Wenn Physiker träumen

Der deutsche Astronom Johannes Kepler zeigt sich in „Der Traum, oder Mond-Astronomie“ als früher Science-Fiction-Autor

Von Anett KollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anett Kollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Weltraum – unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 1609. Johannes Kepler veröffentlicht die ersten zwei seiner Planetengesetze und verfasst eine Wissenschaftsfiktion unter dem Titel „somnium“, der Traum. Viele Jahrzehnte vor der Durchsetzung des heliozentrischen Weltbilds dringt er dabei in Welten vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Noch bleibt der Mondflug eine Fiktion, aber „gib mir Schiffe oder richtige Segel für die Himmelsluftfahrt her“, schreibt er an Galileo Galilei, „und es werden auch Menschen da sein, die sich vor den entsetzlichen Weiten nicht fürchten“.

Kepler lebt zu dieser Zeit in Prag. Seit 1601 bekleidet er als Nachfolger von Tycho Brahe am Hof Rudolphs II. das Amt des kaiserlichen Mathematikers. Er hat von Brahe eine umfangreiche Sammlung von Sterndaten geerbt, die er nicht nur in den „Rudolphinischen Tafeln“ verarbeitet, einem Regelwerk zur Vorhersage von Planetenstellungen, sondern auch nutzt, um mathematisch zu beweisen, dass die Sonne der Mittelpunkt des Universums ist. Wenige Jahrzehnte zuvor, 1543, hatte Nikolaus Kopernikus als einer der ersten die geozentrische Denkweise angezweifelt. Es brauchte danach ein knappes Jahrhundert und einen grundlegenden Wandel im wissenschaftlichen Diskurs, bis sich das kopernikanische Weltbild durchsetzen konnte. Noch in Keplers Generation gilt für den Wissenschaftler, wie er selbst in „somnium“ schreibt, „dass es für jenen nicht sicher ist, solange Mutter Unwissenheit unter den Menschen lebt, die verborgensten Gründe der Dinge öffentlich zu verkünden“. Er verweilt deshalb lieber „auf den grünen Auen der Philosophie“ und lässt den „Teer der Politik“ hinter sich.

Als Kepler den „Traum“ verfasst, hat er das Ziel, seine Erkenntnisse darzustellen und „am Beispiel des Mondes einen Beweis zu führen für die Bewegung der Erde“. Die Materie ist nicht nur heikel, sondern auch schwer vorstellbar. Kepler bedient sich deshalb einer fiktiven Geschichte, die ihn durch die Verschachtelung der Erzählinstanzen nicht nur narrativ absichert, sondern in der Art einer Reisebeschreibung auch die astrophysikalischen Phänomene anschaulich werden lässt. „Verjagt man uns von der Erde“, schreibt er scherzhaft an seinen Freund Matthias Bernegger, „so wird mein Buch als Führer den Auswanderern und Pilgern zum Monde nützlich sein“.

Der Autor tritt selbst auf in dieser Erzählung, als Schlafender, der träumt, ein Buch zu lesen. In diesem Buch schildert der junge Astronom Duracotus, wie er durch den Zauber seiner kräuterkundigen Mutter die Bekanntschaft eines Dämons macht, der ihm eine Mondreise beschreibt. Das Geisterwesen erzählt die physikalischen Umstände der Reise, realistisch bis ins Detail: die Schwerkraft, die der Reisende „als wenn er von Sprengpulver hochgeschossen“ überwinden muss, die Schwerelosigkeit, die nach dem Verlassen der Erdatmosphäre eintritt, die „ungeheure Kälte und Atemnot“ im All. Mit Hilfe der Dämonen kommt der Reisende jedoch bis auf ein wenig „Schlappheit der Glieder“ gut an seinem Ziel an.

