Vom Wohnen in der Möglichkeit

Richard Powers’ Debüt „Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz“ erscheint nach 26 Jahren endlich in deutscher Übersetzung

Von Holger WackerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Wacker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Arbeit des Fotografen August Sander, datiert auf 1914, abgebildet auf dem Schutzumschlag des Romans, zeigt drei fein angezogene „Jungbauern im Sonntagsstaat, Westerwald“. Sie ist Bestandteil einer Fotoserie Sanders, „Menschen des 20. Jahrhunderts“, die aus 619 Tafeln besteht.

Im ersten Kapitel sieht der Ich-Erzähler aus Boston das Foto im Detroit Institute of Arts, während er auf seinen Anschlusszug wartet. Er spürt eine seltsame Nähe zum Foto und macht es sich zur Aufgabe, möglichst viel über das Bild, den Fotografen und die drei Männer herauszufinden.

Das zweite Kapitel, auktorial erzählt, greift das Fotomotiv Sanders auf und beginnt wie eine erweiterte, interpretierende Bildbeschreibung. Dann erfolgt ein Wechsel in die Stadt Limburg am Vorabend des Ersten Weltkrieges, zum Ausgangspunkt einer fiktiven Geschichte über die drei Männer. Zwei von ihnen waren als Soldaten im Krieg, der dritte wurde durch einen Identitätstausch zum Kriegsreporter.

Das dritte Kapitel, dessen Perspektive ebenfalls auktorial ist, beginnt mit Peter May, der am 29.10.1984 in der Redaktion der Micro Monthly News in Boston sitzt und aus seinem Fenster der Parade am Veterans Day zuschaut. Er sieht eine rothaarige Klarinettistin, die seine Aufmerksamkeit fesselt. Fortan versucht er die Identität der Frau festzustellen. Auf dieser Suche erfährt er viel über sich selbst.

Powers bewegt sich in seinem Roman in drei erzählerischen Paralleluniversen, die er in den 27 Kapiteln im strengen Dreierrhythmus alternierend aufsucht. Dabei stellt er zu Beginn wenige kleine Gemeinsamkeiten her (wie die Verwendung der Namen Petje und Schreck), die sich im Fortgang der Erzählung mehren. Auf diese Weise webt Powers eine Struktur, die sich sukzessive verdichtet und zum Ende des Buches transparent offenbart.

Der Ich-Erzähler durchsetzt seine Gedanken mit einer Reihe von Essays zu „großen Persönlichkeiten aus der Ära des Ersten Weltkrieges“ und zu gesellschaftlichen Themen. Einige der Kapitel handeln von historischen Persönlichkeiten wie Henry Ford, Sarah Bernhardt und Gabriele D’Annunzio, den Wirkungen dieser Personen auf die Hauptfiguren des Romans und ihrer Beziehung zum Foto Sanders. Die geschätzte Sarah Bernhardt wird im ersten der drei erzählerischen Paralleluniversen biografisch und reflektierend erfasst, im zweiten hat sie den Wunsch, vor Soldaten aufzutreten, im dritten wird die Qualität der Darstellung ihrer Person durch die Schauspielerin Kimberley Greene am Theater in Boston diskutiert.

In einem umfangreicheren Essay macht der Ich-Erzähler sich Gedanken über Foto und Film, Illusionen, darüber, was wir sehen und was wir suchen, wenn wir Bilder betrachten. Diese Gedanken setzt er in Beziehung zu Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“.

Richard Powers hat mit „Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz“ einen Ideenroman vorgelegt, in dem er die Grenze zwischen Sachtext und Belletristik zerfließen lässt. Er entwirft keine Charaktere, die sich als Identifikationsfiguren eignen oder uns im traditionellen Sinn durch eine Handlung begleiten oder führen.

Die Erzählung gibt sich in Momenten autobiografisch. Man sollte jedoch vorsichtig sein in dem Bemühen, dahinter Powers zu finden, auch wenn der Schriftsteller Elemente seiner Biografie einfließen lässt, so seinen Universitätsabschluss, die vorübergehende Arbeitslosigkeit und den Weg nach Boston über Detroit. Der Roman ist, indem Powers ihn geschrieben hat, Teil der Biografie seines Autors, wie es einmal im Text heißt.

Powers fragt, wie Menschen und ihre Biografien zusammenhängen. Ob jedes Ereignis, über wie viele Umwege auch immer, Verbindungen zu allen anderen oder bestimmten anderen Ereignissen aufweist. Welche Rolle Vergessen und Erinnern, Realität und Abbild dabei spielen. Ein weiteres Thema ist die Mehrgesichtigkeit des technologischen Fortschritts, was zu den Dauerfragen im Werk von Powers zählt. Hier interessiert ihn besonders der Fortschritt, der Kunst für die Massen hervorgebracht hat, wie Film und Fotografie, aber auch Technologien für die Massenvernichtung, ausdrücklich für den Ersten Weltkrieg. Worin besteht die Natur solcher Technologien? Machen Menschen sich angemessen Gedanken über die Folgen der Entwicklung und des Einsatzes von Technologien?

Richard Powers’ Roman erweckt im Titel den Eindruck, drei Bauern würden zum Tanz gehen. Aber sie gehen nicht, noch tanzen sie. Leser, die von einem Roman erwarten, dass er ihnen zeigt, ob er in der Lage ist, sie zu unterhalten, dürften von Powers’ Buch enttäuscht sein, den anderen ermöglicht er, ihn auf eine der faszinierendsten gedanklichen Reisen zu begleiten, die uns seit langer Zeit ein Roman anbietet – ein Roman, der im Original vor 26 Jahren erschienen ist.

Titelbild

Richard Powers: Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
463 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783100590268

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