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens. Zur Rez. An Frau Homann am 4.9.2000.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
416 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3446199381

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