Wie in einem geografischen Handbuch schildert der Dämon anschließend die Verhältnisse auf „Levania“, wie Kepler den Mond „dem Ohr fremder“ nach dem hebräischen Wort nennt. Es gibt Leben auf dem Mond, eine lunare Zivilisation, die die Erde nach ihrer Erscheinung – nämlich ihrem ständigen Kreisen um den Mond – Volva (lateinisch: umwälzen) nennt und sich selbst in Subvolven unterteilt, in diejenigen die die Erde sehen, und in Privolven, „die, welche des Anblicks der Volva beraubt sind“ (lateinisch: privare, berauben). Indem Kepler die Mondbewohner glauben lässt, ihre Heimat sei das Zentralgestirn, widerlegt er auf fantasievolle, sinnfällige Weise die geozentrische Erfahrungswelt des Lesers. Bildhaft beschreibt er das Leben auf dem Mond, jedoch immer ausgehend von den physikalischen Prämissen, so dass seine Schilderungen im Rahmen einer Naturfiktion bleiben und keine Gesellschaftsutopie bieten. Sein Bericht gründet sich – ganz im Sinn und Stil des erst viel später entstehenden Genre der Science-Fiction – auf logische Argumente und rationale Beobachtungen, wenn die Beschreibung zuweilen auch fast poetisch anmutet, beispielsweise beim Blick vom Mond auf die Kontinente Afrika und Europa: „Die Gestalt ist schwer zu erklären. Doch erkennt man im östlichen Teil etwas wie das Profil eines Menschen, in Höhe der Achseln abgeschnitten, der sich ein Mädchen zum Küssen heranzieht, das in ein langes Gewand gehüllt ist und mit nach hinten ausgestreckter Hand eine heranspringende Katze reizt.“

Seit dem Jahr 1609, als Kepler seinen „Traum“ verfasste, hat er das Geschriebene über vierzig Jahre immer wieder ergänzt. Mit der Erzählung ist so ein 223 Fußnoten umfassender, fast dreimal so langer Anmerkungsapparat verbunden, in dem der Autor den Text kommentiert, korrigiert und mit wissenschaftlichen Daten und Theorien untermauert. Das Vermächtnis eines Forscherlebens und die Essenz einer Persönlichkeit sammeln sich so in diesem Buch. Es erschien erst nach Keplers Tod, als Buch für die gelehrte Welt in lateinischer Sprache.

Auf deutsch war „Keplers Traum vom Mond“ nur in der unvollständigen Veröffentlichung Ludwig Günthers von 1889 zu lesen. Mit der aktuellen Publikation ist „somnium“, übersetzt von Hans Bungarten, erstmals in einer vollständigen, textkritischen Ausgabe zugänglich. Die Herausgeberin Beatrix Langner hat Keplers „Mond-Astronomie“ mit einem umfangreichen Nachwort versehen. Ihr kluger Essay, der in dieser Form die Notwendigkeit aktueller Fußnoten zum Kepler’schen Fußnotenkonvolut elegant umgeht, rekonstruiert die Geschichte menschlicher Mondfantasien. Er ist weniger eine historische Abhandlung als eine ideengeschichtliche Recherche, die dem Weg des Menschen auf der Suche nach seinem irdischen Platz in der Hierarchie des Kosmos folgt und die philosophische Dimension naturwissenschaftlicher Erkenntnis auslotet.

Langner durchstreift die wissenschaftlichen Diskurse, naturphilosophischen Denkmodelle und literarischen Imaginationen von der Antike bis zur Gegenwart und skizziert dabei die Bruchstellen der natürlichen Harmonie des Menschen mit dem Universum. Ihre sensible Chronologie der Welterkenntnis endet mit einem Plädoyer: „Hoffen wir, dass die epistemologische Trennung der Naturwissenschaften von den Künsten, der Phantasie vom Kalkül vorübergehende Zivilisationskrankheiten sind, die aus unserer dualistischen Natur resultieren. Was an uns Natur ist, verpflichtet uns zum Schutz dieser Natur vor der Hybris der eigenen Vernunft. Jedem Rausch der Erkenntnis folgt früher oder später die Ernüchterung. Unser Planet keucht unter der Last unserer Erfindungen und Entdeckungen, ein todkranker Patient, verstrahlt von jener Vernunft-Sonne, die erst Männer wie Pythagoras, Kopernikus, Galilei oder Kepler in die Mitte des Universums gestellt haben.“

Als die Kopernikaner den Menschen aus dem Zentrum des Universums rückten und damit sein Selbstbewusstsein aus dem Gleichgewicht brachten, waren Physiker noch Philosophen. Keplers „Mond-Astronomie“ steht dennoch nicht nur für die Entdeckung der Schattenseiten des Mondes, sondern auch für den Beginn der Schattenseiten der Erkenntnis.

Titelbild

Beatrix Langner (Hg.): Der Traum, oder: Mond Astronomie: Somnium sive astronomia lunaris. Mit einem Leitfaden für Mondreisende.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
272 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783882216264

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