Kaum gelesenes Brautgeschenk

Barbara Zehnpfennigs Auseinandersetzung mit Hitlers "Mein Kampf"

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Scheitern des Putschversuchs vom 9. November 1923 war Adolf Hitler Anfang April 1924 wegen Hochverrats zu fünf Jahren Festungshaft in Landsberg am Lech verurteilt worden, von denen er jedoch nur neun Monate einsaß. Die komfortablen Lebensbedingungen, die er während dieser Zeit genoss, erlaubten es ihm, eine Darstellung seines politischen Werdeganges niederzuschreiben. Der erste Teil des Buches entstand unter Mitwirkung seiner Mithäftlinge Rudolf Heß und Emil Maurice, denen Hitler weite Passagen des Manuskripts in die Schreibmaschine diktierte. Er trägt in der endgültigen Fassung den Titel "Mein Kampf. Eine Abrechnung". Der zweite Teil, versehen mit dem Untertitel "Die nationalsozialistische Bewegung", entstand erst nach Hitlers Haftentlassung auf dem Obersalzberg.

Dass "Mein Kampf" zum Mythos geworden ist, dürfte vorrangig auf der Omnipräsenz des Buches im politischen, kulturellen und familiären Leben des Nationalsozialismus beruhen. Hatte es schon in den Jahren vor 1933 zahlreiche Auflagen erlebt, so avancierte es nach Hiters Machtergreifung geradezu zum Bestseller, der in unterschiedlichen Ausstattungen (Vorzugs-, Volks- oder Taschenbuchausgabe) und zu allen nur denkbaren Anlässen unter das Volk gebracht wurde. Bis 1939 erreichte "Mein Kampf" eine Auflage von 5,5 Millionen Exemplaren, 1943 waren in Deutschland etwa 10 Millionen Exemplare verbreitet. Seit 1936 erhielt jedes Brautpaar vom Standesbeamten seine persönliche Ausgabe. Gelesen wurde das Buch jedoch kaum.

Dass wissenschaftliche Untersuchungen zu "Mein Kampf" bis heute selten geblieben sind, hat vor allem zwei Gründe. Zum einen zöge die Frage nach dem geistesgeschichtlichen Fundament des Buches unweigerlich dessen Aufwertung nach sich, zum anderen setzte man sich mit dem Versuch, Hitlers Gedankengänge nachzuvollziehen, dem Verdacht aus, sein Apologet zu sein. Barbara Zehnpfennig ist dennoch das Wagnis einer intellektuellen Auseinandersetzung eingegangen. War man bislang der Überzeugung, man habe es bei "Mein Kampf" mit einem thematisch disparaten, in sich widersprüchlichen, gedanklich verworrenen und stilistisch schwachen Elaborat zu tun, so glaubt sie in ihm ein monistisch begründetes und mit Folgerichtigkeit abgeleitetes Gedankengebäude erkennen zu können, das Hitlers innen- wie außenpolitisches Handeln motiviert. Zehnpfennig versteht ihre Studie als analytischen Kommentar. Sie orientiert sich daher weitgehend an der vom Verfasser vorgegebenen Gliederung des Buches, indem sie zunächst den Weg Hitlers und dann den der Partei nachzeichnet. Dies bestärkt nachhaltig den Eindruck, es handle sich bei "Mein Kampf" um eine homogene Programmschrift. So überzeugend auf der einen Seite Hitlers Verhältnis zu Schopenhauer und Nietzsche reflektiert wird, so sehr vermißt man auf der anderen eine kritische Auseinandersetzung etwa mit Hitlers Kunstverständnis, das in "Mein Kampf" doch weitaus häufiger aufscheint, als man zunächst vermuten mag. Merkwürdig schmal erscheint auch das Quellenmaterial, auf dem die Studie fußt und das ausnahmslos auf Gedrucktes beschränkt bleibt. Der Versuch, in den Archiven bislang unveröffentlichtes Material zu ermitteln, wurde offensichtlich nicht unternommen. Gewünscht hätte man sich auch einen Vergleich der verschiedenen Auflagen des Buches sowie Anmerkungen zu seiner Verbreitung oder Rezeption. Barbara Zehnpfennigs legt keine von Grund auf neuen Erkenntnisse über Hitlers "Mein Kampf" vor. Ihre Studie ist nicht zuletzt deshalb lesenswert, weil sie sich diametral gegen eine weithin akzeptierte Forschungsauffassung stellt.

Titelbild

Barbara Zehnpfennig: Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation.
Wilhelm Fink Verlag, München 2000.
350 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3770535332

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch